Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}

9C_771/2012

Urteil vom 25. Juni 2013

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Verfahrensbeteiligte
W.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Stadelmann,
Beschwerdeführer,

gegen

Amt für AHV und IV des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst,
St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV (Rückerstattung; Erlass),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 8. August 2012.

Sachverhalt:

A.

A.a. W.________, geboren 1959, war Bezüger einer Ergänzungsleistung (EL) zur Invalidenrente. Nach einem vorübergehenden Wegfall des Anspruchs ab 1999 meldete er sich am 17. Dezember 2002 beim Amt für AHV und IV des Kantons Thurgau erneut zum Bezug von Leistungen an. Dabei war er vertreten durch den hierzu bevollmächtigten I.________. Bei der Beantwortung der im Gesuchsformular gestellten Frage nach "Renten und Pensionen öffentlichen oder privaten Rechts (...) z.B. Renten privater Versicherungen" fügte dieser im entsprechenden Feld einen diagonal verlaufenden Strich ein. Mit Verfügung vom 17. April 2003 und Wirkung ab 1. Januar 2003 sprach das kantonale Amt W.________ wiederum eine EL zu. Es bestätigte den Anspruch in darauffolgenden Verfügungen. In den Formularen zur Überprüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse (jeweils per 1. Januar) beantwortete W.________ die genannte Frage nicht (29. Januar 2007) oder verneinte sie (5. März 2009 [vertreten durch die Mutter] und 26. Januar 2011).

A.b. Aus den von der AHV-Zweigstelle dem kantonalen Amt übermittelten Rentenbescheinigungen der Swiss Life (vom 10. Januar 2009 und 9. Januar 2010) sowie einem Schreiben des Versicherers (vom 30. Juni 2011) ging hervor, dass W.________ in den Jahren 2008 bis 2010 eine Erwerbsunfähigkeitsrente von jeweils Fr. 1'556.40 ausgerichtet worden war. Am 30. Juni 2011 teilte die Swiss Life der AHV-Zweigstelle neben anderem mit, sie zahle W.________ seit dem 11. November 1986 Leistungen aus. Diese betrügen seit 1993 quartalsweise Fr. 320.80 (nach Abzug der Prämie).

A.c. Mit Verfügung vom 31. August 2011 forderte das Amt für AHV und IV von W.________ für die Zeit vom 1. September 2006 bis 31. August 2011 bezahlte Ergänzungsleistungen im Gesamtbetrag von Fr. 11'750.- zurück. Sie stützte sich auf die Berechnungsblätter für die Ergänzungsleistungen der genannten Periode, in welchen sie neu Rentenleistungen der Swiss Life in Höhe von jährlich Fr. 1'283.- berücksichtigte.

A.d. Mit einem (nach unbestrittener Aussage des Beschwerdeführers im kantonalen Beschwerdeverfahren) von der AHV-Zweigstelle aus Anlass einer Vorsprache der Mutter O.________ schriftlich ausformulierten und mit "Erlassgesuch" betitelten Schreiben vom 2. September 2011 gelangte O.________ an das kantonale Amt für AHV und IV. Sie zeigte sich darin "sehr erschrocken über die Höhe des Betrages". Mit dem Einkommen und der Rente sei es nicht möglich, den offenen Betrag von Fr. 11'750.- abzubezahlen. Die Einnahmen reichten kaum, die Auslagen zu decken. Sie bitte darum, den Erlass oder einen Teilerlass der Rückforderung zu prüfen. Mit Verfügung vom 9. Januar 2012 wies das Amt das Gesuch ab. Es bestätigte dies mit Einspracheentscheid vom 20. April 2012. In der Begründung führte es aus, die Eingabe der O.________ vom 2. September 2011 könne nicht als Einsprache gegen die Rückforderungsverfügung vom 31. August 2011 interpretiert werden.

B.
Die von W.________ hiegegen erhobene Beschwerde mit dem Antrag, der Einspracheentscheid sei aufzuheben und es sei auf eine Rückforderung angeblich zu viel bezogener Ergänzungsleistungen zu verzichten, wies das Versicherungsgericht des Kantons Thurgau ab (Entscheid vom 8. August 2012).

