Urteilskopf

100 V 162

40. Auszug aus dem Urteil vom 29. August 1974 i.S. Reinolter gegen Schweizerische Ausgleichskasse und Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland wohnenden Personen
Regeste (de):

Regeste (fr):

Regesto (it):


Erwägungen ab Seite 162

BGE 100 V 162 S. 162

Aus den Erwägungen:

2. Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführerin zu Unrecht eine Witwenrente ausgerichtet worden ist. Zu beurteilen ist einzig, ob und gegebenenfalls in welchem Umfange sie hierfür rückerstattungspflichtig sei. Mit der Verfügung vom 24. Mai 1972 erhob die Ausgleichskasse eine Rückforderung im Betrage von Fr. 15 314.-- entsprechend den in der Zeit von März 1967 bis Februar 1972 erfolgten Rentenzahlungen. Da der Rückforderungsanspruch nach Art. 47 Abs. 2
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 47
AHVG spätestens mit Ablauf von 5 Jah ren seit der einzelnen Rentenzahlung verjährt, hätten die Rentenbetreffnisse der Monate März bis Mai 1967 nicht zurückgefordert werden dürfen. Obgleich die Ausgleichskasse einen
BGE 100 V 162 S. 163

entsprechenden Antrag auf teilweise Gutheissung der Beschwerde gestellt hatte, blieb dieser Punkt im vorinstanzlichen Entscheid unberücksichtigt. Insoweit ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde daher gutzuheissen.
3. Für die Rückforderung der ab Juni 1967 bezogenen Renten ist entscheidend, ob die Ausgleichskasse berechtigt war, den Beginn der einjährigen Frist auf den Zeitpunkt zu beziehen, in welchem sie sich ihres Irrtums bewusst wurde, obgleich der massgebende Sachverhalt unbestrittenermassen bereits anlässlich der Rentenverfügung aktenkundig war. Art. 47 Abs. 2
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 47
AHVG bestimmt, dass der Rückforderungsanspruch (im Rahmen der absoluten fünfjährigen Frist) verjährt "mit dem Ablauf eines Jahres, nachdem die Ausgleichskasse davon Kenntnis erhalten hat". Wie das Eidg. Versicherungsgericht in EVGE 1954 S. 26ff. ausgeführt hat, ist unter dem gesetzlichen Ausdruck "Kenntnis erhalten" das "Sichbewusstwerden" des Irrtums zu verstehen. Die einjährige (relative) Verjährungsfrist beginnt demnach im Zeitpunkt zu laufen, in welchem sich die Verwaltung von der irrtümlichen Leistung Rechenschaft gibt, und nicht schon dann, wenn sie objektiv davon hätte Kenntnis haben können bzw. hätte Kenntnis haben müssen. Andernfalls würde es der Verwaltung - insbesondere im Falle von Rechnungsfehlern, bei welchen das "Kenntnis haben müssen" regelmässig zu bejahen wäre - praktisch verunmöglicht, unrechtmässig bezogene Leistungen nach Ablauf eines Jahres seit Verfügungserlass zurückzufordern.
4. ... Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Fehlerhaftigkeit der seinerzeitigen Rentenverfügung beruhe ausschliesslich auf grober Fahrlässigkeit der Ausgleichskasse; eine Gutheissung des Rückforderungsanspruchs käme daher einem nicht zu rechtfertigenden Verstoss gegen Treu und Glauben gleich. Es besteht kein Zweifel, dass die Beschwerdeführerin die zu Unrecht ausgerichteten Rentenleistungen in gutem Glauben auf die Richtigkeit der Verfügung bezogen und zur Bestreitung des Lebensunterhaltes verwendet hat. Ebenso eindeutig ist, dass die unzutreffende Verfügung vom 17. März 1967 ausschliesslich auf ein Versehen der Ausgleichskasse zurückzuführen ist. Ob sich die Beschwerdeführerin unter diesen Umständen auf die von der Praxis entwickelten Grundsätze
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über den Vertrauensschutz berufen kann, muss indessen unter Berücksichtigung der besondern Bestimmungen des AHVG beurteilt werden. Mit der Vorschrift von Art. 47
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 47
AHVG und den zugehörigen Verordnungsbestimmungen (Art. 78 ff
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 47
. AHVV) hat der Gesetzgeber die rechtlichen Folgen einer unrechtmässigen Ausrichtung von Versicherungsleistungen ausdrücklich geregelt. Insbesondere hat er auch die Möglichkeit eines Erlasses der Rückerstattungspflicht vorgesehen und damit dem Umstand Rechnung getragen, dass der Versicherte die Leistungen gutgläubig bezogen haben kann. Darüber hinaus wurde dem Prinzip der Rechtmässigkeit des Verwaltungshandelns der Vorrang gegeben gegenüber dem Schutz des guten Glaubens desjenigen, der unrechtmässig Versicherungsleistungen bezogen hat. Insofern tritt das Vertrauensprinzip als allgemeiner Rechtsgrundsatz gegenüber der unmittelbar und zwingend aus dem Gesetz sich ergebenden Sonderregelung zurück. Es besteht somit grundsätzlich kein Raum zu einer über den in Art. 47
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 47
AHVG umschriebenen Schutz des guten Glaubens hinausgehenden Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben...
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 100 V 162
Datum : 29. August 1974
Publiziert : 31. Dezember 1975
Quelle : Bundesgericht
Status : 100 V 162
Sachgebiet : BGE - Sozialversicherungsrecht (bis 2006: EVG)
Gegenstand : Rückforderung einer irrtümlich ausgerichteten Rente (Art. 47 Abs. 1 AHVG). Der Grundsatz des Vertrauensschutzes tritt gegenüber


Gesetzesregister
AHVG: 47
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 47
AHVV: 78
BGE Register
100-V-162
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
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