Bundesverwaltungsgericht
Tribunal administratif fédéral
Tribunale amministrativo federale
Tribunal administrativ federal


Abteilung V

E-6654/2017

Urteil vom 23. März 2020

Richterin Esther Marti (Vorsitz),

Richterin Jeannine Scherrer-Bänziger,
Besetzung
Richter Jean-Pierre Monnet,

Gerichtsschreiber Peter Jaggi.

A._______, geboren angeblich am (...),

Afghanistan,

vertreten durch lic. iur. Gabriella Tau, Caritas Suisse,
Parteien
Bureau de consultation juridique,

(...),

Beschwerdeführer,

gegen

Staatssekretariat für Migration (SEM),

Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung

Gegenstand (Dublin-Verfahren);

Verfügung des SEM vom 8. November 2017 / N (...).

Sachverhalt:

A.

A.a Der Beschwerdeführer verliess Afghanistan eigenen Angaben zufolge im Jahr (...) und gelangte am 24. Juni 2017 in die Schweiz, wo er gleichentags um Asyl nachsuchte.

A.b Am 6. Juli 2017 wurde beim Beschwerdeführer im Auftrag des SEM eine radiologische Untersuchung (Knochenaltersbestimmung nach der Methode von Greulich und Pyle) durchgeführt. Sie ergab ein Knochenalter von neunzehn Jahren oder mehr.

A.c Am 13. Juli 2017 wurde der Beschwerdeführer im Empfangs- und Verfahrenszentrum B._______ summarisch zu seiner Person befragt (BzP; Protokoll in den SEM-Akten A12/13). Dabei wurde ihm das rechtliche Gehör zu seiner Registrierung als volljährige Person (mit hypothetischem Geburtsdatum 1. Januar 1999), zur mutmasslichen Zuständigkeit Bulgariens für die Durchführung des Asyl- und Wegweisungsverfahrens sowie zum medizinischen Sachverhalt gewährt. Der Beschwerdeführer führte aus, er sei (...) Jahre alt. Er könne als Beleg für sein Alter seine Tazkira beibringen. Er wolle nicht nach Bulgarien zurück und er sei, abgesehen davon, dass er an (...) manchmal Schmerzen habe, gesund.

A.d Am 21. Juli 2017 ersuchte das SEM die bulgarischen Behörden gestützt auf Art. 18 Abs. 1 Bst. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, Abl. L 180/31 vom 29. Juni 2013 (nachfolgend: Dublin-III-VO) um Übernahme des Beschwerdeführers. Dem Übernahmeersuchen legte es den Befund der radiologischen Untersuchung bei und wies darauf hin, dass die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Minderjährigkeit unglaubhaft sei.

Die bulgarischen Behörden liessen sich zum Übernahmeersuchen innert der in Art. 25 Abs. 1 Dublin-III-VO vorgesehenen Frist nicht vernehmen.

A.e Am 25. Juli 2017 reichte der Beschwerdeführer unter anderem eine afghanische Tazkira und eine Geburtsurkunde zu den Akten.

B.
Mit Verfügung vom 8. November 2017 - eröffnet am 20. November 2017 - trat das SEM in Anwendung von Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG (SR 142.31) auf das Asylgesuch nicht ein. Gleichzeitig ordnete es die Wegweisung aus der Schweiz nach Bulgarien an und forderte den Beschwerdeführer auf, die Schweiz spätestens am Tag nach Ablauf der Beschwerdefrist zu verlassen, ansonsten er inhaftiert und unter Zwang nach Bulgarien zurückgeführt werde. Den Kanton C._______ beauftragte es mit dem Vollzug der Wegweisung, es verfügte die Aushändigung der editionspflichtigen Akten gemäss Aktenverzeichnis an den Beschwerdeführer und stellte fest, eine allfälligen Beschwerde gegen diese Verfügung habe keine aufschiebende Wirkung.

