Bundesverwaltungsgericht
Tribunal administratif fédéral
Tribunale amministrativo federale
Tribunal administrativ federal


Abteilung VI

F-6904/2018

Urteil vom 22. November 2019

Richterin Regula Schenker Senn (Vorsitz),

Richter William Waeber,
Besetzung
Richter Blaise Vuille,

Gerichtsschreiberin Christa Preisig.

1. A._______, geboren am (...),

2. B._______, geboren am(...),

3. C._______, geboren am(...),
Parteien
Iran,

alle vertreten durch Shahryar Hemmaty,

Beschwerdeführende,

gegen

Staatssekretariat für Migration SEM,

Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren);
Gegenstand
Verfügung des SEM vom 16. November 2018 / N (...).

Sachverhalt:

A.
Die Beschwerdeführenden (...) gemäss eigenen Angaben am (...) 2018 (...) von (...) nach Italien, wo sie (...) verbrachten und am (...) 2018 nach Basel gefahren wurden (Akten der Vorinstanz [SEM-act.] A6 Ziff. 5.01 f.; A7 Ziff. 5.01 f.). Am (...) 2018 ersuchten sie hier um Asyl.

B.
Abklärungen der Vorinstanz ergaben, dass Italien den Beschwerdeführenden für den Zeitraum vom (...) 2018 bis zum (...) 2018 gültige Schengen-Visa ausgestellt hatte (SEM-act. A3; A4).

C.
Gestützt auf diese Angaben und Abklärungen gewährte die Vorinstanz den Beschwerdeführenden 1 und 2 anlässlich ihrer Befragungen zur Person (BzP) vom 28. August 2018 das rechtliche Gehör zu einer allfälligen Überstellung nach Italien, das gemäss der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung) (ABl. L 180/31 vom 29. Juni 2013 [Dublin-III-VO]) für die Behandlung ihrer Asylgesuche zuständig sei. Sie gaben an, sie hätten nicht gewusst, dass der Schlepper italienische Visa besorgt habe. In Italien würden Verwandte der Beschwerdeführerin 1 leben, die ihnen etwas antun oder sie töten könnten (SEM-act. A6 Ziff. 8.01; A7 Ziff. 8.01). Die Beschwerdeführerin 1 sei mit einem anderen Mann als dem Beschwerdeführer 2 verheiratet. Die Beschwerdeführerin 3 sei nicht ein eheliches Kind, sondern die gemeinsame aussereheliche Tochter der Beschwerdeführerin 1 und des Beschwerdeführers 2. Alle zusammen hätten sie vor dem Ehemann der Beschwerdeführerin 1 fliehen müssen, da dieser wegen (...) der Beschwerdeführerin 3 einen DNA-Test habe machen wollen, woraufhin er herausgefunden hätte, dass das Mädchen nicht seine leibliche Tochter sei (SEM-act. A6 Ziff. 7.01; A7 Ziff. 7.01; Arztbericht bezüglich die körperliche Behinderung des Mädchens bei den Akten des Bundesverwaltungsgerichts [BVGer-act.] 11).

D.
Am 4. September 2018 ersuchte die Vorinstanz die italienischen Behörden um Übernahme der Beschwerdeführenden gemäss Art. 12 Abs. 2 Dublin-III-VO (SEM-act. A13; A15).

E.
Die italienischen Behörden nahmen innerhalb der festgelegten Frist zum Übernahmeersuchen der Vorinstanz keine Stellung. Am 15. November 2018 stimmten sie jedoch nachträglich zu und sicherten eine Unterbringung der drei Beschwerdeführenden gemäss dem Rundschreiben vom 8. Juni 2015 explizit zu («nucleo familiare»; SEM-act. A17; A18).

F.
Mit Verfügung vom 16. November 2018 - eröffnet am 30. November 2018 (SEM-act. A21) - trat die Vorinstanz nicht auf die Asylgesuche der Beschwerdeführenden ein und verfügte deren Wegweisung nach Italien, das gemäss den Bestimmungen der Dublin-III-VO für die Durchführung der Asyl- und Wegweisungsverfahren zuständig sei (SEM-act. A20).