C.
W.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten die Aufhebung des Entscheides vom 8. August 2012 beantragen. Er erneuert den Antrag auf den Verzicht auf die Rückforderung. Eventualiter sei die Sache zu weiteren Abklärungen bzw. neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Das kantonale Gericht und das kantonale Amt für AHV und IV schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Es ist vorab zu prüfen, ob die mit "Erlassgesuch" betitelte Eingabe der Mutter O.________ vom 2. September 2011 korrekterweise nicht auch als Einsprache gegen die Rückerstattungsverfügung vom 31. August 2011 hätte bearbeitet werden müssen. Verwaltung und Vorinstanz haben dies verneint, wobei die Vorinstanz richtig angeführt hat, dass der später beigezogene Rechtsvertreter nach dem verweigerten Rückforderungserlass (Verfügung vom 9. Januar 2012) mit (vorsorglicher) Einsprache vom 2. Februar 2012 den Beschwerdegegner in Kenntnis gesetzt hat, dass die Eingabe sich insbesondere auch gegen die Rückerstattungsverfügung vom 31. August 2011 richte. Am 30. März 2012 beantragte er, der EL-Anspruch sei rückwirkend ab 1. September 2006 neu zu berechnen, da die Berufsauslagen nicht berücksichtigt worden seien.

2.
Die Annahme einer Einsprache setzt u.a. voraus, dass der Wille zum Ausdruck gebracht wird, die erlassene Verfügung nicht zu akzeptieren (vgl. Urteil I 664/03 vom 19. November 2004 E. 2.3 mit Hinweis auf BGE 119 V 347 E. 1b S. 350; KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 23 zu Art. 52). Bei der Eingabe vom 2. September 2011 konnte aufgrund ihrer Bezeichnung als "Erlassgesuch" und des Wortlautes der Begründung wohl primär darauf geschlossen werden, dass die Mutter des Beschwerdegegners ein solches Gesuch stellen wollte. Sie zeigte sich schockiert über die Höhe des Betrages, machte jedoch keine begründete Ausführungen dazu, warum die Rückforderung nicht korrekt sein sollte. Vielmehr führte sie die Rechtfertigung an, sie habe die Rente aufgrund der Auskunft ihres Versicherungsvertreters nicht deklariert und die finanziellen Verhältnisse würden nicht ausreichen, um den geforderten Betrag zurückzuerstatten. Dabei handelte es sich offensichtlich um Ausführungen zum guten Glauben und der grossen Härte als Erlassvoraussetzungen. Indes ist bei der Interpretation des Inhaltes des Schreibens nicht ausser Acht zu lassen, dass die Mutter des Beschwerdeführers sich (vom Beschwerdegegner unbestritten) unmittelbar nach dem Erhalt der
Rückforderungsverfügung an die AHV-Zweigstelle wandte und dort um Hilfestellung bat. Die Zweigstelle hat für die Mutter das Schreiben an den zentralen Rechts- und Einsprachedienst des Amtes für AHV und IV verfasst.

3.
Nach Art. 10 Abs. 3
SR 830.11 Verordnung vom 11. September 2002 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSV)
ATSV Art. 10 Grundsatz - 1 Einsprachen müssen ein Rechtsbegehren und eine Begründung enthalten.
1    Einsprachen müssen ein Rechtsbegehren und eine Begründung enthalten.
2    Die Einsprache ist schriftlich zu erheben gegen eine Verfügung, die:
a  der Einsprache nach Artikel 52 ATSG unterliegt und eine Leistung nach dem Bundesgesetz vom 25. Juni 198240 über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung oder deren Rückforderung zum Gegenstand hat;
b  von einem Durchführungsorgan der Arbeitssicherheit im Sinne der Artikel 47-51 der Verordnung vom 19. Dezember 198341 über die Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten erlassen wurde.
3    In allen übrigen Fällen kann die Einsprache wahlweise schriftlich oder bei persönlicher Vorsprache mündlich erhoben werden.
4    Die schriftlich erhobene Einsprache muss die Unterschrift der Einsprache führenden Person oder ihres Rechtsbeistands enthalten. Bei einer mündlich erhobenen Einsprache hält der Versicherer die Einsprache in einem Protokoll fest; die Person, welche die Einsprache führt, oder ihr Rechtsbeistand muss das Protokoll unterzeichnen.
5    Genügt die Einsprache den Anforderungen nach Absatz 1 nicht oder fehlt die Unterschrift, so setzt der Versicherer eine angemessene Frist zur Behebung der Mängel an und verbindet damit die Androhung, dass sonst auf die Einsprache nicht eingetreten wird.
ATSV kann die Einsprache wahlweise schriftlich oder bei persönlicher Vorsprache mündlich erhoben werden. Bei einer mündlich erhobenen Einsprache hält nach Art. 10 Abs. 4
SR 830.11 Verordnung vom 11. September 2002 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSV)
ATSV Art. 10 Grundsatz - 1 Einsprachen müssen ein Rechtsbegehren und eine Begründung enthalten.
1    Einsprachen müssen ein Rechtsbegehren und eine Begründung enthalten.
2    Die Einsprache ist schriftlich zu erheben gegen eine Verfügung, die:
a  der Einsprache nach Artikel 52 ATSG unterliegt und eine Leistung nach dem Bundesgesetz vom 25. Juni 198240 über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung oder deren Rückforderung zum Gegenstand hat;
b  von einem Durchführungsorgan der Arbeitssicherheit im Sinne der Artikel 47-51 der Verordnung vom 19. Dezember 198341 über die Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten erlassen wurde.
3    In allen übrigen Fällen kann die Einsprache wahlweise schriftlich oder bei persönlicher Vorsprache mündlich erhoben werden.
4    Die schriftlich erhobene Einsprache muss die Unterschrift der Einsprache führenden Person oder ihres Rechtsbeistands enthalten. Bei einer mündlich erhobenen Einsprache hält der Versicherer die Einsprache in einem Protokoll fest; die Person, welche die Einsprache führt, oder ihr Rechtsbeistand muss das Protokoll unterzeichnen.
5    Genügt die Einsprache den Anforderungen nach Absatz 1 nicht oder fehlt die Unterschrift, so setzt der Versicherer eine angemessene Frist zur Behebung der Mängel an und verbindet damit die Androhung, dass sonst auf die Einsprache nicht eingetreten wird.
Satz 2 ATSV der Versicherer die Einsprache in einem Protokoll fest; die Person, welche die Einsprache führt, muss das Protokoll unterzeichnen. Diese Formerfordernis ist mit dem Schreiben vom 2. September 2011 grundsätzlich eingehalten, hat doch die Mutter das Schreiben unterzeichnet. Allerdings ist nirgends festgehalten, wer die Vorbringen protokolliert hat. Dies ist nicht unbedeutend, denn gemäss Art. 27 Abs. 2
SR 830.1 Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
ATSG Art. 27 Aufklärung und Beratung - 1 Die Versicherungsträger und Durchführungsorgane der einzelnen Sozialversicherungen sind verpflichtet, im Rahmen ihres Zuständigkeitsbereiches die interessierten Personen über ihre Rechte und Pflichten aufzuklären.
1    Die Versicherungsträger und Durchführungsorgane der einzelnen Sozialversicherungen sind verpflichtet, im Rahmen ihres Zuständigkeitsbereiches die interessierten Personen über ihre Rechte und Pflichten aufzuklären.
2    Jede Person hat Anspruch auf grundsätzlich unentgeltliche Beratung über ihre Rechte und Pflichten. Dafür zuständig sind die Versicherungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind. Für Beratungen, die aufwendige Nachforschungen erfordern, kann der Bundesrat die Erhebung von Gebühren vorsehen und den Gebührentarif festlegen.
3    Stellt ein Versicherungsträger fest, dass eine versicherte Person oder ihre Angehörigen Leistungen anderer Sozialversicherungen beanspruchen können, so gibt er ihnen unverzüglich davon Kenntnis.
ATSG besteht ein individuelles Recht auf Beratung durch den zuständigen Versicherungsträger. Jede versicherte Person kann vom Versicherungsträger im konkreten Einzelfall eine unentgeltliche Beratung über ihre Rechte und Pflichten verlangen (BGE 131 V 472 E. 4.1 S. 476). Sinn und Zweck der Beratungspflicht ist, die betreffende Person in die Lage zu versetzen, sich so zu verhalten, dass eine den gesetzgeberischen Zielen des jeweiligen Erlasses entsprechende Rechtsfolge eintritt. Dabei ist nach der Lehre die zu beratende Person über die für die Wahrnehmung der Rechte und Pflichten massgebenden Umstände rechtlicher oder tatsächlicher Art zu
informieren, wobei gegebenenfalls ein Rat bzw. eine Empfehlung für das weitere Vorgehen abzugeben ist (BGE 131 V 472 E. 4.3 S. 478 mit Hinweisen; Urteil I 714/06 vom 20. April 2007 E. 4.1, in: SVR 2008 IV Nr. 10 S. 30; ULRICH MEYER, Grundlagen, Begriff und Grenzen der Beratungspflicht der Sozialversicherungsträger nach Art. 27 Abs. 2
SR 830.1 Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
ATSG Art. 27 Aufklärung und Beratung - 1 Die Versicherungsträger und Durchführungsorgane der einzelnen Sozialversicherungen sind verpflichtet, im Rahmen ihres Zuständigkeitsbereiches die interessierten Personen über ihre Rechte und Pflichten aufzuklären.
1    Die Versicherungsträger und Durchführungsorgane der einzelnen Sozialversicherungen sind verpflichtet, im Rahmen ihres Zuständigkeitsbereiches die interessierten Personen über ihre Rechte und Pflichten aufzuklären.
2    Jede Person hat Anspruch auf grundsätzlich unentgeltliche Beratung über ihre Rechte und Pflichten. Dafür zuständig sind die Versicherungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind. Für Beratungen, die aufwendige Nachforschungen erfordern, kann der Bundesrat die Erhebung von Gebühren vorsehen und den Gebührentarif festlegen.
3    Stellt ein Versicherungsträger fest, dass eine versicherte Person oder ihre Angehörigen Leistungen anderer Sozialversicherungen beanspruchen können, so gibt er ihnen unverzüglich davon Kenntnis.
ATSG, in: René Schaffhauser/ Franz Schlauri [Hrsg.], Sozialversicherungsrechtstagung 2006, S. 9 ff., insbes. S. 14 und 25). Diese Beratungspflicht wird primär ausgelöst durch eine konkrete Anfrage einer versicherten Person zu einem bestimmten, sie aktuell beschäftigenden sozialversicherungsrechtlichen Problem. Wendet sie sich mit einem Anliegen an die Versicherung, ist diese umfassend zur Aufklärung verpflichtet. Sie muss bei konkretem Anlass den Versicherten auf Gestaltungsmöglichkeiten hinweisen, die klar zutage liegen und deren Wahrnehmung offenbar so zweckmässig ist, dass jeder verständige Versicherte sie mutmasslich nutzen würde. Ausreichend ist die Auslösung der Beratungspflicht, wenn für den zuständigen Versicherungsträger erkennbar ist, dass der Betroffene durch ein bestimmtes Handeln oder Unterlassen Nachteile in Ansehung seiner Sozialleistungsansprüche erleiden kann ( HERMANN PLAGEMANN
(Hrsg.), Münchner Anwaltshandbuch Sozialrecht, 2. Aufl., München 2005, S. 1333 N 21). Richtschnur, wann die Behörde zu beraten hat, bildet Treu und Glauben, d.h. eine an der konkret eingetretenen Sachlage ansetzende Prüfung, was ein Erklärungsadressat bei gebotener sorgfältiger Prüfung der Sach- und Rechtslage antworten würde ( ULRICH MEYER, a.a.O., S. 25).