C.
Mit Rechtmitteleingabe vom 24. November 2017 gelangte der Beschwerdeführer durch seine Rechtsvertreterin an das Bundesverwaltungsgericht. Er beantragt, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und die Zuständigkeit der Schweiz für die Prüfung seines Asylgesuchs sei festzustellen. Eventualiter sei das Asylgesuch zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen. Die Vollzugsbehörden seien im Rahmen einer vorsorglichen Massnahme anzuweisen, bis zum Entscheid über die Erteilung der aufschiebende Wirkung von Vollzugshandlungen abzusehen, und es sei ihm unter Beiordnung seiner Rechtsvertreterin als Rechtsbeiständin die unentgeltliche Prozessführung zu gewähren. Als Beilagen liess er eine Kopie der angefochtenen Verfügung, einen Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) vom 5. September 2017 zur Situation in Bulgarien, eine Sozialhilfebestätigung vom 24. November 2017, eine E-Mail gleichen Datums sowie eine Abgabequittung der Schweizerischen Post einreichen und stellte eine Vollmacht in Aussicht.

D.
Mit per Telefax übermittelter Verfügung vom 27. November 2017 setzte die Instruktionsrichterin den Vollzug der Überstellung nach Bulgarien gestützt auf Art. 56 VwVG per sofort einstweilen aus.

E.
Mit Eingabe vom 28. November 2017 reichte die Rechtsvertreterin die in Aussicht gestellte Vollmacht zu den Akten.

F.
Mit Zwischenverfügung vom 30. November 2017 hiess die Instruktionsrichterin unter Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses die Anträge auf Erteilung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde und auf Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung gut. Den Antrag auf Gewährung der anwaltlichen Rechtsverbeiständung im Sinne von Art. 65 Abs. 2 VwVG wies sie ab, und sie lud die Vorinstanz ein, sich zur Beschwerde und insbesondere auch zum Bericht der SFH vernehmen zu lassen.

G.

Die Vorinstanz beantragte in ihrer Vernehmlassung vom 14. Dezember 2017 die Abweisung der Beschwerde.

H.
Mit Eingabe vom 17. Januar 2018 liess der Beschwerdeführer innert der am 9. Januar 2018 verlängerten Frist für die Abgabe einer Replik das Original seiner Tazkira und ein Bestätigungsschreiben des Ältestenrates seines Herkunftsdorfes mit Briefumschlag einreichen und darum ersuchen, diese Dokumente von Amtes wegen zu übersetzen.

I.

I.a Mit Eingabe vom 21. Januar 2019 reichte die Rechtsvertreterin mit ergänzenden Ausführungen den Asylentscheid der bulgarischen Behörden vom (...) 2017 und das dazugehörige Anhörungsprotokoll vom (...) 2017 zu den Akten. Des Weiteren ersuchte sie um wiedererwägungsweise Gewährung der amtlichen Rechtsverbeiständung.

I.b Mit separater Eingabe gleichen Datums liess der Beschwerdeführer einen medizinischen Bericht vom 6. Dezember 2018 einreichen, aus dem hervorgehe, dass er während der Haft in Bulgarien (...) worden sei. Zudem habe der behandelnde Psychiater bei ihm (...) diagnostiziert, die einer professionellen Behandlung bedürfe. Er riskiere bei einer Überstellung nach Bulgarien eine Retraumatisierung ohne Zugang zu einer indizierten medizinischen Behandlung. Ein Wegweisungsvollzug nach Bulgarien wäre deshalb aus medizinischen Gründen unzulässig.

J.
Mit Verfügung vom 8. Februar 2019 lud die Instruktionsrichterin die Vorinstanz zu einer ergänzenden Vernehmlassung ein und verlegte den Entscheid über den Antrag auf wiedererwägungsweise Gewährung der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung auf einen späteren Zeitpunkt.

K.
Die Vorinstanz hielt in ihrer ergänzenden Vernehmlassung vom 8. März 2019 an der angefochtenen Verfügung fest und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

L.
Der Beschwerdeführer hielt in seiner Stellungnahme vom 10. April 2019 an den gestellten Rechtsbegehren fest und beantragte die Gutheissung der Beschwerde.