G.
Hiergegen erhoben die Beschwerdeführenden mit Eingabe vom 5. Dezember 2018 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Sie beantragten, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und die Vorinstanz anzuweisen, auf die Asylgesuche einzutreten. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht beantragten sie die Gewährung der aufschiebenden Wirkung sowie der unentgeltlichen Prozessführung und den Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses. Im Sinn einer superprovisorischen Massnahme seien die Vollzugsbehörden anzuweisen, von einer Überstellung der Beschwerdeführerinnen nach Italien abzusehen, bis das Gericht über den Suspensiveffekt der Beschwerde entschieden habe (BVGer-act. 1).

H.
Am 7. Dezember 2018 verfügte der damals zuständige Instruktionsrichter gestützt auf Art. 56 VwVG einen einstweiligen Vollzugsstopp (BVGer-act. 2).

I.
Mit Eingabe vom 10. Dezember 2018 reichte der Rechtsvertreter diverse Unterlagen (darunter Zeitungsartikel und Berichte von NGOs) zu den Akten (BVGer-act. 3).

J.
Mit Zwischenverfügung vom 14. Dezember 2018 erteilte das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde die aufschiebende Wirkung und hiess das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gut (BVGer-act. 4).

K.
Am 14. Dezember 2018 ergänzte der Rechtsvertreter die Beschwerde (BVGer-act. 5).

L.
Am 23. Januar 2019 reichte die Vorinstanz eine Vernehmlassung ein (BVGer-act. 9).

M.
Die Beschwerdeführenden replizierten mit Eingabe vom 20. Februar 2019 (BVGer-act. 11). Mit Eingabe vom 22. Februar 2019 wiesen sie auf zwei Italien betreffende Berichte des Europarats hin; am 2. April 2019 reichten sie einen weiteren Zeitungsartikel zu den Akten (BVGer-act. 14; 18).

N.
Mit Verfügung vom 28. März 2019 forderte das Bundesverwaltungsgericht die Vorinstanz auf, Kopien der Rundschreiben des italienischen Dublin Office vom 8. Januar 2019 sowie vom 14. Januar 2019 zu den Akten zu reichen sowie Informationen zur Aufnahmesituation Italiens ins Verfahren einzubringen (BVGer-act. 17).

O.
Am 26. April 2019 reichte die Vorinstanz aufforderungsgemäss Kopien der besagten Rundschreiben nach und nahm Stellung zur Aufnahmesituation in Italien (BVGer-act. 21).

P.
Die Beschwerdeführenden machten mit Eingabe vom 11. Juni 2019 Gebrauch von der ihnen eingeräumten Möglichkeit, hierzu Stellung zu nehmen (BVGer-act. 22). Die Vorinstanz liess sich in der Folge nicht mehr vernehmen.

Q.
Am 1. Juli 2019 übernahm die unterzeichnende Richterin das vorliegende Verfahren zufolge Abteilungswechsels des vormalig zuständigen Instruktionsrichters.

R.
Auf den weiteren Akteninhalt wird - soweit rechtserheblich - in den Erwägungen eingegangen.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

1.1 Das Bundesverwaltungsgericht ist zuständig für die Beurteilung von Beschwerden gegen Verfügungen des SEM (Art. 105 AsylG [SR 142.31], Art. 31 und 33 Bst. b VGG). Auf dem Gebiet des Asyls entscheidet es in der Regel - und so auch vorliegend - endgültig (Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG). Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).

1.2 Für das vorliegende Verfahren gilt das bisherige Recht (vgl. Abs. 2 der Übergangsbestimmungen zur Änderung des AsylG vom 25. September 2015).

1.3 Die Beschwerdeführenden sind als Verfügungsadressaten zur Beschwerde legitimiert (Art. 48 Abs. 1 VwVG). Auf die im Übrigen frist- und formgerecht eingereichte Beschwerde ist einzutreten (vgl. aArt. 108 Abs. 2 AsylG sowie Art. 52 Abs. 1 VwVG).

2.

