100 II 76
14. Urteil der II. Zivilabteilung vom 6. Juni 1974 i.S. L. gegen H.
Regeste (de):
- Art. 157 ZGB: Einem Begehren um Abänderung der im Scheidungsurteil getroffenen Gestaltung der Elternrechte darf nur stattgegeben werden, falls sich die Verhältnisse seit der Scheidung derart geändert haben, dass sich eine andere Entscheidung zwingend aufdrängt. Diese Voraussetzung kann erfüllt sein, wenn sich zeigt, dass die Verhältnisse, die bei der Gestaltung der Elternrechte massgebend waren, sich wesentlich anders entwickeln als vom Scheidungsrichter erwartet (Erw. 1-3).
- Art. 156
ZGB: Die Anordnung, wonach die Kinder ab dem 14. Altersjahr nach ihrem Willen entscheiden können, ob sie den Elternteil, dem die elterliche Gewalt bei der Scheidung entzogen wurde, besuchen wollen, lässt sich mit Art. 156
ZGB nicht vereinbaren (Erw. 4b).
Regeste (fr):
- Art. 157 CC: On ne peut donner suite à une requête en modification de la manière dont le jugement de divorce a prévu que les parents pourraient exercer leurs droits que si les circonstances ont tellement changé depuis le divorce qu'une autre décision s'impose de manière urgente. Cette condition peut être réalisée lorsqu'il apparaît que les éléments qui ont été décisifs lorsqu'il s'est agi d'organiser les droits des parents ont suivi un cours notablement différent de celui qu'escomptait le juge du divorce (consid. 1-3).
- Art. 156 CC: Prévoir que les enfants, dès l'âge de 14 ans, pourront décider eux-mêmes s'ils veulent rendre visite à celui de leurs parents à qui la puissance paternelle n'a pas été attribuée lors du divorce, est incompatible avec l'art. 156 CC (consid. 4b).
Regesto (it):
- Art. 157 CC: Un'istanza di cambiamento del regolamento dei diritti e doveri dei genitori, stabilito in una sentenza di divorzio, può essere accolta solo se le circostanze sono cosi radicalmente mutate da esigerlo. Questa condizione può essere realizzata quando i rapporti che furono determinanti per l'anzidetto regolamento si sono poi sviluppati in modo essenzialmente diverso da quanto previsto dal giudice del divorzio (consid. 1-3).
- Art. 156 CC: La disposizione che conferisce ai figli, a decorrere dal quattordicesimo anno di età, la facoltà di decidere se vogliono fare visita al genitore privato della patria potestà con la sentenza di divorzio, non è compatibile con l'art. 156 CC (consid. 4b).
Sachverhalt ab Seite 76
BGE 100 II 76 S. 76
Das Zivilamtsgericht von Bern schied am 21. Juni 1968 die Ehe H.-W. Die elterliche Gewalt über die fünf ehelichen Kinder übertrug es auf den Vater. Der Mutter wurde das Recht eingeräumt, die Kinder jeweils am zweiten Wochenende eines jeden Monats von 12.00 Uhr samstags bis 18.00 Uhr sonntags
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zu besuchen und 14 Tage der Sommerschulferien mit ihnen zu verbringen. Sodann verpflichtete es die Mutter, dem Vater an den Unterhalt eines jeden Kindes monatlich Fr. 30.- zu bezahlen. Am 29.. März 1969 beantragte der Vater beim Zivilgericht Basel-Stadt, das erwähnte Besuchs- und Ferienrecht der Mutter gänzlich aufzuheben, eventuell für eine bestimmte Frist zu sistieren, subeventuell zu modifizieren. Die Mutter antwortete mit einer Widerklage. Sie stellte die Anträge, die Klage abzuweisen, die Kinder ihr zuzuteilen, den Vater zu Unterhaltsbeiträgen an die Kinder zu verpflichten und ihm ein Besuchsrecht einzuräumen. Das Zivilgericht Basel-Stadt änderte das Scheidungsurteil teilweise ab. Es räumte der Mutter bloss noch einen Besuchstag alle zwei Monate und am 26. Dezember ein, wobei es jedoch den Kindern freistellte, nach Vollendung des 14. Altersjahres die Mutter noch zu besuchen. Dieses Urteil wurde vom Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt bestätigt, welches sich die Ausführungen des erstinstanzlichen Gerichts sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht vollständig zu eigen machte. Gegen das zweitinstanzliche Urteil hat die Beklagte, die inzwischen Herrn L. geheiratet hat, beim Bundesgericht Berufung eingereicht. Sie stellt den Antrag, ihre Widerklage gutzuheissen, eventuell die Klage abzuweisen und die bisherige Regelung zu bestätigen, wobei sie jedoch von der Pflicht, Unterhaltsbeiträge zu entrichten, befreit werden möchte. Der Kläger beantragt, die Berufung abzuweisen und das angefochtene Urteil zu bestätigen.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Gemäss Art. 157
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BGE 100 II 76 S. 78
