Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
12T 3/2011
Entscheid vom 21. Dezember 2011
Verwaltungskommission
Besetzung
Bundesrichter L. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kolly, Bundesrichterin Niquille,
Generalsekretär Tschümperlin.
Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Herr lic. iur. Tarig Hassan,
Anzeigerin,
gegen
Bundesverwaltungsgericht,
Verwaltungskommission, Postfach, 3000 Bern 14.
Gegenstand
Aufsichtsanzeige (BGG); Rechtsverzögerung.
Sachverhalt:
A.
Am 10. September 2007 reichte X.________ ein Asylgesuch in der Schweiz ein. Das Bundesamt für Migration lehnte das Asylgesuch am 4. März 2008 ab. Die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht am 13. Mai 2009 ab.
Am 13. Oktober 2009 wies das Bundesamt für Migration ein Gesuch um Wiedererwägung des Wegweisungsvollzugs ab und stellte fest, dass der Entscheid vom 4. März 2008 rechtskräftig und vollstreckbar ist. Am 16. Oktober 2009 schrieb das Bundesverwaltungsgericht eine Beschwerde, die sich gegen eine Zwischenverfügung des Bundesamtes für Migration vom 7. September 2009 im Wiedererwägungsverfahren richtete, als gegenstandslos geworden ab. Mit Urteil vom 10. November 2009 stellte das Bundesverwaltungsgericht indessen die Nichtigkeit des Wiedererwägungsentscheids des Bundesamtes für Migration vom 13. Oktober 2009 fest und schrieb das dagegen gerichtete Beschwerdeverfahren als gegenstandslos geworden ab, weil es sich nicht um ein Wiedererwägungs-, sondern um ein Revisionsverfahren handelte, das im vorliegenden Fall in die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts fiel.
B.
Am 18. November 2009 reichte X.________ beim Bundesverwaltungsgericht ein Revisionsgesuch ein. Das Bundesverwaltungsgericht verfügte am 1. Dezember 2009, dass der Vollzug der Wegweisung bis zum Abschluss des Verfahrens ausgesetzt wird und die Gesuchstellerin dessen Ausgang in der Schweiz abwarten kann.
Am 9. März 2010 ersuchte X.________ unter Hinweis auf das Arbeitsverbot und ihre Benachteiligungen in verschiedenen Bereichen (Sozialhilfe, Besitz eines N-Ausweises) um beschleunigte Behandlung des Revisionsgesuchs. Das Bundesverwaltungsgericht teilte ihr am 3. Mai 2010 mit, dass ihr Revisionsgesuch im Rahmen der gesetzten Prioritäten behandelt werde. Angesichts der grossen Anzahl pendenter vorrangiger Verfahren könne kein genauer Zeitpunkt für den Verfahrensabschluss genannt werden.
Mit Eingabe vom 14. Juli 2011 ersuchte X.________ um eine Entscheidung bis zum 30. August 2011. Andernfalls müsste sie Rechtsverzögerungsbeschwerde erheben.
C. Am 29. August 2011 reichte X.________ beim Bundesgericht Rechtsverzögerungsbeschwerde ein.
Die Zweite öffentlich-rechtliche Abteilung trat auf die Beschwerde mit Urteil vom 30. August 2011 nicht ein und überwies die Eingabe vom 29. August 2011 an die Verwaltungskommission des Bundesgerichts als administrative Aufsichtsbehörde über das Bundesverwaltungsgericht.
Das Bundesverwaltungsgericht hat sich mit Eingabe vom 30. September 2011 zur Aufsichtsanzeige vernehmen lassen.
Erwägungen:
1.