2.1 Mit Beschwerde in Asylsachen kann die Verletzung von Bundesrecht (einschliesslich Missbrauch und Überschreiten des Ermessens) sowie die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).

2.2 Bei Beschwerden gegen Nichteintretensentscheide, mit denen es das SEM ablehnt, das Asylgesuch auf seine Begründetheit hin zu überprüfen (Art. 31a Abs. 1 -3 AsylG), ist die Beurteilungskompetenz der Beschwerdeinstanz grundsätzlich auf die Frage beschränkt, ob die Vorinstanz zu Recht auf das Asylgesuch nicht eingetreten ist (vgl. BVGE 2017 VI/5 E. 3.1; 2012/4 E. 2.2, je m.H.).

3.

3.1 Auf Asylgesuche wird in der Regel nicht eingetreten, wenn Asylsuchende in einen Drittstaat ausreisen können, der für die Durchführung des Asyl- und Wegweisungsverfahrens staatsvertraglich zuständig ist (Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG). Zur Bestimmung des staatsvertraglich zuständigen Staates prüft das SEM die Zuständigkeitskriterien gemäss Dublin-III-VO. Führt diese Prüfung zur Feststellung, dass ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylgesuchs zuständig ist, tritt das SEM, nachdem der betreffende Mitgliedstaat einer Überstellung oder Rücküberstellung zugestimmt hat, auf das Asylgesuch nicht ein (vgl. BVGE 2017 VI/5 E. 6.2).

3.2 Gemäss Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO wird jeder Asylantrag von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates wird eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Asylantrag gestellt wird (Art. 20 Abs. 1 Dublin-III-VO). Im Fall eines sogenannten Aufnahmeverfahrens («take charge») sind die in Kapitel III (Art. 8-15 Dublin-III-VO) genannten Kriterien in der dort aufgeführten Rangfolge (Prinzip der Hierarchie der Zuständigkeitskriterien; vgl. Art. 7 Abs. 1 Dublin-III-VO) anzuwenden, und es ist von der Situation im Zeitpunkt, in dem die betreffende Person erstmals einen Antrag in einem Mitgliedstaat gestellt hat, auszugehen (Art. 7 Abs. 2 Dublin-III-VO). Im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens («take back») findet demgegenüber grundsätzlich keine (erneute) Zuständigkeitsprüfung nach Kapitel III statt (vgl. zum Ganzen BVGE 2017 VI/5 E. 6.2 und 8.2.1 m.H.).

3.3 Der nach dieser Verordnung zuständige Mitgliedstaat ist verpflichtet, die antragstellende Person, die in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, nach Massgabe der Art. 21, 22 und 29 aufzunehmen (Art. 12 Abs. 2 und Art. 18 Abs. 1 Bst. a Dublin-III-VO). Die Dublin-III-VO räumt den Schutzsuchenden kein Recht ein, den ihren Antrag prüfenden Staat selber auszuwählen (vgl. BVGE 2010/45 E. 8.3).

3.4 Die italienischen Behörden liessen das Übernahmeersuchen des SEM vom 4. September 2018 innert der festgelegten Frist zunächst unbeantwortet, womit sie ihre Zuständigkeit implizit anerkannten (vgl. Art. 22 Abs. 2 Dublin-III-VO). Die grundsätzliche Zuständigkeit Italiens ist somit gegeben und wird im Übrigen von den Beschwerdeführenden auch nicht bestritten. Ausserdem stimmten die italienischen Behörden dem Gesuch um Übernahme am 15. November 2018 nachträglich ausdrücklich zu (vgl. vorn Bst. D. und E.).

4.

4.1 Abweichend von Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO kann jeder Mitgliedstaat im Rahmen des sogenannten Selbsteintrittsrechts beschliessen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist (Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO).