M.
Am 12. November 2019 beantwortete die Instruktionsrichterin eine Verfahrensstandanfrage der Rechtsvertreterin vom 11. November 2019, mit der diese eine Bestätigung betreffend Integrationsbestrebungen ihres Mandanten einreichte.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

1.1 Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das SEM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel - und so auch vorliegend - endgültig (Art. 105 AsylG; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG). Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).

1.2 Am 1. März 2019 ist eine Teilrevision des AsylG in Kraft getreten (AS 2016 3101); für das vorliegende Verfahren gilt das bisherige Recht (vgl. Abs. 1 der Übergangsbestimmungen zur Änderung des AsylG vom 25. September 2015).

1.3 Die Beschwerde ist frist- und formgerecht eingereicht. Der Beschwer-deführer hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung. Er ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 und aArt. 108 Abs. 2 AsylG; Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 Abs. 1 VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2.
Mit Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht können gemäss Art. 106 Abs. 1 AsylG die Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich Missbrauch und Überschreitung des Ermessens, sowie die unrichtige und unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden.

3.

3.1 Auf Asylgesuche wird in der Regel nicht eingetreten, wenn Asylsuchende in einen Drittstaat ausreisen können, der für die Durchführung des Asyl- und Wegweisungsverfahrens staatsvertraglich zuständig ist (Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG). Zur Bestimmung dieses Staates prüft das SEM die Zuständigkeitskriterien gemäss Dublin-III-VO. Führt diese Prüfung zur Feststellung, dass ein anderer Mitgliedstaat für die Behandlung des Asylgesuchs zuständig ist, tritt das SEM, nachdem der betreffende Mitgliedstaat einer Überstellung oder Rücküberstellung zugestimmt hat, auf das Asylgesuch nicht ein.

3.2 Gemäss Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO wird jeder Asylantrag von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates wird eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Asylantrag gestellt wird (Art. 20 Abs. 1 Dublin-III-VO).

Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in jenem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Artikel 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2012/C 326/02, nachfolgend: EU-Grundrechtecharta) mit sich bringen, ist zu prüfen, ob aufgrund dieser Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann. Kann kein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden, wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat zum zuständigen Mitgliedstaat (Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO).

3.3 Jeder Mitgliedstaat kann abweichend von Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO beschliessen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist (Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO; sog. Selbsteintrittsrecht). Sowohl der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist, und der das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates durchführt, als auch der zuständige Mitgliedstaat kann vor der Erstentscheidung in der Sache jederzeit einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aus humanitären Gründen oder zum Zweck der Zusammenführung verwandter Personen aufzunehmen, wobei die betroffenen Personen diesem Vorgehen schriftlich zustimmen müssen (Art. 17 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO; sog. humanitäre Klausel).

4.

4.1 Das SEM führte zur Begründung seines Entscheids im Wesentlichen aus, ein Abgleich mit der europäischen Fingerabdruck-Datenbank (Zentraleinheit Eurodac) habe ergeben, dass der Beschwerdeführer am (...) 2016 in Bulgarien um Asyl nachgesucht habe. Die bulgarischen Behörden hätten innert der festgelegten Frist zum Übernahmeersuchen vom 21. Juli 2017 keine Stellung genommen, weshalb die Zuständigkeit für die Durchführung des Asyl- und Wegweisungsverfahrens am 5. August 2017 an Bulgarien übergegangen sei. Das Resultat der Handknochenanalyse zur Altersbestimmung von neunzehn Jahren oder mehr weiche deutlich von der Altersangabe des Beschwerdeführers ab. Mit der eingereichten Tazkira könne kein gesicherter Identitätsnachweis erbracht werden, weil solche Dokumente bekanntlich leicht gefälscht werden könnten. Sein Verhalten und äusseres Erscheinungsbild entspreche nicht demjenigen einer (...)jährigen Person. Des Weiteren hätten die bulgarischen Behörden dem Übernahmeersuchen (implizit) zugestimmt, was darauf schliessen lasse, dass er auch in Bulgarien als volljährig gelte. Seine im Rahmen des rechtlichen Gehörs gemachten Ausführungen vermöchten die Zuständigkeit Bulgariens nicht zu widerlegen. Die Abnahme von Fingerabrücken von Personen, die illegal in das Hoheitsgebiet eines Dublin-Staates einreisen oder um Asyl nachsuchen würden, stütze sich auf die Eurodac-Verordnung und somit auf eine rechtliche Grundlage. Der Wunsch nach einem weiteren Verbleib in der Schweiz habe keinen Einfluss auf die Zuständigkeit Bulgariens, weil es grundsätzlich nicht Sache der betroffenen Person sei, den zuständigen Staat selber zu bestimmen.