Die Rechtsprechung ist von der Aufsicht des Bundesgerichts ausgenommen (Art. 2 Abs. 2
SR 173.110.132 Reglement des Bundesgerichts vom 11. September 2006 betreffend die Aufsicht über das Bundesstrafgericht, das Bundesverwaltungsgericht und das Bundespatentgericht (Aufsichtsreglement des Bundesgerichts, AufRBGer) - Aufsichtsreglement des Bundesgerichts AufRBGer Art. 2 Gegenstand und Zweck der Aufsicht - 1 Der Aufsicht unterstehen alle Bereiche der Geschäftsführung, insbesondere die Gerichtsleitung, die Organisation, die Fallerledigung, das Personal- und Finanzwesen sowie der Datenschutz.4 |
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1 | Der Aufsicht unterstehen alle Bereiche der Geschäftsführung, insbesondere die Gerichtsleitung, die Organisation, die Fallerledigung, das Personal- und Finanzwesen sowie der Datenschutz.4 |
2 | Ausgenommen von der Aufsicht ist die Rechtsprechung. |
3 | Die Aufsicht bezweckt die gesetzmässige, zweckmässige und haushälterische Aufgabenerfüllung der beaufsichtigten Gerichte. |
1.1 Als Minimalanforderung an ein rechtsstaatliches Verfahren gewährleistet Art. 29 Abs. 1
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist. |
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1 | Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist. |
2 | Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör. |
3 | Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. |
1.2 Für die Rechtsuchenden ist es unerheblich, auf welche Gründe eine übermässige Verfahrensdauer zurückzuführen ist; entscheidend ist ausschliesslich, dass die Behörde nicht oder nicht fristgerecht handelt. Bei der Feststellung einer übermässigen Verfahrensdauer ist daher zu prüfen, ob sich die konkreten Umstände, die zur Verlängerung des Verfahrens geführt haben, objektiv rechtfertigen lassen (BGE 125 V 188 E. 2a).
2.
Im vorliegenden Fall hat das Bundesverwaltungsgericht am 1. Dezember 2009 verfügt, dass der Vollzug der Wegweisung bis zum Abschluss des Verfahrens ausgesetzt wird und die Gesuchstellerin dessen Ausgang in der Schweiz abwarten kann. Weitere Instruktionsmassnahmen sind seither nicht ergangen. Das Bundesverwaltungsgericht ist somit während 21 Monaten untätig geblieben, während deren es das Instruktionsverfahren nicht weitergeführt hat.
2.1 Im Asyl- und Ausländerwesen ist über eine grosse Anzahl von Fällen zu entscheiden. Chronische Überlastung bewahrt jedoch nicht vor dem Vorwurf der Rechtsverzögerung (BGE 130 I 312 E. 5.2). Dies gilt auch für die Beschwerdebehörde, die zwangsläufig gewisse Prioritäten zu setzen hat. Dabei steht ihr naturgemäss ein grosser Ermessensspielraum zu. Die Aufsichtsbehörde greift nur ein, wenn der äussere Gang des Verfahrens dem ordentlichen Geschäftsablauf offensichtlich nicht mehr entspricht. Aufgrund der Vielzahl der Verfahren, welche die Behörde gleichzeitig zu behandeln hat, sind gewisse Zeiten, während deren ein Verfahren ruht, normal und nicht zu beanstanden. Solche Phasen müssen allerdings auf nachvollziehbaren Gründen beruhen und dürfen eine den Umständen des Falles angemessene Dauer nicht überschreiten. In der bisherigen Praxis des Bundesgerichts als administrative Aufsichtsbehörde ist ein Verfahren, das ohne objektiven Grund während 28 Monaten nicht aktiv weitergeführt worden ist (12T 3/2007), als nicht mehr ordnungsgemäss betrachtet worden. Ebenso hat das Bundesgericht schon einzelne inaktive Perioden im Instruktionsverfahren von einem Jahr, gefolgt von einer weiteren inaktiven Periode von sieben Monaten oder inaktive
Perioden von zehn Monaten oder siebeneinhalb Monaten, um bei einer Behörde im Ausland Erkundigungen einzuholen, als unzulässig lange bezeichnet, wenn nicht besondere Umstände vorliegen (12T 1/2007, E. 4.1 und 4.3).