4.2 Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO wird im schweizerischen Recht durch Art. 29a Abs. 3 der Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 (AsylV 1, SR 142.311) umgesetzt und konkretisiert. Wie das Bundesverwaltungsgericht in BVGE 2015/9 festhielt, verfügt das SEM bezüglich der Anwendung der Souveränitätsklausel aus humanitären Gründen gestützt auf Art. 29a Abs. 3 AsylV 1 über einen Ermessenspielraum, der es ihm erlaubt, zu ermitteln, ob humanitäre Gründe vorliegen, welche einen Selbsteintritt der Schweiz rechtfertigen. Aufgrund der Kognitionsbeschränkung des Bundesverwaltungsgerichts infolge der Aufhebung von aArt. 106 Abs. 1 Bst. c AsylG muss dieses den genannten Ermessenspielraum der Vorinstanz respektieren. Indes kann das Gericht nach wie vor überprüfen, ob das SEM sein Ermessen gesetzeskonform ausgeübt hat. Dies ist nur dann der Fall, wenn das SEM - bei von der gesuchstellenden Person geltend gemachten Umständen, die eine Überstellung aufgrund ihrer individuellen Situation oder der Verhältnisse im zuständigen Staat problematisch erscheinen lassen - in nachvollziehbarer Weise prüft, ob es angezeigt ist, die Souveränitätsklausel aus humanitären Gründen auszuüben. Dazu muss die Vorin-stanz in ihrer Verfügung wiedergeben, aus welchen Gründen sie auf einen Selbsteintritt aus humanitären Gründen verzichtet. Tut sie dies nicht, liegt eine Ermessensunterschreitung vor (vgl. BVGE 2015/9 E. 7 und 8).

5.

5.1 Die Vorinstanz begründet ihren Entscheid einerseits damit, dass kein Grund für die Annahme bestehe, das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien würden systemische Mängel aufweisen. Es gebe keine Hinweise darauf, dass Italien seinen internationalen Verpflichtungen nicht nachkomme. Gemäss Zirkularschreiben der italienischen Behörden vom 2. Februar 2015, vom 15. April 2015 und vom 8. Juni 2015 seien in Italien spezielle Zentren (SPRAR) für die Unterbringung von Familien mit Kindern vorgesehen (SEM-act. A20). Nach einer Gesetzesänderung vom 6. Dezember 2018 sei das System SPRAR, welches neu SIPROIMI («Sistema di protezione per titolari di protezione internazionale e per minori stranierei non accompagnati») heisse, inskünftig für die Begünstigten internationalen Schutzes, für unbegleitete Minderjährige sowie Personen mit einer neuen humanitären Aufenthaltsbewilligung reserviert. Die italienischen Behörden hätten in einem Zirkularschreiben vom 8. Januar 2019 zugesichert, dass die Anforderungen für eine adäquate Aufnahme sämtlicher Rückkehrer im Dublin-Verfahren sowie die Wahrung der Grundrechte, namentlich der Familieneinheit sowie des Schutzes der Minderjährigen, auch in Zukunft erfüllt seien. Am 14. Januar 2019 habe das italienische Dublin Office zudem bestätigt, dass früher ausgestellte Zustimmungen betreffend die Unterbringung von Familien weiter gültig und die Aufnahme gemäss dem Rundschreiben vom 8. Januar 2019 garantiert seien. Damit komme Italien auch nach Inkrafttreten der auf das «Salvini-Dekret» zurückgehenden Gesetzesänderungen seinen Verpflichtungen nach, die sich aus dem Urteil Tarakhel (Urteil des EGMR Tarakhel vs. Schweiz vom 4. November 2014, Nr. 29217/12) sowie der bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ergeben würden (Einholung von Garantien seitens Italien, dass Familien mit minderjährigen Kindern bei einer Überstellung nicht getrennt werden und Gewährleistung einer kindergerechten Unterbringung). Die italienischen Behörden hätten in ihrer Antwort vom 15. November 2018 zu erkennen gegeben, dass sie die Beschwerdeführenden als Kernfamilie betrachteten, die in einer geeigneten, dem Alter des Kindes gerecht werdenden Aufnahmestruktur untergebracht würden. Schliesslich habe sich die Aufnahmesituation in Italien insgesamt erheblich verbessert. Die Anzahl der verfügbaren freien Plätze im Aufnahmesystem zeige, dass das Risiko für Rückkehrende im Dublin-Verfahren, keine Unterbringungsmöglichkeit vorzufinden, nicht bestehe (vgl. zum Ganzen BVGer-act. 9; 20).