Der Inhalt der anlässlich der Vorsprache auf der Zweigstelle gemachten Aussagen der Mutter sowie der Beratung durch die Amtsstelle ist in den Akten nirgends festgehalten. Darum ist nicht ersichtlich, ob die (allenfalls) erfolgte Beratung den oben genannten Anforderungen gerecht wurde, denn im damals bestehenden Kontext hätte das primäre Ziel zunächst darin bestehen müssen, die Rückforderung durch eine Beseitigung der eben ergangenen Verfügung abzuwehren oder zu reduzieren. Für ein vorzeitiges, direktes Stellen eines Erlassgesuches bestand unmittelbar noch gar kein Anlass. Mit der Vorsprache auf der AHV-Zweigstelle reagierte die Mutter ganz offensichtlich auf die drei Tage zuvor erlassene Rückforderungsverfügung, was die Vermutung nahelegt, dass damit eine Einsprache gegen jene Verfügung bezweckt war. Das im Stil eines Standardschreibens abgefasste "Erlassgesuch" kann durchaus durch eine Person ohne verfahrensrechtliche Fachkenntnisse ausgefertigt worden sein. Es ist somit nicht auszuschliessen, dass eine gegen die drei Tage zuvor versandte Rückforderungsverfügung gerichtete mündliche Einsprache zu einem Erlassgesuch "mutierte", obwohl es nicht dem wirklichen (im damaligen Kontext nachvollziehbaren) Willen entsprach, die
Rückforderung anzufechten. In diesem Punkte besteht eine nicht zu beseitigende Unsicherheit.

