6 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. 1. Abschnitt. Bundesverfassung.
deren Leistung er bei seiner zugestandenen Mittellosigkeit
aller Voraussicht nach ausser Stande war, involvirt offenbar eine
Rechtsverweigerung, d. h. es kommt das beobachtete Verfahren einer
ausdrücklichen Weigerung des Gerichtes, die Klage des Reknrrenten an
Hand zu nehmen, dem praktischen Effekte nach vollständig gleich.
4. Es ist somit der Rekurs in dem Sinne als begründet zu erklären,
dass die angefochtenen Schlussnahmen aufgehoben werden, dabei aber den
zuständigen Behörden anheimgegeben wird, dem Rekurrenten durch erneuerte
Schlussnahme eine Kaution in angemessenem, sachlich zu rechtsertigendem
Betrage aufzuerlegen
Demnach hat das Bundesgericht e r kannt:
Der Rekurs wird im Sinne der Erwägungen als begründet erklärt und es
werden mithin die angefochtenen Schlussnahmen des Bezirksgerichtes
Plessur vom 7. März 1882 und 18. Januar 1883 sowie des Kleinen Rathes
des Kantons Graubünden vom 28. März 1883 aufgehoben.
2. Urtheil vom 29. März 1884 in Sachen Schnyder und Odermatt.
A. Am 16. Dezember 1882 erhob Paul Heim, damals Postillon in Stans, beim
dortigen Polizeiamte Klage gegen Albert Schnyder und Josef Odermatt,
behauptend: dieselben haben ihn am 15. Dezember-, Nachts 11 Uhr
angegriffen und von ihm 3 Franken gefordert; nachher seien sie mit ihm
zum Hause des Kaspar Odermatt im Höfli zu Stans gegangen und haben dort
geläutet, um von Kaspar Odermatt 10 Fr. zu verlangen, unter der Drohung,
dass sie sonst gegen Heim und Kaspar Odermatt Klage wegen Unzucht erheben
würden. Auf diese Anzeige hin wurden Schnyder und Josef Odermatt wegen
Erpressungsversuchs in strasrechtliche Untersuchung gezogen und befanden
sich während einiger Zeit in Verhaft. Da sie in ihren
LAS?! . ___. .[. Bechtsverweigemng. N°. 2. 7
Verhören angaben, sie haben in der Nacht vom 15. Dezember bevor sie dem
Heim aus dem Dorsplatze abgewartet, bei den Jalousieladen des Hauses
des Kaspar Odermatt in dessen Comptoir hineingeschaut und gesehen,
dass dort Heim und Kaspar Odermatt unzüchtige Handlungen begehen und da
in der Folge auch Joses Akermann, Alois Bläsi und Franz Scheuber wegen
der gleichen Anschuldigung gegen Heim und Kaspar Odermatt Klage erhoben,
so wurde die strafrechtliche Untersuchung auch gegen die beiden Letztern
gerichtet und Heim für einige Zeit in Verhast gesetzt.