Bulgarien habe die Verfahrens-, Qualifikations- und Aufnahmerichtlinie (2013/32/EU, 2011/95/EU, 2013/33/EU) ohne Beanstandungen seitens der Europäischen Kommission umgesetzt und sei sowohl Signatarstaat des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (FK, SR 0.142.30) als auch der EMRK. Es lägen keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass sich dieser Staat nicht an seine völkerrechtlichen Verpflichtungen halte und das Asyl- und Wegweisungsverfahren nicht korrekt durchführe. Zudem ergäben sich auch keine Hinweise darauf, Bulgarien würde dem Beschwerdeführer dauerhaft die ihm gemäss Aufnahmerichtlinie zustehenden minimalen Lebensbedingungen vorenthalten. Er sei bei einer allfälligen vorübergehenden Einschränkung gehalten, sich nötigenfalls an die bulgarischen Behörden zu wenden und die ihm zustehenden Rechte auf dem Rechtsweg einzufordern. Es sei auch nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bei einer Überstellung nach Bulgarien im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO und Art. 3 EMRK gravierenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, in eine existenzielle Notlage geraten oder ohne Prüfung seines Asylgesuchs und unter Verletzung des Non-Refoulement-Gebots in seinen Heimat- respektive Herkunftsstaat überstellt würde. Ferner lägen weder Gründe gemäss Art. 16 Abs. 1 Dublin-III-VO (Abhängige Personen) noch Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO (Souveränitäts-Klausel) vor, die die Schweiz zur Prüfung des Asylgesuchs verpflichten würden. Aufgrund der Akten lägen auch keine die Anwendung der Souveränitäts-Klausel aus humanitären Gründen (Art. 29a Abs. 3 Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 [AsylV 1, SR 142.311]) rechtfertigenden Umstände vor.

4.2 Der Beschwerdeführer hält diesen Ausführungen in der Rechtsmitteleingabe insbesondere entgegen, aus den Akten gehe hervor, dass er in Bulgarien gestützt auf die eingereichte Tazkira mit dem Geburtsdatum (...) registriert worden sei, womit feststehe, dass er dort als unbegleiteter Minderjähriger gegolten habe. Seine Minderjährigkeit sei trotz der beim SEM eingereichten Tazkira nicht anerkannt worden, was eine unkorrekte Sachverhaltsfeststellung und eine Verletzung des rechtlichen Gehörs darstelle. Des Weiteren führt er unter Hinweis auf den Bericht der SFH und im Internet abrufbare Quellen mit Berichten und Urteilen zur Situation asylsuchender Personen in Bulgarien aus, das Asyl- und Aufnahmesystem Bulgariens weise systemische Schwachstellen auf. Es bestehe für ihn, der von der Türkei herkommend nach Bulgarien eingereist sei, aufgrund des Abkommens zwischen diesen beiden Staaten ein erhebliches Risiko, in die Türkei abgeschoben zu werden. Die Vorinstanz hätte aus humanitären Gründen von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen müssen.