4.
Für die Vorinstanz war die Frage ebenfalls strittig, ob die Rechtmässigkeit der Rückerstattungsforderung als solche Verfahrensgegenstand bildete. Sie erwog dazu, die keinesfalls unbeholfen abgefasste, sondern in präzisen Sätzen ausformulierte Eingabe der Mutter könne nach Treu und Glauben nicht als gegen die Rückforderung gerichtete Einsprache gewertet werden. Damit überging die Vorinstanz den nie bestrittenen Umstand, dass das Schreiben nicht von der Mutter, sondern durch eine Aussenstelle des Beschwerdegegners verfasst worden war. Die vorinstanzliche Feststellung, es fänden sich im besagten Schreiben keinerlei Hinweise darauf, dass die Mutter die Höhe der Rückforderung in Frage stellen wollte, überzeugt zudem nicht: Die Aussage, sie sei über die Höhe des Betrages erschrocken, kann durchaus als Bestreiten zumindest eines Teilbetrages der Forderung interpretiert werden. Wie vom Beschwerdeführer nach dem Beizug des Rechtsvertreters geltend gemacht worden ist, wurden bei der Festsetzung der EL möglicherweise gewisse Auslagen nicht berücksichtigt. Solches wäre zunächst in einem Einspracheverfahren gegen die Rückforderungsverfügung vom 31. August 2011 zu klären gewesen, da sich ein Bemessungsfehler unmittelbar auf die Korrektheit des
Rückforderungsbetrages auswirken konnte. Dabei wäre zu begründen gewesen, warum die EL-Rückforderung beinahe den doppelten Betrag der von der Versicherung ausbezahlten Rente ausmachte. Gerade diese Diskrepanz könnte ja die Mutter dazu bewogen haben, gegen die Rückforderung einzusprechen, wenn sie ausführte, sie sei über die Höhe des Betrages schockiert. Erst aus der Begründung des Einspracheentscheides vom 20. April 2012 über das "Erlassgesuch" ging hervor, dass dieses "Auseinanderklaffen" der Beträge offenbar auf die Ausrichtung einer EL-Minimalgarantie zurückzuführen war.

