Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
6B 271/2021
Urteil vom 12. Mai 2021
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Denys, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichterin van de Graaf,
Bundesrichter Hurni,
Gerichtsschreiber Held.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
gegen
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Zustellung und Eröffnung von Urteilen (Überschreiten der zulässigen Parkzeit),
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, vom 9. Oktober 2020 (SST.2020.146).
Erwägungen:
1.
Die Vorinstanz verurteilte den Beschwerdeführer in Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils (und des ursprünglichen Strafbefehls) am 9. Oktober 2020 im schriftlichen Berufungsverfahren wegen [fahrlässiger] Verletzung der Verkehrsregeln durch Überschreitung der Verkehrsregeln zu einer Busse von Fr. 40.-, respektive einem Tag Ersatzfreiheitsstrafe. Sie bestätigte die erstinstanzlichen Verfahrenskosten von Fr. 1'497.- und auferlegte dem Beschwerdeführer die Kosten für das Berufungsverfahren in Höhe von Fr. 2'000.-.
Die Vorinstanz informierte das Bezirksgericht Laufenburg mit Schreiben vom 11. Dezember 2020, dass das Berufungsurteil "nunmehr in Rechtskraft erwachsen ist", und retournierte gleichzeitig die erstinstanzlichen Akten. In der Folge forderte das Bezirksgericht den Beschwerdeführer zur Zahlung der erstinstanzlichen Verfahrenskosten auf. Der Beschwerdeführer machte sowohl gegenüber dem Bezirksgericht als auch der Vorinstanz geltend, das Berufungsurteil nicht erhalten zu haben. Mit (formlosem) Schreiben vom 22. Januar 2021 teilte die Vorinstanz dem Beschwerdeführer mit, dass das Berufungsurteil vom 9. Oktober 2020 nachweislich am 4. November 2020 zugestellt und demnach unangefochten in Rechtskraft erwachsen sei.
2.
2.1. Der Beschwerdeführer erhebt Beschwerde an das Bundesgericht und macht im Hauptpunkt geltend, das Berufungsurteil der Vorinstanz nicht erhalten zu haben. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.
2.2. Die Vorinstanz führt in ihrer Vernehmlassung zusammengefasst aus, zwar sei der "rote Rückschein" nicht retourniert worden und ein Suchauftrag der Post sei erfolglos geblieben, jedoch ergebe sich aus dem "Track & Trace"-Auszug, dass das eingeschriebene Urteil verschickt und nach zwei vergeblichen Zustellversuchen am 4. November 2020 erfolgreich habe zugestellt werden können. Auch wenn im Regelfall die Zustellung einer eingeschriebenen Postsendung nach Frankreich durch den "roten Rückschein" erbracht werde, bedeute dies nicht, dass der Nachweis nicht auch mittels dem "Track & Trace"-Auszug erbracht werden könne. Die so erfolgte Zustellung habe zwar einen Einfluss auf den Beginn der Rechtsmittelfrist, aber nicht auf die Gültigkeit der Zustellung. Selbst bei einem erfolglosen Zustellungsversuch hätte die Frist zur Beschwerde in Strafsachen am siebten Tag nach dem Zustellversuch zu laufen begonnen und wäre mithin bereits abgelaufen.
Die Beschwerdegegnerin hat auf die Einladung zur Stellungnahme nicht reagiert.
3.
3.1. Die Beschwerde in Strafsachen ist zulässig gegen verfahrensabschliessende Entscheide letzter kantonaler Instanzen in Strafsachen (Art. 78 Abs. 1

SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz BGG Art. 78 Grundsatz - 1 Das Bundesgericht beurteilt Beschwerden gegen Entscheide in Strafsachen. |
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1 | Das Bundesgericht beurteilt Beschwerden gegen Entscheide in Strafsachen. |
2 | Der Beschwerde in Strafsachen unterliegen auch Entscheide über: |
a | Zivilansprüche, wenn diese zusammen mit der Strafsache zu behandeln sind; |
b | den Vollzug von Strafen und Massnahmen. |

SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz BGG Art. 80 Vorinstanzen - 1 Die Beschwerde ist zulässig gegen Entscheide letzter kantonaler Instanzen und gegen Entscheide der Beschwerdekammer und der Berufungskammer des Bundesstrafgerichts.49 |
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1 | Die Beschwerde ist zulässig gegen Entscheide letzter kantonaler Instanzen und gegen Entscheide der Beschwerdekammer und der Berufungskammer des Bundesstrafgerichts.49 |
2 | Die Kantone setzen als letzte kantonale Instanzen obere Gerichte ein. Diese entscheiden als Rechtsmittelinstanzen. Ausgenommen sind die Fälle, in denen nach der Strafprozessordnung (StPO)50 ein oberes Gericht oder ein Zwangsmassnahmengericht als einzige kantonale Instanz entscheidet.51 |

SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz BGG Art. 90 Endentscheide - Die Beschwerde ist zulässig gegen Entscheide, die das Verfahren abschliessen. |

SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz BGG Art. 29 Prüfung - 1 Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit von Amtes wegen. |
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1 | Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit von Amtes wegen. |
2 | Bestehen Zweifel, ob das Bundesgericht oder eine andere Behörde zuständig ist, so führt das Gericht mit dieser Behörde einen Meinungsaustausch. |
3.2. Bei der Frage, ob dem Beschwerdeführer das Berufungsurteil, das das gegen ihn geführte Strafverfahren auf kantonaler Ebene abschliesst, gemäss Art. 84

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 84 Eröffnung der Entscheide - 1 Ist das Verfahren öffentlich, so eröffnet das Gericht das Urteil im Anschluss an die Urteilsberatung mündlich und begründet es kurz. |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 85 Form der Mitteilungen und der Zustellung - 1 Die Strafbehörden bedienen sich für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. |
4.
4.1. Die Formen der Zustellung im Strafverfahren sind in Art. 85

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 85 Form der Mitteilungen und der Zustellung - 1 Die Strafbehörden bedienen sich für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 85 Form der Mitteilungen und der Zustellung - 1 Die Strafbehörden bedienen sich für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 85 Form der Mitteilungen und der Zustellung - 1 Die Strafbehörden bedienen sich für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. |
Die gesetzlichen Zustellungsformen tragen dem Umstand Rechnung, dass Verfügungen oder Entscheide, die der betroffenen Person nicht eröffnet worden sind, grundsätzlich keine Rechtswirkungen entfalten. Der Beweis ordnungsgemässer Zustellung bzw. Eröffnung sowie deren Datums obliegt der Behörde, die daraus rechtliche Konsequenzen ableiten will (BGE 144 IV 57 E. 2.3; 142 IV 125 E. 4; Urteil 6B 185/2020 vom 11. Mai 2020 E. 2 und 3; je mit Hinweisen).
Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist eine Zustellung ungeachtet der Verletzung von Art. 85 Abs. 2

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 85 Form der Mitteilungen und der Zustellung - 1 Die Strafbehörden bedienen sich für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. |
4.2. Die Vorinstanz durfte dem in Frankreich lebenden Beschwerdeführer das Berufungsurteil gestützt auf Art. 16 Abs. 2 des zweiten Zusatzprotokolls zum Rechtshilfeübereinkommen (2. ZP zum EUeR; SR 0.351.12) per Einschreiben mit Rückschein direkt an dessen Wohnadresse schicken. Gemäss "Track & Trace"-Auszug erfolgte die Zustellung an den Beschwerdeführer am 4. November 2020, jedoch genügt die blosse Erfassung einer eingeschriebenen Sendung im "Track & Trace"-Auszug als "zugestellt" entgegen der Ansicht der Vorinstanz nicht der in Art. 85 Abs. 2