4.3 In der Vernehmlassung hielt die Vorinstanz an der Unglaubhaftigkeit der geltend gemachten Minderjährigkeit des Beschwerdeführers fest. Die bulgarischen Behörden hätten dem Wiederaufnahmeersuchen nicht stillschweigend zugestimmt, wenn sie von seiner Minderjährigkeit ausgegangen wären. Der Bericht der SFH sei ein Dokument mit allgemeinem Charakter, und es sei nicht ersichtlich, inwiefern die in der Beschwerde mit Verweis auf diverse Berichte und Urteile regionaler Gerichte geltend gemachten Mängel allgemeiner Natur im bulgarischen Asylwesen für ihn ein Wegweisungshindernis darstellten. Es obliege dem Beschwerdeführer im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht den Stand seines Asylverfahrens in Bulgarien bekannt zu geben. Gemäss aktuellen Hintergrundberichten sei für sogenannte Dublin-Rückkehrer der Zugang zum Asylverfahren gewährleistet. Sollte das Asylverfahren in Bulgarien bereits abgeschlossen sein, seien die bulgarischen Behörden verpflichtet, dieses wieder aufzunehmen und entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen abzuschliessen. Der Beschwerdeführer habe nicht darzutun vermocht, dass sie sich weigern würden, ihn wieder aufzunehmen und seinen Antrag auf internationalen Schutz unter Einhaltung der Regeln der Verfahrensrichtlinie zu prüfen.

4.4 Der Beschwerdeführer liess in seiner Replik zu seinem Verhalten und äusseren Erscheinungsbild ausführen, der Verfasser der angefochtenen Verfügung sei nicht die gleiche Person, die ihn bei der BzP befragt habe. Der Augenschein stelle bei der Altersbestimmung lediglich ein Indiz dar und sei subjektiv. Da noch keine direkte Bundesanhörung stattgefunden habe, könne sich die Vorinstanz auch kein abschliessendes Bild über die geltend gemachte Minderjährigkeit machen. Insgesamt sei festzuhalten, dass sie den Untersuchungsgrundsatz verletzt, den Sachverhalt nicht korrekt festgestellt und das rechtliche Gehör sowie Art. 3 der Kinderrechtskonvention verletzt habe. Des Weiteren sei unter Verweis auf die zitierten Berichte und den Brief des Direktors der "European Commission Direktorate-General Home Affairs" an die bulgarischen Behörden nochmals festzuhalten, dass er bei einem Wegweisungsvollzug nach Bulgarien eine Kettenabschiebung nach Afghanistan riskiere, wo er einer erheblichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt würde. Ausserdem gehe aus dem letzten Bericht von AIDA (Asylum Information Database) hervor, dass neuere Gesetzesänderungen in Bulgarien zu einer Zunahme von Inhaftierungen asylsuchender Personen geführt habe. Afghanen seien davon besonders betroffen, weil ihre Asylgesuche "a priori" als aussichtslos qualifiziert würden. Zudem sei in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 7. Dezember 2017 (S.F. and others v. Bulgaria [application no. 8138/16]) betreffend eine in Bulgarien inhaftierte irakische Familie festgestellt worden, dass die Haftbedingungen Art. 3 EMRK verletzten.

4.5 Die Vorinstanz hielt in ihrer ergänzenden Vernehmlassung fest, die Differenz zwischen dem vom Beschwerdeführer angegebenen Alter und dem festgestellten Knochenalter betrage mindestens (...) Jahre. Dies sei zwar kein Beweis für seine Volljährigkeit, aber zumindest ein starkes Indiz dafür, dass er wesentlich älter sei als angegeben. Es erstaune ferner, dass das Original der Tazkira erst im Februar 2018 eingereicht worden sei. Dies umso mehr als sie ihm direkt vor seiner Ausreise aus Afghanistan ausgehändigt worden sei. Das SEM gehe deshalb nach wie vor von seiner Volljährigkeit aus. Die bulgarischen Behörden hätten dem Wiederaufnahmeersuchen stillschweigend zugestimmt, weshalb kein Grund bestehe, die Registrierung des Beschwerdeführers durch die bulgarischen Behörden als volljährige Person anzuzweifeln. Hätten sie Zweifel an seiner Volljährigkeit gehabt, wäre das Ersuchen des SEM mit ebendieser Begründung abgelehnt worden.