2.2 Das Bundesverwaltungsgericht weist in seiner Vernehmlassung darauf hin, an der Sitzung der Abteilung V vom 4. Januar 2011 sei als Zielvorgabe beschlossen worden, sämtliche Verfahren mit Eingangsdatum im und vor dem Jahre 2007 sowie den Grossteil der Verfahren aus dem Jahre 2008 (sogenannte Altfälle) bis Ende 2011 zu erledigen. An der gleichen Sitzung sei folgende Prioritätenordnung der im Jahre 2011 zu behandelnden Fälle verabschiedet worden:
1. Verfahren mit kurzen gesetzlichen Behandlungsfristen;
2. Verfahren mit Eingangsdatum vor 2009;
3. Ausserordentliche Verfahren;
4. Andere prioritär zu behandelnde Fälle;
5. Offensichtlich begründete bzw. unbegründete Beschwerden;
6. Übrige Verfahren.
Das vorliegende Revisionsgesuch sei der dritten Prioritätsstufe zuzuordnen. Zuvor seien von der vorsitzenden Richterin noch zwölf Verfahren mit Eingangsdatum vor 2009 zu behandeln. Im hier interessierenden Revisionsverfahren bilde die Staatsangehörigkeit die Kernfrage. Mit dem Urteil vom 13. Mai 2009 habe das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, dass die Anzeigerin nicht die eritreische Staatsangehörigkeit besitze, sondern Staatsbürgerin von Äthiopien sei. Eritreischen Staatsangehörigen, die das Land illegal verliessen, drohten bei einer Rückkehr asylrelevante Nachteile. Fallkonstellationen mit äthiopischen und eritreischen Berührungspunkten gehörten zu den schwierigsten Sachverhaltsfeststellungen. Mit dem Revisionsgesuch vom 18. November 2009 habe die Anzeigerin eine am 31. Juli 2009 ausgestellte eritreische Identitätskarte eingereicht. Zu diesem Beweisstück stehe eine forensische Abklärung im Raum. In rechtlicher Hinsicht sei zudem die von den Abteilungen des Bundesverwaltungsgerichts noch nicht entschiedene Frage zu beurteilen, ob nachträglich entstandene Beweise für vorbestandene Tatsachen bedeutsam sein könnten. Gefahr sei keine im Verzug. Die von der Anzeigerin beklagten Bedingungen träfen alle Gesuchstellenden in einem
hängigen Revisionsverfahren. Eine vorrangige Behandlung des hier fraglichen Revisionsverfahrens würde gegen die Rechtsgleichheit verstossen; durch Androhung von aufsichtsrechtlichen Rechtsmitteln dürfe keine vorrangige Erledigung willkürlich gewählter Verfahren erzwungen werden.
2.3 Die vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellte Prioritätenliste als solche ist nachvollziehbar und daher aufsichtsrechtlich nicht zu beanstanden. Dem Bundesverwaltungsgericht ist namentlich darin beizupflichten, dass neben den Verfahren mit kurzen gesetzlichen Behandlungsfristen vor allem die alten Asylfälle rasch abzubauen sind.
2.4 Der vom Bundesverwaltungsgericht geltend gemachte Aufwand zur notwendigen Klärung von tatsächlichen und rechtlichen Fragen bedeutet, dass für das hier fragliche Revisionsverfahren ein gewisser Zeitbedarf veranschlagt wird. Mit der notwendigen Arbeit ist indessen noch nicht begonnen worden. Eine inaktive Periode von 21 Monaten ist unbesehen allfälliger anderer ebenfalls überzeitiger Verfahren grundsätzlich zu lange.