5.
Nach dem Gesagten sind nicht zu beseitigende Zweifel daran angebracht, dass das von der AHV-Zweigstelle abgefasste Erlassgesuch den Willen der Vorsprechenden korrekt wiedergab. Nach den Akten sind hier zusätzliche Abklärungen im Rahmen der Untersuchungspflicht von Verwaltung und Vorinstanz (Art. 43 Abs. 1
SR 830.1 Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
ATSG Art. 43 Abklärung - 1 Der Versicherungsträger prüft die Begehren, nimmt die notwendigen Abklärungen von Amtes wegen vor und holt die erforderlichen Auskünfte ein. Mündlich erteilte Auskünfte sind schriftlich festzuhalten.
1    Der Versicherungsträger prüft die Begehren, nimmt die notwendigen Abklärungen von Amtes wegen vor und holt die erforderlichen Auskünfte ein. Mündlich erteilte Auskünfte sind schriftlich festzuhalten.
1bis    Der Versicherungsträger bestimmt die Art und den Umfang der notwendigen Abklärungen.32
2    Soweit ärztliche oder fachliche Untersuchungen für die Beurteilung notwendig und zumutbar sind, hat sich die versicherte Person diesen zu unterziehen.
3    Kommen die versicherte Person oder andere Personen, die Leistungen beanspruchen, den Auskunfts- oder Mitwirkungspflichten in unentschuldbarer Weise nicht nach, so kann der Versicherungsträger auf Grund der Akten verfügen oder die Erhebungen einstellen und Nichteintreten beschliessen. Er muss diese Personen vorher schriftlich mahnen und auf die Rechtsfolgen hinweisen; ihnen ist eine angemessene Bedenkzeit einzuräumen.
und 61
SR 830.1 Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
ATSG Art. 61 Verfahrensregeln - Das Verfahren vor dem kantonalen Versicherungsgericht bestimmt sich unter Vorbehalt von Artikel 1 Absatz 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 20. Dezember 196846 nach kantonalem Recht. Es hat folgenden Anforderungen zu genügen:
a  Das Verfahren muss einfach, rasch und in der Regel öffentlich sein.
b  Die Beschwerde muss eine gedrängte Darstellung des Sachverhaltes, ein Rechtsbegehren und eine kurze Begründung enthalten. Genügt sie diesen Anforderungen nicht, so setzt das Versicherungsgericht der Beschwerde führenden Person eine angemessene Frist zur Verbesserung und verbindet damit die Androhung, dass sonst auf die Beschwerde nicht eingetreten wird.
c  Das Versicherungsgericht stellt unter Mitwirkung der Parteien die für den Entscheid erheblichen Tatsachen fest; es erhebt die notwendigen Beweise und ist in der Beweiswürdigung frei.
d  Das Versicherungsgericht ist an die Begehren der Parteien nicht gebunden. Es kann eine Verfügung oder einen Einspracheentscheid zu Ungunsten der Beschwerde führenden Person ändern oder dieser mehr zusprechen, als sie verlangt hat, wobei den Parteien vorher Gelegenheit zur Stellungnahme sowie zum Rückzug der Beschwerde zu geben ist.
e  Rechtfertigen es die Umstände, so können die Parteien zur Verhandlung vorgeladen werden.
f  Das Recht, sich verbeiständen zu lassen, muss gewährleistet sein. Wo die Verhältnisse es rechtfertigen, wird der Beschwerde führenden Person ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt.
fbis  Bei Streitigkeiten über Leistungen ist das Verfahren kostenpflichtig, wenn dies im jeweiligen Einzelgesetz vorgesehen ist; sieht das Einzelgesetz keine Kostenpflicht bei solchen Streitigkeiten vor, so kann das Gericht einer Partei, die sich mutwillig oder leichtsinnig verhält, Gerichtskosten auferlegen.
g  Die obsiegende Beschwerde führende Person hat Anspruch auf Ersatz der Parteikosten. Diese werden vom Versicherungsgericht festgesetzt und ohne Rücksicht auf den Streitwert nach der Bedeutung der Streitsache und nach der Schwierigkeit des Prozesses bemessen.
h  Die Entscheide werden, versehen mit einer Begründung und einer Rechtsmittelbelehrung sowie mit den Namen der Mitglieder des Versicherungsgerichts schriftlich eröffnet.
i  Die Revision von Entscheiden wegen Entdeckung neuer Tatsachen oder Beweismittel oder wegen Einwirkung durch Verbrechen oder Vergehen muss gewährleistet sein.
lit. c ATSG) trotz frühzeitiger Vorbringen nicht getroffen worden. Weil die formellen Anforderungen an eine Einsprache äusserst gering sind (E. 2), darf hier unmittelbar nach Beginn der Einsprachfrist gegen die Rückforderungsverfügung nicht leichthin von einem bewussten Einspracheverzicht gegen die Rückforderung und einem vorzeitigen Erlassgesuch ausgegangen werden. Deshalb wäre im Rahmen der Instruktion des "Erlassgesuches" vom 2. September 2011 mit den Betroffenen abzuklären gewesen, welche Qualität dem Schreiben genau zuzumessen war (Einsprache oder Erlassgesuch oder beides kombiniert). Entsprechend wäre dann über die Rückforderung im Einspracheentscheid zu befinden gewesen bzw. über die Verweigerung eines Erlasses zu verfügen. Die Sache wird unter Aufhebung des Einspracheentscheides vom 20. April 2012 und des vorinstanzlichen Entscheides vom 8. August 2012 an den Beschwerdegegner zurückgewiesen, damit er die Eingabe
vom 2. September 2011 als Einsprache gegen die Rückforderungsverfügung vom 31. August 2011 behandelt. Er wird dabei auch die seither dargelegten Aspekte zur Berechnungsweise der (allfälligen) Rückforderung mitberücksichtigen.