Zum eingereichten Arztbericht hielt das SEM fest, Bulgarien verfüge über eine ausreichende medizinische Infrastruktur. Für das weitere Dublin-Verfahren sei einzig die Reisefähigkeit ausschlaggebend, die erst kurz vor der Überstellung definitiv beurteilt werde. Zudem trage das SEM dem aktuellen Gesundheitszustand des Beschwerdeführers bei der Organisation der Überstellung nach Bulgarien Rechnung, indem es die dortigen Behörden über seinen Gesundheitszustand und die notwendige medizinische Behandlung informiere. Die neu geltend gemachte Inhaftierung und (...) widersprächen der Aussage des Beschwerdeführers bei der BzP, er sei in Bulgarien (...) Monate lang im Flüchtlingslager D._______ untergebracht gewesen. Der Befürchtung, bei einer Überstellung sofort wieder in Haft genommen zu werden, sei zu entgegnen, dass Bulgarien seit den Gesetzesanpassungen von 2015 vorsehe, dass das Asylverfahren von Dublin-Rückkehrern auf jeden Fall wieder aufgenommen werde, falls es geschlossen worden sei. Bei einem noch hängigen oder abgeschlossenen Asylverfahren kämen die rückkehrenden Personen in eine Asylunterkunft. Es sei deshalb auch nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Bulgarien inhaftiert würde.

4.6 In der Stellungnahme wurde entgegnet, es sei erstaunlich, dass die Vorinstanz weiterhin davon ausgehe, dass der Beschwerdeführer in Bulgarien als volljähriger Asylsuchender registriert worden sei, obwohl die bulgarischen Asylakten das Gegenteil bewiesen. Sie wäre zumindest verpflichtet gewesen, ihre Vermutung der Volljährigkeit mit den bulgarischen Behörden abzuklären. Der Beschwerdeführer sei bei der Einreichung seines Asylgesuchs und zum Zeitpunkt des Übernahmeersuchens an die bulgarischen Behörden minderjährig gewesen. Das SEM habe den Sachverhalt falsch festgestellt und das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers verletzt, wenn es behaupte, er sei in Bulgarien nicht als minderjährige Person anerkannt gewesen. Aus den bulgarischen Asylakten gehe auch hervor, dass die dortigen Behörden nicht in der Lage gewesen seien, sein Asylgesuch korrekt und im Einklang mit den europäischen Standards sowie der Kinderrechtskonvention zu prüfen; er habe in Bulgarien keinen Zugang zu einem rechtsstaatlich korrekten und fairen Asylverfahren gehabt. Er riskiere bei einer Überstellung eine Kettenabschiebung nach Afghanistan und eine Inhaftierung sowie unmenschliche Behandlung. Zudem sei eine Retraumatisierung wahrscheinlich. Er sei eine verletzliche Person, welcher Umstand bei der Überstellungsprüfung wohlwollend berücksichtigt werden müsse. Die Wegweisung nach Bulgarien erweise sich deshalb auch aus medizinischer Sicht als unzulässig. Schliesslich sei das vorliegende Dublin-Verfahren nach fast zwei Jahren als unverhältnismässig lange zu qualifizieren.

5.

Aufgrund der nachstehenden Erwägung 6 kann offen bleiben, ob die Vor-instanz zur Recht von der Volljährigkeit des Beschwerdeführers ausgegangen ist. Offen gelassen werden kann auch, ob die angefochtene Verfügung aus formellen Gründen aufzuheben und an die Vorinstanz zur Korrektur und Weiterführung des blossen Zuständigkeitsverfahrens zurückzuweisen wäre. Schliesslich braucht auch nicht geprüft zu werden, ob die geltend gemachten gesundheitlichen Probleme bei der rechtmässigen Ermessensausübung aus humanitären Gründen zu einem Selbsteintritt führen könnten.

6.