Abänderung der Elternrechte bei nur unwesentlichen Änderungen der Verhältnisse würde dem Interesse der Kinder, das eine möglichst ruhige und konstante Erziehung verlangt, zuwiderlaufen. Ob eine Veränderung der Verhältnisse eingetreten ist, die auch die Abänderung der Elternrechte erfordert, ist nach der Gesamtheit der Umstände, vor allem unter Berücksichtigung der Interessen der Kinder, zu entscheiden (BGE 43 II 476). Die nötigen Verfügungen über die Gestaltung der Elternrechte und der persönlichen Beziehungen der Eltern zu den Kmdern trifft der Richter bei der Scheidung in der Regel aufgrund einer Prognose über die künftige Entwicklung der Kinder und des Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern. Stellt sich nun nachträglich heraus, dass die Prognose falsch war, und erweist sich, dass die Anordnungen sich deshalb auf das Wohl der Kinder offensichtlich nachteilig auswirken, so darf die sich aufdrängende Abänderung des Scheidungsurteils nicht an einer allzu strengen Auslegung des Art. 157
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2. Das Zivilgericht des Kantons Basel-Stadt wies das Begehren der Beklagten ab, wonach die Kinder in Abänderung des Scheidungsurteils dem Kläger entzogen und ihr zugeteilt werden sollten. Dem Urteil, das sich auf die psychiatrischen Gutachten stützt, die vom Zivilgericht in diesem Verfahren eingeholt wurden, ist in tatsächlicher Hinsicht zu entnehmen, der Kampf zwischen den Eltern um die Kinder habe letztere in schwerste Loyalitätskonflikte gestürzt. Die Kinder litten deshalb unter erheblichen psychischen Störungen. Eine
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Beruhigung sei erst in letzter Zeit eingetreten, seit die Beklagte das Besuchsrecht nur noch selten ausüben könne. Die Kinder ständen mit der Beklagten heute nicht mehr in engem Kontakt. Würden sie der Beklagten zugewiesen, so entstünden neue Schwierigkeiten und die Kinder würden wieder beunruhigt. Das Bundesgericht ist an diese tatsächlichen Feststellungen der ersten Instanz, die sich das Appellationsgericht zu eigen machte, im Berufungsverfahren gemäss Art. 63 Abs. 2
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a) Wie bereits dargelegt, ist einem Begehren um Abänderung des Scheidungsurteils nur stattzugeben, falls die Verhältnisse sich derart geändert haben, dass sich eine andere Entscheidung zwingend aufdrängt. Dem angefochtenen Urteil und den psychiatrischen Gutachten, auf welche das Urteil verweist, ist zu entnehmen, dass sich die Kinder in letzter Zeit beruhigt haben. Sollten die Kinder der gewohnten Umgebung entrissen werden, so würden sie gemäss den Feststellungen im angefochtenen Urteil psychisch Schaden nehmen. Das Interesse der Kinder verlangt demnach geradezu, dass sie beim Vater belassen werden. Die Vorinstanzen haben das Begehren der Beklagten um Zuteilung der Kinder demnach zu Recht abgewiesen. Inwiefern sie dadurch Bundesrecht, insbesondere Art. 157
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BGE 100 II 76 S. 80
an ihre Kinder Unterhaltsbeiträge zu entrichten, befreit werde. Diesen Antrag stellte sie, soweit aus den Akten ersichtlich ist, im kantonalen Verfahren noch nicht. Es handelt sich demnach um ein neues Begehren, auf welches das Bundesgericht im Berufungsverfahren gemäss Art. 55 Abs. 1 lit. b
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3. Die Beklagte beantragt, dass ihr das Besuchsrecht im bisherigen Umfang gewahrt bleibe, falls ihr die Kinder nicht zugesprochen werden. Die Vorinstanzen hatten ihr Besuchsrecht eingeschränkt. Sie bejahten damit indirekt, dass seit der Ausfällung des Scheidungsurteils eine Änderung in den Verhältnissen eingetreten ist, die eine Abänderung des Besuchsrechtes aufdrängt. Der Experte Züblin, auf dessen Ausführungen die kantonalen Instanzen im Detail verweisen und die das Bundesgericht bei seiner Entscheidung demnach berücksichtigen darf, gelangte nach einer gründlichen Untersuchung zum Schluss, alle Kinder seien psychisch eindeutig schwer gestört; gegenwärtig lebten sie in einem bekömmlichen Milieu; sie seien aber auch heute noch durch die ganze Scheidungsangelegenheit schwer belastet; die schwere neurotische Charakterentwicklung, die sie durchgemacht hätten, beeinträchtige ihre Beziehungsfähigkeit ganz allgemein noch auf lange Zeit, wenn nicht für immer. Die Kinder selbst seien der Ansicht, dass das Scheidungsurteil zu häufige Besuche der Mutter vorsehe. Durch die neu aufgenommenen Besuche der Mutter sei erwiesen, dass der Kontakt mit der Mutter die Scheidungssituation in gefährlicher Weise aktualisiere. Es sei damit zu rechnen, dass jeder Besuch zu einer zusätzlichen und schädlichen Spannung bei den Kindern führe, die gefährlich werde, wenn sie zu häufig eintrete. Aus dem psychiatrischen Gutachten ergibt sich somit, dass die psychisch bereits schwer geschädigten Kinder durch relativ häufige Besuche der Mutter in ihrem psychischen Gleichgewicht, das noch sehr labil ist, gefährdet werden. Diese Entwicklung wurde vom Scheidungsrichter nicht vorausgesehen.