B. Der Regierungsrath des Kantons Nidwalden überwies sodann Schnyder und
Josef Odermatt wegen nächtlichen Angriffs und Erpressungsversuchs an
das nidwaldensche Kantonsgericht, welches, nachdem der Negierungsrath
am 23. April 1883 den bezüglichen Prozessextrakt des Verhöramtes
genehmigt hatte, unterm 16. August 1883 den Josef Odermatt zu 30
Fr. und den Schnyder zu 50 Fr. Busse und jeden derselben zu Bezahlung
von 40 Fr. Kosten unter solidarischer Haftbarkeit verurtheilte. In dem
Urtheile wird ausdrücklich bemerkt, dass die Beurtheilung der Frage, ob
in den gegen Kaspar Oderrnatt und Heim gemachten Aussagen eine falsche
Denunziation liege, einem spätern Verfahren Vorbehalten werde
C Aus das Gesuch des Kas spar Odermatt und in Erwägung, dass Tdie s. Z. in
Untersuchungssachen gegen Kaspar Odermatt und Heim einvernommenen
vielen Zeugen nichts deponirt haben, woraus eine strasbare Handlung
dieser Betlagten sich ergehe und dass bei Behandlung des bezüglichen
Prozessextraktes nur Schnyder und J. Odermatt zur Beurtheilung ans
Gericht gewiesen worden, die Schliessung des Prozesses gegen Kaspar
Odermatt und Heim zwar im Sinne der damaligen Verhandlungen gelegen,
eine bezügliche Beschlussfassung aber unterlassen worden sei, beschloss
der Regierungsrath Von Nidwalden am 23. Juli 1883, es sei der erwähnte
Beschluss vom 23. April mit dem Zusatze zu ergänzer dass der Unter-such
gegen Kaspar Odermatt und Heim aus Mangel an Beweis ad acta gelegt werde.
D. Durch Zuschrift vom 19. August 1883 erhob nun Kaspar
8 %. Staatsrechtliche Entscheidungen. 1. Abschnitt. Bundesverfassung.
Odermatt beim Regierungsrathe Klage gegen Schnyder und Josef Odermatt
wegen falscher Denunziation und gegen Ackermann, Bläsi und Scheuber wegen
falscher Anklage. Der Regierungsrath fand dieselbe begründet und beschloss
daher, es sei, da obige Klage im Prozessuntersuche gegen Schnyder
und Josef Odermatt genüglich aufgehellt und abgeklärt sei, von einem
ferner-n Untersuche zu abstrahiren, beziehungsweise ein Prozessbericht
sofort anzufertigen, genehmigte letzteren am 8. Oktober und überwies die
erwähnten fünf Beklagten dem Kantonsges richte, welches dieselben auf
den 24. gleichen Monats vorladen liess. Für Albert Schnyder und Joses
Odermatt, welche den Fürsprech Dr. Weibel in Luzern als Vertheidiger
angesprochen hatten, stellte dieser am 16. November das schriftliche
Gesuch an den nidwaldenschen Negierungsrath, es möchte ihm Einsicht
in die Prozedur selber gestattet werden, damit er in die Lage komme,
an den Zeugen Kritik zu Wen, eventuell Gegenbeweise anzutreten. Tags
daran beschloss jedoch der Regierungsrath, auf das Gesuch sei, gestützt
auf das dortige Strasprozessverfahren, nicht einzutreten.
E. Gegen diese Schlussnahme ergriff Dr. Weibel Namens Schnyder und
Oder-matt mit Eingabe vom SI. November den staatsrechtlichen Rekurs an
das Bundesgericht und verlangte: Es sei der Regierungsrath von Nidwalden
verpflichtet zu erWren, dem Vertheidiger des Albert Schnyder und des Joses
Odermatt die Prozessakten zur Wahrnehmung der Vertheidigung angemessene
Zeit vor der Tagsahrt zur Einsicht zu halten Durch besondere Zuschrist
verlangten die Nekurrenten gleichzeitig provisorische Einstellung
der Verhandlung des Strassalles, bis über die Beschwerde wegen
Rechtsverweigernng entschieden sein werde, wurden indess am 23. November
vom Präsidenten des Bundesgerichtes abgewiesen.