6.1 Das Dublin-System basiert nicht nur auf der Idee, das sogenannte "asylum shopping" (Einleitung paralleler oder einander nachfolgender Asylverfahren in verschiedenen Staaten des Vertragsgebiets) zu verhindern, sondern es soll der antragstellenden Person gleichzeitig einen effektiven Zugang zum Asylverfahren in einem dieser Staaten gewährleisten, und dies innert vernünftiger Frist (vgl. zum historischen Hintergrund des Dublin-Systems BVGE 2010/27 E. 6.4.6.1 und 6.4.6.3). Dem Problem der langen Verfahrensdauer bei Wiederaufnahmeverfahren wurde in der Dublin-III-VO dahingehend Rechnung getragen, dass von einer maximalen erstinstanzlichen Verfahrensdauer von zweiundzwanzig Monaten ausgegangen wird (drei Monate für den Wiederaufnahmeantrag [Art. 23 Dublin-III-VO]; ein Monat für ein Wiederaufnahmegesuch [Art. 25 Dublin-III-VO]; maximale materielle Frist von achtzehn Monaten für den Vollzug des Überstellungsentscheides [Art. 29 Dublin-III-VO]). Ein Beschwerdeverfahren sollte vernünftigerweise höchstens zwölf Monate dauern, womit sich eine maximale Verfahrensdauer von insgesamt vierunddreissig Monaten ergibt. Die Tatsache, dass der Beschwerdeführer am 24. Juni 2017 in der Schweiz um Asyl nachgesucht hatte und sich seither in einem reinen Zuständigkeitsverfahren befindet, ohne dass er effektiven Zugang zum materiellen Asylverfahren erhalten hätte, steht dem im Rahmen des Dublin-Systems gewichtigen Beschleunigungsgebot im heutigen Zeitpunkt entgegen. Diese lange Verfahrensdauer ist nicht dem Beschwerdeführer anzulasten. Das Beschwerdeverfahren ist seit rund achtundzwanzig Monaten hängig und vom Bundesverwaltungsgericht zu verantworten. Zudem dürfte - unbesehen davon, dass die Überstellungsfrist gemäss Art. 29 Dublin-III-VO erst mit dem Entscheid über die Beschwerde zu laufen beginnt (vgl. BVGE 2015/19) - eine weitere Verzögerung unter Umständen auch dadurch zu erwarten sein, dass sich Bulgarien für das vorliegende Verfahren für unzuständig erklären könnte. Ins Gewicht fällt sodann, dass der Beschwerdeführer - selbst wenn von seiner Volljährigkeit zum Zeitpunkt des Einreichens seines Asylgesuchs auszugehen wäre - jung ist. Zudem ergibt sich aus der eingereichten Bestätigung vom 25. September 2019, dass er seit September 2018 einen (...) absolviert, was auf Anpassungsbemühungen schliessen lässt. Zusammenfassend würde es dem Beschleunigungsgebot zuwiderlaufen, im jetzigen Zeitpunkt - insgesamt zweiunddreissig Monate nach der Asylgesuchstellung in der Schweiz - eine Wiederanhebung des Asylverfahrens in einem Drittstaat zu veranlassen (vgl. Urteile des BVGer D-3394/2017 vom 30. August 2019, E-26/2016 vom 16. Januar 2019, E- 1532/2017 vom 8. November 2017, D-6982/2011 vom 9. August 2013 und E-2310/10 vom 2.
September 2010).

6.2 Im Lichte der gesamten Umstände und unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Dublin-III-VO hat die Schweiz im vorliegenden Einzelfall von ihrem Recht auf Selbsteintritt Gebrauch zu machen und sich für die Behandlung des Asylgesuchs des Beschwerdeführers zuständig zu erklären.

7.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde gutzuheissen. Die Verfügung vom 8. November 2017 ist aufzuheben und die Sache ist an das SEM zurückzuweisen mit der Anweisung, das nationale Asyl- und Wegweisungsverfahren durchzuführen und materiell über das Asylgesuch des Beschwerdeführers vom 24. Juni 2017 zu entscheiden.

8.

8.1 Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG). Der mit Zwischenverfügung vom 30. November 2017 gutgeheissene Antrag auf Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung im Sinne von Art.65 Abs. 1 VwVG wird damit gegenstandslos.