6. Die Beschwerdeführenden machen demgegenüber geltend, nach Erlass des «Salvini-Dekrets» seien die SPRAR geschlossen worden, ohne dass klar sei, wie die neuen Aufnahmestrukturen ausgestaltet würden. Sowohl die politische als auch die finanzielle Lage Italiens sei höchst instabil und der Rechtszugang im Asyl- und Wegweisungsverfahren nur mangelhaft. Zudem sei die Behinderung der Beschwerdeführerin 3 zu berücksichtigen. Dieser (...) seit Geburt (...). Die Vorinstanz habe diesbezüglich jedoch nicht abgeklärt, ob eine Überstellung nach Italien mit dem Kindeswohl gemäss dem Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (nachfolgend KRK, SR 0.107) sowie dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006 (SR 0.109) vereinbar sei. Dem Kind würde in Italien aufgrund seiner Behinderung Diskriminierung drohen und eine adäquate Entwicklung als körperlich eingeschränkter Mensch verwehrt bleiben. Eine Überstellung nach Italien würde gegen Art. 3 EMRK verstossen, da die Schweiz nicht sichergestellt habe, dass die Beschwerdeführenden dort nach der Aufhebung der SPRAR entsprechend den Anforderungen des Völkerrechts untergebracht würden. Die Vorinstanz hätte daher die Ausübung des Selbsteintrittsrechts prüfen müssen (BVGer-act. 1; 5; 22).

7.

7.1 Nach einer Umstrukturierung des italienischen Asylwesens werden Familien und andere verletzliche Personen (ausgenommen unbegleitete Minderjährige), die keinen internationalen Schutz geniessen, nur noch in den Erstaufnahmezentren und Notaufnahmezentren untergebracht (vgl. Asylum Info Database [AIDA], Country Report Italy, Update 2018, S. 56, abrufbar unter https://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_it_2018update.pdf; zuletzt abgerufen im November 2019). Bei den Beschwerdeführenden handelt es sich um ein Paar mit einem vierjährigen Kleinkind. Als solche gehören sie seit den auf das «Salvini-Dekret» erfolgten Gesetzesänderungen nicht mehr zu den Personengruppen, welche Anspruch auf Zuteilung in einem SPRAR- bzw. SIPROIMI-Zentrum haben. Die Zusicherung des italienischen Innenministeriums («nucleo familiare» vom 15. November 2018; SEM-act. A18) vermag nach dem Gesagten die Zweifel, ob sie einer adäquaten Unterbringung zugeführt werden, nicht auszuräumen (vgl. zuletzt Urteil des BVGer F-2438/2019 vom 24. September 2019 E. 6.1; F-4090/2019 vom 22. August 2019 E. 6.3-6.5 m.H. auf Urteil D-1214/2019 vom 1. April 2019 E. 5.5). Vor diesem Hintergrund hätte die Vorinstanz prüfen müssen, ob es angezeigt ist, die Souveränitätsklausel aus humanitären Gründen anzuwenden. Zwar führt sie in der angefochtenen Verfügung im Zusammenhang mit der Souveränitätsklausel allgemein gehaltene, textbausteinartige Erwägungen an. Die Vorinstanz hat sich jedoch nicht konkret und auf den vorliegenden Einzelfall bezogen mit dem vorrangig zu beachtenden Kindeswohl und den im Hinblick auf Italien bestehenden Unsicherheiten bezüglich der konkreten Unterbringungsmodalitäten von Familien mit minderjährigen Kindern sowie deren Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht auseinandergesetzt.

7.2 Zusammenfassend hat die Vorinstanz den Sachverhalt im Hinblick auf die Anwendung der Souveränitätsklausel nicht rechtsgenüglich abgeklärt. Zudem ist sie ihrer Pflicht zur Ermessensausübung nicht nachgekommen und hat mithin ihr Ermessen unterschritten. Sie hätte, wie zuvor ausgeführt, in nachvollziehbarer und auf den vorliegenden Einzelfall bezogener Weise prüfen müssen, ob es in Würdigung der konkreten Umstände tatsächlich angezeigt ist, auf einen Selbsteintritt zu verzichten.