BGE 100 II 76 S. 81
Sie steht in wesentlichem Gegensatz zu der Prognose, die zur bisherigen Regelung führte. Obwohl nicht von einer eigentlichen Änderung in den Verhältnissen gesprochen werden kann, sondern lediglich ursprüngliche Prognose und tatsächliche Entwicklung wesentlich auseinanderklaffen, liegen heute dennoch Verhältnisse vor, die eine Abänderung des Scheidungsurteils im Interesse der Kinder aufdrängen. Den kantonalen Instanzen kann daher keine Verletzung von Bundesrecht vorgeworfen werden, wenn sie die Voraussetzungen des Art. 157
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4. Der Ehegatte, dem die Kinder entzogen werden, hat ein Recht auf angemessenen persönlichen Verkehr mit diesen (Art. 156 Abs. 3
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BGE 100 II 76 S. 82
sehr zurückhaltende Regelung des Besuchsrechtes im Interesse der Kinder aufdrängt. Unter diesen Umständen kann jedenfalls nicht gesagt werden, die Vorinstanzen hätten durch die getroffene Einschränkung des Besuchsrechtes das ihnen nach Art. 156
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BGE 100 II 76 S. 83
Schwierigkeiten bieten und dem ohnehin labilen seelischen Gleichgewicht der Kinder abträglich sein. Doch birgt diese Regelung allzu grosse Gefahren in sich. Es ist wohl zuzugeben, dass sich Kinder heute allgemein grosser Freiheit erfreuen und Entscheide zu treffen haben, die bis vor kurzem einem Kinde niemals zugemutet wurden. Die von den Vorinstanzen angeordnete Regelung dürfte die Kinder mdessen überfordern. Von der Ausübung des Besuchsrechtes wird nämlich das künftige Verhältnis der Kinder zur Mutter abhängen. Für die Kinder handelt es sich demnach um Entscheidungen von besonderer Tragweite. Die Kinder sind nun aber kaum in der Lage, jeweils entgegen momentanen Neigungen und Versuchungen ihre langfristigen Interessen zu wahren. Zweifellos ist es der Entwicklung der Kinder weniger abträglich und insbesondere wird der bereits bestehende Loyalitätskonflikt weniger vertieft, falls sie sich einer festen Besuchsordnung zu unterziehen haben, als wenn sie jeweils selbst entscheiden müssen, ob sie gegen den vermuteten Willen des Vaters die Mutter besuchen wollen. Schliesslich dürfte die von den Vorinstanzen vorgeschlagene Lösung den Kindern wohl kaum die vorgesehene Freiheit verschaffen, sondern in Anbetracht des erbitterten Kampfes, den sich die Eltern liefern, sie eher dem Drucke der Eltern und allenfalls auch der andern Kinder aussetzen. Die Folge wäre, dass sie noch mehr in den Kampf der Eltern hineingezogen würden, was notgedrungen wieder zu einer Aktualisierung der Scheidungssituation führen müsste. Die von den Vorinstanzen getroffene Anordnung wird daher den Kindesinteressen eindeutig nicht gerecht. Die Regelung im vorinstanzlichen Urteil würde aber auch das Recht der Mutter auf angemessenen Verkehr mit den Kindern verletzen. Sie würde wahrscheinlich dazu führen, dass die Kinder ab dem 14. Altersjahr die Mutter überhaupt nicht mehr besuchen würden. Eine gänzliche Unterdrückung des Besuchsrechtes oder eine Regelung, die eine ähnliche Wirkung zeitigt, darf aber nur zugelassen werden, falls das Kindesinteresse dies zwingend gebietet und keine die Kindesinteressen wahrende Besuchsordnung gefunden werden kann. Wie sich dem psychiatrischen Gutachten entnehmen lässt, liegt es im Interesse der Kinder, dass sie in angemessenen Zeitabständen mit der Mutter zusammentreffen. Indem die Vorinstanzen eine Regelung trafen, welche die Gefahr in sich birgt, einerseits
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die Scheidungssituation wieder zu aktivieren und anderseits das Besuchsrecht der Beklagten überhaupt zu unterbinden, verstiessen sie nicht bloss gegen das Recht der Beklagten auf angemessenen Verkehr mit den Kindern, sondern auch gegen die Interessen der Kinder selbst. Die Anordnung, wonach die Kinder ab dem 14. Altersjahr nach ihrem Willen entscheiden können, ob sie die Mutter besuchen wollen, ist deshalb als bundesrechtswidrig aufzuheben.