6.
Abschliessend bleibt festzustellen, dass das Bestehen der Versicherung bei der Rentenanstalt/Swiss Life in den Akten der AHV/IV bereits seit 1991 dokumentiert war (vgl. am 30. Januar 1991 eingegangenes Formular zur generellen Überprüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse per 1. Januar 1991; Aktennotizen der AHV-Gemeindestelle vom 16. April 1991 und 24. Mai 1991; Bestätigung der Swiss Life vom 27. März 1991 mit beigelegter Police 8911.1990). Aus der genannten Police geht auch hervor, dass eine Zusatzversicherung bei Erwerbsunfähigkeit abgeschlossen war.

7.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem unterliegenden Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 66 Erhebung und Verteilung der Gerichtskosten - 1 Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben.
1    Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben.
2    Wird ein Fall durch Abstandserklärung oder Vergleich erledigt, so kann auf die Erhebung von Gerichtskosten ganz oder teilweise verzichtet werden.
3    Unnötige Kosten hat zu bezahlen, wer sie verursacht.
4    Dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden sowie mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen dürfen in der Regel keine Gerichtskosten auferlegt werden, wenn sie in ihrem amtlichen Wirkungskreis, ohne dass es sich um ihr Vermögensinteresse handelt, das Bundesgericht in Anspruch nehmen oder wenn gegen ihre Entscheide in solchen Angelegenheiten Beschwerde geführt worden ist.
5    Mehrere Personen haben die ihnen gemeinsam auferlegten Gerichtskosten, wenn nichts anderes bestimmt ist, zu gleichen Teilen und unter solidarischer Haftung zu tragen.
Satz 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 8. August 2012 und der Einspracheentscheid des Amts für AHV und IV des Kantons Thurgau vom 20. April 2012 werden aufgehoben.

2.
Die Sache wird zur Behandlung der Eingabe vom 2. September 2011 im Sinne der Erwägungen an den Beschwerdegegner zurückgewiesen.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

4.
Der Beschwerdegegner hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

5.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau zurückgewiesen.

6.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 25. Juni 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Schmutz
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 9C_771/2012
Date : 25. Juni 2013
Published : 09. Juli 2013
Source : Bundesgericht
Status : Unpubliziert
Subject area : Ergänzungsleistungen
Subject : Ergänzungsleistung zur AHV/IV (Rückerstattung; Erlass)


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