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 85 Form der Mitteilungen und der Zustellung - 1 Die Strafbehörden bedienen sich für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. |
Soweit die Vorinstanz unter Hinweis auf BGE 142 IV 201 (E. 2.3) aus dem "Track & Trace"- Auszug eine (vom Beschwerdeführer zu widerlegende) Zustellfiktion ableiten will, verkennt sie, dass es vorliegend gerade nicht um eine fehlgeschlagene Zustellung und eine dadurch ausgelöste Zustellfiktion, sondern um den Nachweis für eine erfolgte Zustellung geht, für die sie beweispflichtig ist. Auch die lediglich auszugsweise Übersendung mittels erster und letzter Seite des vorinstanzlichen Urteils durch das Bezirksgericht begründet vorliegend keine anderweitige (gültige) Zustellung an den Beschwerdeführer. Dem Beschwerdeführer wurden die wesentlichen Urteilsgründe nicht zur Kenntnis gebracht, was seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt und eine form- und fristgerechte Auseinandersetzung mit dem Berufungsurteil verunmöglicht. Dass ihm, nachdem er sowohl bei der Vorinstanz als auch dem Bezirksgericht geltend gemacht hatte, das Urteil nicht erhalten zu haben, dieses (unter Verletzung der Zustellungsvorschriften) anderweitig zur Kenntnis gebracht worden ist, lässt sich den Akten nicht entnehmen und wird auch von der Vorinstanz nicht vorgebracht.
Mithin kann vorliegend nicht von einer rechtswirksamen Zustellung und Eröffnung des Urteils vom 9. Oktober 2020 Sinne von Art. 85 Abs. 2

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 85 Form der Mitteilungen und der Zustellung - 1 Die Strafbehörden bedienen sich für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. |
5.
Die Beschwerde ist im Verfahren nach Art. 109

SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz BGG Art. 109 Dreierbesetzung - 1 Die Abteilungen entscheiden in Dreierbesetzung über Nichteintreten auf Beschwerden, bei denen sich keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder kein besonders bedeutender Fall vorliegt, wenn die Beschwerde nur unter einer dieser Bedingungen zulässig ist (Art. 74 und 83-85). Artikel 58 Absatz 1 Buchstabe b findet keine Anwendung. |
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1 | Die Abteilungen entscheiden in Dreierbesetzung über Nichteintreten auf Beschwerden, bei denen sich keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder kein besonders bedeutender Fall vorliegt, wenn die Beschwerde nur unter einer dieser Bedingungen zulässig ist (Art. 74 und 83-85). Artikel 58 Absatz 1 Buchstabe b findet keine Anwendung. |
2 | Sie entscheiden ebenfalls in Dreierbesetzung bei Einstimmigkeit über: |
a | Abweisung offensichtlich unbegründeter Beschwerden; |
b | Gutheissung offensichtlich begründeter Beschwerden, insbesondere wenn der angefochtene Akt von der Rechtsprechung des Bundesgerichts abweicht und kein Anlass besteht, diese zu überprüfen. |
3 | Der Entscheid wird summarisch begründet. Es kann ganz oder teilweise auf den angefochtenen Entscheid verwiesen werden. |

SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz BGG Art. 66 Erhebung und Verteilung der Gerichtskosten - 1 Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben. |
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1 | Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben. |
2 | Wird ein Fall durch Abstandserklärung oder Vergleich erledigt, so kann auf die Erhebung von Gerichtskosten ganz oder teilweise verzichtet werden. |
3 | Unnötige Kosten hat zu bezahlen, wer sie verursacht. |
4 | Dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden sowie mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen dürfen in der Regel keine Gerichtskosten auferlegt werden, wenn sie in ihrem amtlichen Wirkungskreis, ohne dass es sich um ihr Vermögensinteresse handelt, das Bundesgericht in Anspruch nehmen oder wenn gegen ihre Entscheide in solchen Angelegenheiten Beschwerde geführt worden ist. |
5 | Mehrere Personen haben die ihnen gemeinsam auferlegten Gerichtskosten, wenn nichts anderes bestimmt ist, zu gleichen Teilen und unter solidarischer Haftung zu tragen. |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde in Strafsachen wird gutgeheissen. Es wird festgestellt, dass das Urteil der Vorinstanz vom 9. Oktober 2020 dem Beschwerdeführer nicht eröffnet wurde. Die Vorinstanz wird angewiesen, dem Beschwerdeführer das Urteil vom 9. Oktober 2020 zu eröffnen.
2.
Es werden keine Kosten erhoben und keine Entschädigungen ausgerichtet.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 12. Mai 2021
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Denys
Der Gerichtsschreiber: Held