[AZA 7]
U 5/01 + U 7/01 Vr
II. Kammer
Bundesrichter Meyer, Rüedi und nebenamtlicher Richter Weber; Gerichtsschreiber Signorell
Urteil vom 15. Oktober 2001
in Sachen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdeführerin,
gegen
S.________, 1946, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Willy Blättler, Habsburgerstrasse 20, 6003 Luzern,
und
S.________, 1946, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Willy Blättler, Habsburgerstrasse 20, 6003 Luzern,
gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdegegnerin,
und
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern
A.- Der 1946 geborene S.________ war bei der Firma R.________ als Betonbohrer und -fräser angestellt und bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Berufsunfällen versichert, als er sich am 27. Juli 1989 durch ein abgetrenntes Betonelement eine Schulterkontusion rechts und eine Scapulafraktur zuzog. Nachdem die Verletzungen am 31. Oktober 1990 operativ behandelt worden waren, konnte er am 12. März 1991 die Arbeit zu 50 % wieder aufnehmen (Bericht des Dr. M.________ vom 1. Juni 1991). Zur Abklärung weiterhin bestehender Beschwerden hielt sich S.________ vom 30. Juli bis 6. September 1991 in der Rehabilitationsklinik X.________ auf. Diagnostiziert wurde eine chronische, vorwiegend belastungsabhängige Cervicobrachialgie rechts, eine Bewegungseinschränkung, Tendomyosen an Halswirbelsäule (HWS) und Schultergürtel rechts sowie Zeichen für eine neurovasculäre Schultergürtelkompression. Die Arbeit als Betonfräser werde S.________ nie mehr ausüben können (Austrittsbericht vom 13. September 1991). Da die Wiedereingliederung nicht erreicht werden konnte, fanden weitere medizinische Abklärungen (vor allem am Spital Y.________) statt. Am 4. Dezember 1992 wurde S.________ erneut operiert. Nach einer ersten
Abschlussuntersuchung durch Kreisarzt Dr. med. A.________ am 10. August 1993 schienen wegen einer protrahierenden Schmerzsymptomatik zusätzliche medizinische Abklärungen sowie weitere Hospitalisationen im Spital Y.________ angezeigt. Auch einer zweiten Abschlussuntersuchung vom 19. August 1994 durch Kreisarzt Dr. A.________ schlossen sich weitere stationäre Aufenthalte im Spital Y.________ an. Am 29. Mai 1995 fand die ärztliche Beurteilung durch Dr. med. B.________, Spezialarzt FMH für Chirurgie, SUVA-Abteilung Unfallmedizin, statt. Mit Verfügung vom 28. Juni 1995 gewährte die SUVA eine Invalidenrente ab 1. Dezember 1994 bei einer Erwerbsunfähigkeit von 30 %. Nachdem im Einspracheverfahren neue ärztliche Berichte zugezogen worden waren, führte Kreisarzt Dr. med. I.________ am 9. März 1998 eine dritte ärztliche Abschlussuntersuchung durch. Diese führte dazu, dass die SUVA ihre erste Verfügung vom 28. Juni 1995 mit (neuer) Verfügung vom 6. Juli 1998 aufhob und S.________ ab 1. Dezember 1994 bei einer Erwerbsunfähigkeit von 40 % eine Invalidenrente zusprach. Mit Entscheid vom 30. November 1998 wies die SUVA eine dagegen erhobene Einsprache ab.
B.- Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern hiess eine gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde mit Urteil vom 22. November 2000 teilweise gut und verpflichtete die SUVA, S.________ ab 1. Dezember 1994 eine Invalidenrente bei einer Invalidität von 47 % auszurichten.
C.- S.________ (im Folgenden Versicherter genannt) und die SUVA führen Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Der Versicherte beantragt die Aufhebung des kantonalen Entscheides und die Rückweisung an die SUVA zur Durchführung eines Belastungstests, eventuell sei ein Belastungstest durch das Eidgenössische Versicherungsgericht anzuordnen; eventuell sei dem Versicherten ab 1. Dezember 1994 eine Invalidenrente von 60 % auszurichten. Die SUVA beantragt in ihrer Verwaltungsgerichtsbeschwerde, der kantonale Entscheid sei insofern aufzuheben, als er sie verpflichte, dem Versicherten ab 1. Dezember 1994 eine Invalidenrente bei einer Invalidität von 47 % auszurichten und eine Parteientschädigung von Fr. 1451.25 zu bezahlen.
Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) lässt sich nicht vernehmen.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- Da den beiden Verwaltungsgerichtsbeschwerden derselbe Sachverhalt zu Grunde liegt, sich die gleichen Rechtsfragen stellen und die Rechtsmittel den nämlichen vorinstanzlichen Entscheid betreffen, rechtfertigt es sich, die beiden Verfahren zu vereinigen und in einem einzigen Urteil zu erledigen (BGE 123 V 215 Erw. 1, 120 V 466 Erw. 1 mit Hinweisen; Poudret, Commentaire de la loi fédérale d'organisation judiciaire, Bd. 1, S. 343 unten f.).
2.- Der Umfang der Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts in Beschwerdesachen ergibt sich aus Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 und 105 OG.
Nach Art. 104 lit. a OG kann mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens gerügt werden. Die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig oder unvollständig ist oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen erfolgte (Art. 104 lit. b in Verbindung mit Art. 105 Abs. 2 OG).
Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen (einschliesslich deren Rückforderung) erstreckt sich dagegen die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts auch auf die Angemessenheit der angefochtenen Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG; erweiterte Kognition; BGE 121 V 366 Erw. 1c, 120 V 448 Erw. 2a/aa, je mit Hinweisen).
3.- Der Versicherte verlangt die Rückweisung an die SUVA zur Durchführung eines Belastungstestes, eventualiter die Anordnung eines Belastungstest durch das Eidgenössische Versicherungsgericht. In Übereinstimmung mit der Vorinstanz ist jedoch festzustellen, dass der Bereich zwischen Ellbogen und Schulter im Rahmen der verschiedenen medizinischen Abklärungen untersucht worden war. Am 3. Mai 1994 fanden eine Röntgenuntersuchung des rechten Oberarmes, am darauf folgenden Tag eine MRI-Untersuchung und am 19. August 1994 eine klinische Untersuchung des rechten Oberarmes durch den SUVA-Kreisarzt Dr. A.________ statt. Auffallend ist dabei der stets gleich bleibende Umfang der rechten und linken Oberarmmuskulatur in den kreisärztlichen Untersuchungen vom 17. April 1991, vom 19. August 1994 und vom 9. März 1998. Auf Grund dieser Befunde muss davon ausgegangen werden, dass der rechte Arm nach dem Unfall in verschiedenen Funktionen gebraucht wurde. Das Einholen eines weiteren Gutachtens erübrigt sich. Daran ändert auch der Einwand des Versicherten nichts, das eigentliche Problem liege nicht in der Belastbarkeit des rechten Armes, sondern in der Unmöglichkeit, ihn während längerer Zeit repetitiv zu bewegen, was für viele Arbeitsplätze
erforderlich sei. Dazu hatte sich Dr. med. H.________, Neurochirurgie FMH, in einem Bericht vom 22. April 1996 eingehend geäussert. Es handle sich nicht um einen neurogenen Schmerz. Die Kriterien für eine erfolgversprechende epidurale, hochzervikale Teststimulation seien nicht erfüllt. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass "repetitiv" im Sinne des medizinischen Anforderungsprofils an eine zumutbare Tätigkeit nicht die gleiche Bedeutung hat wie in der Lohnstatistik. In Letzterer geht es lediglich um die Umschreibung der Anforderungen an einem Arbeitsplatz.