8.2 Dem vertretenen Beschwerdeführer ist angesichts seines Obsiegens in Anwendung von Art. 64 VwVG und Art. 7 Abs. 1 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE, SR 173.320.2) eine Entschädigung für die ihm notwendigerweise erwachsenen Parteikosten zuzusprechen. Der Entscheid über den am 21. Januar 2019 erneuerten Antrag auf Gewährung der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung im Sinne von Art. 65 Abs. 2 VwVG wird damit hinfällig. Mangels eingereichter Kostennote sind die notwendigen Parteikosten aufgrund der Akten zu bestimmen (Art. 14 Abs. 2 in fine VGKE) und in Anwendung der genannten Bestimmungen sowie unter Berücksichtigung der massgeblichen Bemessungsfaktoren von Amtes wegen auf Fr. 1'800.- festzulegen.

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2.
Die Verfügung vom 8. November 2017 wird aufgehoben. Die Sache wird an das SEM zurückgewiesen mit der Anweisung, das nationale Asyl- und Wegweisungsverfahren durchzuführen und materiell über das Asylgesuch des Beschwerdeführers vom 24. Juni 2017 zu entscheiden.

3.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

4.
Das SEM hat dem Beschwerdeführer für das Rechtsmittelverfahren eine Parteientschädigung von Fr. 1'800.- auszurichten.

5.
Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.

Die vorsitzende Richterin: Der Gerichtsschreiber:

Esther Marti Peter Jaggi

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Informazioni decisione   •   DEFRITEN
Documento : E-6654/2017
Data : 23. marzo 2020
Pubblicato : 31. marzo 2020
Sorgente : Tribunale amministrativo federale
Stato : Inedito
Ramo giuridico : Allontanamento Dublino (Art. 107a LAsi)
Oggetto : Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren); Verfügung des SEM vom 8. November 2017


Registro di legislazione
CEDU: 3
LAsi: 6  31a  105  106  108
LTAF: 31  32  33  37
LTF: 83
OAsi 1: 29a
PA: 5  48  52  56  63  64  65
TS-TAF: 7  14
Weitere Urteile ab 2000
C_326/02 • L_180/31
Parole chiave
Elenca secondo la frequenza o in ordine alfabetico
bulgaria • stato membro • autorità inferiore • procedura d'asilo • tribunale amministrativo federale • mese • termine • afghanistan • fattispecie • casale • stato di salute • replica • effetto sospensivo • espatrio • originale • stato terzo • d'ufficio • cancelliere • indizio • prato • principio di celerità • contratto con sé stessi • peso • conferimento dell'effetto sospensivo • comportamento • persona interessata • decisione • autorizzazione o approvazione • corte europea dei diritti dell'uomo • potere d'apprezzamento • carta dei diritti fondamentali dell'unione europea • convenzione internazionale • ordinanza sull'asilo • legge sull'asilo • convenzione sullo statuto dei rifugiati • giorno determinante • accoglimento • obbligo di collaborare • conclusioni • rapporto medico • pena privativa della libertà • autorità giudiziaria • motivazione della decisione • incarto • spese di procedura • domanda indirizzata all'autorità • ricorso al tribunale amministrativo federale • illiceità • valutazione del personale • calcolo • cittadinanza svizzera • dichiarazione • iscrizione • esame • attestato • esecuzione • adulto • incombenza • telefax • posto • accertamento dei fatti • impronta digitale • costituzione • famiglia • dolore • parlamento europeo • misura cautelare • presunzione • copia • giorno • entrata nel paese • sopralluogo • durata • ricevimento • autorità cantonale • dubbio • carattere • e-mail • banca dati • lettera • obbligo di edizione di documenti • anticipo delle spese • allegato • i.i. • irak • termine ricorsuale • infrastruttura • esclusione del respingimento
... Non tutti
BVGE
2015/19 • 2010/27
BVGer
D-3394/2017 • D-6982/2011 • E-26/2016 • E-6654/2017
AS
AS 2016/3101
EU Verordnung
604/2013