Betreffend den Rekurs selbst, so machen die Beschwerdeführer zu dessen
Begründung im Wesentlichen geltend: Davon, dass der Vertheidiger von
den Prozessakten keine Einsicht solle nehmen können, stehe im gedruckten
Strafprozesie von Nidwalden aus dem Jahre 1867 (Seite 614 ff., 640 und
746) durchaus nichts; vielmehr scheine die Bestimmung, dass, wenn möglich,
den Rich-I. Rechtsverweigerung. N° 2. 9
tern einige Tage vor der Sitzung die Prozessakten mitgetheilt werden
sollen, für das Gegentheil zu sprechen. Jedenfalls gestatte das
Nidwaldener Strafprozeszrecht die Vertheidigungz in der Aufgabe der
Vertheidigung liege nun die Ueberwachung der Jnnehaltnng der Prozessregeln
zu Gunsten des Angeklagten, die Wahrnehmung der Entlastungsbeweise und
die Kritik des Belastungsbeweises. Die Erfüllung dieser Aufgabe werde
aber dem Vertheidiger geradezu verunmöglicht, wenn er die Prozessakten
nicht einsehen könne, sondern lediglich auf einen Prozessextrakt
angewiesen sei, welcher nicht einmal die Namen der abgehörten Zeugen
enthalte. Die Verweigerung der Einsicht in die Prozedur komme daher im
Effekte einer Verweigerung der Vertheidigung selbst gleich, und indem
der Regierungsrath durch seinen Beschluss die gesetzlich garantirte
Bertheidigung, den Desensionalprozess verhindere, habe er den Rekurrenten
ihr Recht verweigert.
F. In ihrer Beantwortung auf die Reknrseingabe bestreitet die Regierung
von Nidwalden in erster Linie die Kompetenz des Bundesgerichtes, da
der Strafprozess Sache der Kantons und nicht des Bundes sei. Eventuell
beantragt der Regierungsrats), der Relurs sei wegen mangelnder Begründung
auch materiell in abweisendem Sinne zu beurtheilen. für die gegen Kaspar
Odermatt und Heim gemachte Denunziation seien nämlich die Rekurrenten
beweispflichtig und soweit diese Denunziation in Frage komme, könne es
sich bei den Rekurrenten nicht um einen Defensionalprozess handeln. Die
gegnerischerseits aus dem Gesetzbuche zitirten strafprozessualischen
Vorschriften seien weder von der Bundesnoch Von der Kantonsverfassung
gewährleisten übrigens auch in keiner Weise verletzt worden. Das
Verfahren, dass im Strafprozesse die Zeugennamen geheim gehalten werden,
sei hergebracht und stets beobachtet worden. In dieser Weise werde
jeweilen und gegen jeden Angeklagten verfahren; so sei es auch gegen die
Rekurrenten geschehen, also sei gegen letztere kein Ausnahmeversahren
beobachtet worden. Uebrigens seien vorliegend alle einvernommenen Zeugen
von Josef Odermatt, sowie von den Klägern Bläfi, Scheuber und Ackermann,
mithin zu Gunsten der Rekurrenten angegeben und ihre Aussagen, soweit
sie irgend relevant, ausführlich in die Extrakte aufgenommen worden.
10 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. 1. Abschnitt. Bundesverfassung.
G. Der Rekursbeklagte Kaspar Odermatt spricht sich in seiner Antwort
dahin ans, dass er in fraglichem Strafprozesse seinerseits gegen die von
den Rekurrenten verlangte Akteneinsicht nichts einwende, in der Meinung,
dass ihm die Einsichtnahme, wenn sie ihm nöthig scheinen sollte, ebenfalls
zustehe und dass dadurch der Frage über die Kompetenz des Bundesgerichtes
nicht präjudizirt werden, resp. die Rechte der zuständigen Behörden Von
Nidwalden gewahrt bleiben sollen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Die Rekurrenten beschweren sich wegen Rechtsverweigerung, weil die
Regierung von Nidwalden ihnen in der Strafsache gegen sie resp. gegen
Kaspar Odermatt die Einsicht in die gesammten Untersuchungsakten
verweigert und sie lediglich auf die vom Untersuchungsrichter
angefertigten Prozessextrakte verwiesen habe. Es handelt sich demnach um
eine Beschwerde wegen angeblicher Verletzung eines verfassungsmässigen
Rechtes durch die Verfügung einer kantonalen Behörde, mithin um einen
staatsrechtlichen Rekurs im Sinne des Art. 59 litt. a des Bundesgefetzes
über Organisation der Bundesrechtspflege und es Vermag der Umstand,
dass die angefochtene Verfügung der tanto: nalen Behörde eine Strassache
betrifft, hieran offenbar nichts zu ändern. Die Einrede der Jnkompetenz
des Bundesgerichtes ist demnach unbegründet und es muss in die Prüfung der
Frage, ob eine Rechtsverweigerung vorliege oder nicht, eingetreten werden.
2. Die Sache selbst betreffend, so führen die Rekurrenten zunächst an,
die nidwaldensche Gesetzgebung besage nirgends expressis verbis, dass
der Angeklagte resp. dessen Vertheidiger nicht das Recht habe, Einsicht
in die Prozessakten selbst zu nehmen. Dies ist auch richtig. Freilich
spricht das Strafprozessgesetz von Nidwalden und mit ihm die dortige
Gerichtspraxis durchgängig nur von einem durch den Untersuchungsrichter
anzufertigenden und vom Regierunsrathe zu genehmigenden Prozessextrakte,
dessen Kenntnissnahme dem Angeklagten beziehungsweise seinem Vertheidiger
zustehen foll. Allein dies schliesst doch die Befugniss des Angeklagten,
von den Aufzeichnungen über die stattgefundenen gerichtlichen
Amtshandlungen, die Zeugenden
--I. Rechtseerweigerung. N° ?... 11
höre und dergleichen, d. h. von den Prozessalten selbst, Einsicht zu
nehmen, nicht nothwendig aus.
3. Diese von der Doktrin geforderte (vergl.u. A. Holtzendorff in
seinem Rechtslexiton, Band III, 2. Abtheilung, S. 1097 ff. und Vargha,
Die Vertheidigung in Straffachen, S. 612 ff.), sowie von den meisten
modernen Strafprozessgesetzen ausdrücklich eingeräumte Befugniss
der Akteneinsicht gehört überdies zum Wesen des durch Artikel 64 der
nidwaldener Staatsverfassung selbst gewährleisteten Vertheidigungsrechtes,
beziehungsweise des rechtlichen Gehörs und bildet unzweifelhaft eine
der unentbehrlichsten Voraussetzungen der praktischen Wirksamkeit
desselben. Denn wenn der Vertheidiger in die Lage versetzt werden foll,
die Rechte des Angeklagten in vollem Umsange wirksam wahren zu können,
so muss ihm gewiss gestattet werden, das gesammte Aktenmaterial, welches
die Belastungsund Entlastungsbeweise enthält, unbeschränkt einzusehen.
4. Dadurch, dass die Nidwaldener Regierung den Rekurrenten resp. deren
Vertheidiger Letzteres versagt und dieselben blos auf den vom
Verhtirrichter gefertigten Prozessauszug angewiesen hat, der nicht einmal
die Namen der abgehörten Zeugen aufführt, hat sie ihnen die Möglichkeit
benommen, den ganzen Gang der Untersuchung vollständig zu überblicken
undden urtheilenden Richter auf alle Momente aufmerksam zu machen,
welche zu ihrer Entlastung dienen können. Diese Beschränkung kommt, wie
die Rekurrenten richtig bemerken, ihrer Wirkung nach einer Verkürzung des
verfassungsmässig garantirten Vertheidigungsrechtes beziehungsweise einer
Verletzung der durch Bundesrecht unbedingt sanktionirten Gewährleistung
des rechtlichen Gehörs gleich.
Demnach hat das Bundesgericht erkannt:
Die Rekursbeschwerde des Albert Schnyder von Sursee und des Josef Odermatt
von Stans vom 21. November 1883 wird als begründet erklärt und es wird
mithin die angefochtene Schlussnahme des Regierungsrathes des Kantons
Nidwalden vom 17. November 1883 aufgehoben.