4.- Die vom Versicherten geltend gemachten HWS- und Stimmbandbeschwerden müssten, um im Rahmen der Rentenbemessung des Unfallversicherers Berücksichtigung finden zu können, in einem adäquaten Kausalzusammenhang zum Unfall vom 27. Juli 1989 stehen. Die SUVA weist zu Recht darauf hin, dass die Beschwerden im Bereiche der HWS das erste Mal im Schreiben von Dr. med. U.________ vom 6. Februar 1990 erwähnt worden seien. Dass in den früheren Arztberichten demgegenüber stets nur die Rede von Beschwerden am rechten Oberarm war, ist ein deutlicher Hinweis auf die fehlende Kausalität zwischen den beklagten Beschwerden an der HWS und dem Unfall. Dasselbe gilt auch für die geltend gemachten Stimmbandbeschwerden, die erstmals Jahre nach dem Unfall geltend gemacht wurden.
5.- In den zahlreichen Arztberichten wird auf die psychische Fehlverarbeitung des erlittenen Unfalles durch den Versicherten hingewiesen. Geht man davon aus, dass eine psychisch bedingte Erwerbsunfähigkeit gegeben ist, so steht diese nur dann mit dem Unfall in einem adäquaten Kausalzusammenhang, wenn es sich um einen schweren Unfall oder einen Unfall im mittleren Bereich gehandelt hat, wobei Unfälle im mittleren Bereich noch zusätzliche Kriterien erfüllen müssen (vgl. BGE 115 V 140). Diese Kriterien sind indessen nicht weiter zu prüfen; denn in Übereinstimmung mit den zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz ist der Unfall als leicht zu qualifizieren. Der Versicherte war bei seinen Betonfräsarbeiten zwar von einem zirka 600 kg schweren Betonblock am rechten Oberarm getroffen worden, war aber gemäss seinen eigenen Angaben nach dem Unfall noch in der Lage, selber mit dem Auto von Horgen nach Luzern zu fahren, bevor er sich in ärztliche Behandlung begab. Die psychische Fehlverarbeitung des Unfalls muss bei dieser Konstellation unfallfremden Faktoren zugeordnet werden, wofür die SUVA nicht einzustehen hat.
6.- Die Ermittlung der Erwerbsunfähigkeit und damit des Invaliditätsgrades erfolgt durch den Vergleich des Einkommens, das der Versicherte erzielen würde, wenn der versicherte Gesundheitsschaden nicht eingetreten wäre, mit jenem, das er als Invalider erzielen könnte.
a) Als Betonbohrer und -fräser könnte der Versicherte an seiner bisherigen Arbeitsstelle im Jahre 1994 unbestrittenermassen Fr. 72'800.- (13 x Fr. 5600.-) verdienen.
b) Da keine weiteren ärztlichen Gutachten einzuholen sind (vgl. Erw. 3), ist bezüglich der noch zumutbaren Tätigkeiten auf die Feststellungen des Kreisarztes Dr. I.________ vom 9. März 1998, der auf die Erkenntnisse von Dr. A.________ vom 19. August 1994 verweist, abzustellen. Gemäss diesen Angaben kann der Versicherte trotz des bestehenden Gesundheitsschadens alle Tätigkeiten vollzeitig ausüben, die weder das Heben schwerer Gegenstände über 15 kg noch ein forciertes Arbeiten über Schulterhöhe verlangen. Das Mass der tatsächlichen Erwerbseinbusse stimmt mit dem Umfang der Invalidität nur dann überein, wenn - kumulativ - besonders stabile Arbeitsverhältnisse eine Bezugnahme auf den allgemeinen Arbeitsmarkt praktisch erübrigen, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, bei der anzunehmen ist, dass er die ihm verbliebene Arbeitsfähigkeit entsprechend seiner Ausbildung und Fähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft und gleichzeitig zu erwarten ist, dass ein entsprechendes Einkommen auch anderweitig auf dem Arbeitsmarkt erzielt werden könnte (BGE 117 V 8). Diese Voraussetzungen sind vorliegend (Teilzeittätigkeit als Hilfskoch) nicht gegeben. Dem Versicherten wäre unter Berücksichtigung der von den Kreisärzten I.________ und
A.________ festgehaltenen Einschränkungen eine Vollzeittätigkeit mit einem höheren Erwerbseinkommen zuzumuten.