8.
Die Beschwerde erweist sich im Eventualantrag als begründet. Da das Bundesverwaltungsgericht aufgrund der Kognitionsbeschränkung infolge Aufhebung von aArt. 106 Abs. 1 Bst. c AsylG keinen Ermessensentscheid anstelle der Vorinstanz treffen kann und es sich bei der Ermessensüberschreitung um eine Rechtsverletzung handelt (vgl. BGE 132 V 393 E. 3.3), ist die Beschwerde gutzuheissen, die Verfügung vom 8. Mai 2019 aufzuheben und die Sache zur umfassenden Prüfung der Anwendung der Souveränitätsklausel - in Ausübung des gesetzeskonformen Ermessens - an die Vorinstanz zurückzuweisen.

9.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG). Den obsiegenden Beschwerdeführenden ist zulasten der Vorinstanz eine angemessene Parteientschädigung zuzusprechen (vgl. Art. 64 Abs. 1 und 2 VwVG i.V.m. Art. 7 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht ([VGKE, SR 173.320.2]). Mangels Vorliegen einer Kostennote ist deren Höhe gemäss Art. 14 Abs. 2 Satz 2 VGKE auf Grund der Akten festzusetzen. In Berücksichtigung des Umfangs und der Notwendigkeit der Eingaben erscheinen Fr. 1'200.- als angemessen.

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2.
Die angefochtene Verfügung vom 16. November 2018 wird aufgehoben und die Sache im Sinn der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.

3.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

4.
Die Vorinstanz wird verpflichtet, die Beschwerdeführenden für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht mit Fr. 1'200.- zu entschädigen.

5.
Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführenden, das SEM und die kantonale Migrationsbehörde.

Die vorsitzende Richterin: Die Gerichtsschreiberin:

Regula Schenker Senn Christa Preisig

Versand:
Informazioni decisione   •   DEFRITEN
Documento : F-6904/2018
Data : 22. novembre 2019
Pubblicato : 02. dicembre 2019
Sorgente : Tribunale amministrativo federale
Stato : Inedito
Ramo giuridico : Allontanamento Dublino (Art. 107a LAsi)
Oggetto : Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren); Verfügung des SEM vom 16. November 2018


Registro di legislazione
CEDU: 3
LAsi: 6  31a  105  106  108
LTAF: 31  33  37
LTF: 83
OAsi 1: 29a
PA: 48  52  56  63  64
TS-TAF: 7  14
Registro DTF
132-V-393
Weitere Urteile ab 2000
L_180/31
Parole chiave
Elenca secondo la frequenza o in ordine alfabetico
all'interno • anticipo delle spese • assicurazione data • assistenza giudiziaria gratuita • autorità giudiziaria • autorità inferiore • autorizzazione o approvazione • coniuge • consiglio d'europa • contratto con sé stessi • convenzione internazionale • convenzione sui diritti del fanciullo • copia • danno alla salute fisica • decisione d'irricevibilità • decisione • difetto della cosa • diritto svizzero • discendente • domanda indirizzata all'autorità • donatore • dubbio • effetto sospensivo • entrata in vigore • errore d'apprezzamento • esame • esame • espatrio • famiglia • fattispecie • figlio • incontro • interesse del figlio • invalidità • iran • istante • italiano • legge sull'asilo • misura supercautelare • ordinanza sull'asilo • parlamento europeo • passatore • permesso di dimora • potere d'apprezzamento • prato • procedura d'asilo • quesito • rapporto medico • rappresentanza processuale • riporto • risposta al ricorso • ristrutturazione • spese di procedura • stato membro • stato terzo • termine • trattario • tribunale amministrativo federale • uomo • violazione del diritto • vita
BVGE
2017-VI-5 • 2015/9 • 2010/45
BVGer
D-1214/2019 • F-2438/2019 • F-4090/2019 • F-6904/2018
EU Verordnung
604/2013