2.5 Im hängigen Revisionsverfahren geht es einzig um ein neues Beweismittel, das die asylsuchende Anzeigerin zur rechtskräftig entschiedenen Frage ihrer Nationalität eingereicht hat. Die neue eritreische Identitätskarte datiert vom 31. Juli 2009, während das rechtskräftige Urteil am 13. Mai 2009 ergangen ist. Auf das Revisionsverfahren finden gemäss Art. 45
SR 221.229.1 Bundesgesetz vom 2. April 1908 über den Versicherungsvertrag (Versicherungsvertragsgesetz, VVG) - Versicherungsvertragsgesetz VVG Art. 45 - 1 Ist vereinbart worden, dass der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte wegen Verletzung einer Obliegenheit von einem Rechtsnachteil betroffen wird, so tritt dieser Nachteil nicht ein, wenn: |
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1 | Ist vereinbart worden, dass der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte wegen Verletzung einer Obliegenheit von einem Rechtsnachteil betroffen wird, so tritt dieser Nachteil nicht ein, wenn: |
a | die Verletzung den Umständen nach als eine unverschuldete anzusehen ist; oder |
b | der Versicherungsnehmer nachweist, dass die Verletzung keinen Einfluss auf den Eintritt des befürchteten Ereignisses und auf den Umfang der vom Versicherungsunternehmen geschuldeten Leistungen gehabt hat.85 |
2 | Die wegen Zahlungsunfähigkeit des Prämienschuldners versäumte Prämienzahlung gilt nicht als unverschuldet. |
3 | Wo der Vertrag oder dieses Gesetz den Bestand eines Rechtes aus der Versicherung an die Beobachtung einer Frist knüpft, ist der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte befugt, die ohne Verschulden versäumte Handlung sofort nach Beseitigung des Hindernisses nachzuholen. |
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz BGG Art. 123 Andere Gründe - 1 Die Revision kann verlangt werden, wenn ein Strafverfahren ergeben hat, dass durch ein Verbrechen oder Vergehen zum Nachteil der Partei auf den Entscheid eingewirkt wurde; die Verurteilung durch das Strafgericht ist nicht erforderlich. Ist das Strafverfahren nicht durchführbar, so kann der Beweis auf andere Weise erbracht werden. |
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1 | Die Revision kann verlangt werden, wenn ein Strafverfahren ergeben hat, dass durch ein Verbrechen oder Vergehen zum Nachteil der Partei auf den Entscheid eingewirkt wurde; die Verurteilung durch das Strafgericht ist nicht erforderlich. Ist das Strafverfahren nicht durchführbar, so kann der Beweis auf andere Weise erbracht werden. |
2 | Die Revision kann zudem verlangt werden: |
a | in Zivilsachen und öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, wenn die ersuchende Partei nachträglich erhebliche Tatsachen erfährt oder entscheidende Beweismittel auffindet, die sie im früheren Verfahren nicht beibringen konnte, unter Ausschluss der Tatsachen und Beweismittel, die erst nach dem Entscheid entstanden sind; |
b | in Strafsachen, wenn die Voraussetzungen von Artikel 410 Absätze 1 Buchstaben a und b sowie 2 StPO108 erfüllt sind; |
c | in Sachen, die Ansprüche auf Ersatz von nuklearem Schaden betreffen, aus den in Artikel 5 Absatz 5 Kernenergiehaftpflichtgesetz vom 13. Juni 2008110 genannten Gründen. |
daher nur einen geringen Beweiswert hätten. All diese Umstände weisen keine Besonderheiten auf, die es vertretbar machen, 21 Monate verstreichen zu lassen, ohne mit der Bearbeitung des Falles zu beginnen. Eine allfällige forensische Abklärung der neu eingereichten Identitätskarte ändert daran nichts.
2.6 Der Geschäftsgang kann im vorliegenden Verfahren somit nicht als ordnungsgemäss bezeichnet werden. Er entspricht den rechtsstaatlichen Anforderungen an eine Behandlung innert angemessener Frist nicht.
Das Bundesverwaltungsgericht ist demzufolge aufzufordern, das Verfahren beförderlich zu Ende zu führen. Wenn nötig sind organisatorische Massnahmen zu treffen, um einen verzögerungsfreien Ablauf der Verfahren zu sichern.
3.
Mangels Parteistellung sind Begehren um unentgeltliche Rechtspflege im Aufsichtsverfahren gegenstandslos.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Es wird festgestellt, dass das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zu lange dauert.
2.
Das Bundesverwaltungsgericht wird aufgefordert, das Verfahren beförderlich abzuschliessen und zügig einen Entscheid zu fällen.
3.
Es werden keine Kosten erhoben und keine Entschädigungen zugesprochen.
4.
Dieser Entscheid wird dem Bundesverwaltungsgericht schriftlich mitgeteilt. Der Anzeigerin wird eine Orientierungskopie zugestellt.
Lausanne, 21. Dezember 2011
Im Namen der Verwaltungskommission
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Generalsekretär
Lorenz Meyer Paul Tschümperlin