aa) Für die Bemessung des trotz Gesundheitsschadens noch realisierbaren Einkommens, insbesondere wenn der Versicherte nach Eintritt des Gesundheitsschadens keine oder jedenfalls keine ihm an sich noch zumutbare neue Erwerbstätigkeit aufgenommen hat, sind die Tabellenlöhne beizuziehen (AHI 2000 S. 311 Erw. 3b/bb mit Hinweisen). Dazu ist seit 1994 von den Tabellenlöhnen auszugehen, die in der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) des Bundesamtes für Statistik ausgewiesen sind. Bei deren Anwendung ist zu beachten, dass die erfassten Löhne auf einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden beruhen, Teilzeitbeschäftigte in der Regel überproportional weniger verdienen als Vollzeitangestellte (BGE 124 V 323 Erw. 3b/aa) und gesundheitlich beeinträchtigte Personen, die selbst bei leichten Hilfsarbeitertätigkeiten behindert sind, im Vergleich zu voll leistungsfähigen und entsprechend einsetzbaren Arbeitnehmern lohnmässig benachteiligt sind. Es ist anhand der gesamten Umstände des konkreten Einzelfalles zu prüfen, ob und in welchem Ausmass das hypothetische Einkommen als Invalider zusätzlich reduziert werden muss (AHI 1998 S. 177 Erw. 3a).
bb) Laut Tabelle A 1.3.1. (vgl. zur massgebenden Tabelle: RKUV 2000 Nr. U 405 S. 400) der LSE 1994 (S. 57) belief sich der Zentralwert (vgl. AHI-Praxis 2000 S. 311) für die mit einfachen und repetitiven Aufgaben (Anforderungsniveau 4) beschäftigten Männer im privaten und öffentlichen Sektor auf Fr. 4225.-, was auf der Basis einer betriebsüblichen durchschnittlichen Arbeitszeit von 41,9 Stunden (vgl. LSE S. 42) im Jahre 1994 ein Gehalt von monatlich Fr. 4425.- (einschliesslich 13. Monatslohn [LSE S. 43]) und Fr. 53'100.- jährlich ergibt.
cc) Streitig ist der leidensbedingte Abzug, der von diesem Einkommen vorzunehmen ist. Die SUVA will beschwerdeweise lediglich 15 % zugestehen. Sie setzt sich dabei aber in Widerspruch zu ihrem Einspracheentscheid, wo sie einen Abzug von 20 % vorgenommen hatte. Eine Begründung für diese Abweichung gibt sie nicht. Ebenso wenig aber begründet die Vorinstanz die Erhöhung auf 25 %. Damit bleibt es bei dem von der SUVA gewährten Abzug. Demnach ist von einem Invalideneinkommen von Fr. 42'480.- (Fr. 53'100.- abzüglich 20 %) auszugehen.
c) Bei einem Valideneinkommen von Fr. 72'800.- und einem Invalideneinkommen von Fr. 42'480.- ergibt sich eine invaliditätsbedingte Einkommenseinbusse von Fr. 30'320.-, was einem Invaliditätsgrad von 41,6 % entspricht. Im noch nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichten Urteil E. vom 8. August 2001 (I 32/00) hat das Eidgenössische Versicherungsgericht entschieden, dass an einem einmal auf Grund von korrekt bestimmten Faktoren mathematisch exakt berechneten Invaliditätsgrad nicht mehr gerundet werden darf. Dieser Grundsatz gilt nicht nur für Renten der Invalidenversicherung, sondern auch für solche der Unfallversicherung (Erw. 4c und d).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I.Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des S.________ wird
abgewiesen.
II.In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
der SUVA werden der Entscheid des Verwaltungsgerichts
des Kantons Luzern vom 22. November 2000
und der Einspracheentscheid der SUVA vom 30. November
1998 aufgehoben und es wird festgestellt, dass
S.________ ab 1. Dezember 1994 Anspruch auf eine Invalidenrente
bei einer Invalidität von 41,6 % hat.
III.Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
IV.Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht
des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche
Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherung
zugestellt.
Luzern, 15. Oktober 2001
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Vorsitzende der II. Kammer:
Der Gerichtsschreiber: