Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B 57/2012

Urteil vom 8. Mai 2012
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Gerichtsschreiber C. Monn.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Fürsprecher Gerhard Lanz,
Beschwerdeführer,

gegen

Amtsgerichtspräsident von Thal-Gäu, Wengimattstrasse 2, Schmelzihof, 4710 Balsthal,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Nichteintreten auf Einsprache (Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit),

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
des Kantons Solothurn, Beschwerdekammer,
vom 1. Dezember 2011.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Staatsanwaltschaft Solothurn verurteilte X.________ am 23. September 2011 wegen Überschreitens der signalisierten Höchstgeschwindigkeit zu einer Busse von Fr. 450.-- bzw. einer Ersatzfreiheitsstrafe von fünf Tagen. Der Strafbefehl wurde am 29. September 2011 zugestellt. Nachdem X.________ am selben Tag mit einer Mitarbeiterin der Staatsanwaltschaft telefoniert hatte, reichte er dieser Amtsstelle am 14. Oktober 2011 eine Einsprache gegen den Strafbefehl ein. Am 28. Oktober 2011 trat der Amtsgerichtspräsident von Thal-Gäu auf die Einsprache nicht ein, da die Frist am 10. Oktober 2011 abgelaufen und der Rechtsbehelf verspätet war. Eine dagegen gerichtete Beschwerde wurde durch das Obergericht des Kantons Solothurn am 1. Dezember 2011 abgewiesen.

X.________ wendet sich ans Bundesgericht und beantragt, der Entscheid des Obergerichts vom 1. Dezember 2011 sei aufzuheben. Die Staatsanwaltschaft sei anzuweisen, das Verfahren gemäss Art. 355
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 355 Verfahren bei Einsprache - 1 Wird Einsprache erhoben, so nimmt die Staatsanwaltschaft die weiteren Beweise ab, die zur Beurteilung der Einsprache erforderlich sind.
1    Wird Einsprache erhoben, so nimmt die Staatsanwaltschaft die weiteren Beweise ab, die zur Beurteilung der Einsprache erforderlich sind.
2    Bleibt eine Einsprache erhebende Person trotz Vorladung einer Einvernahme unentschuldigt fern, so gilt ihre Einsprache als zurückgezogen.
3    Nach Abnahme der Beweise entscheidet die Staatsanwaltschaft, ob sie:
a  am Strafbefehl festhält;
b  das Verfahren einstellt;
c  einen neuen Strafbefehl erlässt;
d  Anklage beim erstinstanzlichen Gericht erhebt.
StPO fortzuführen.

2.
Der Beschwerdeführer macht unter Berufung auf Art. 9
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 9 Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben - Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden.
und 29
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
1    Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
2    Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör.
3    Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand.
BV sowie Art. 6
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 6 Recht auf ein faires Verfahren - (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
a  innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b  ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c  sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d  Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e  unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
EMRK geltend, die Entscheide des Amtsgerichtspräsidenten und der Vorinstanz seien überspitzt formalistisch und verletzten den Grundsatz von Treu und Glauben (Beschwerde S. 3 vor Ziff. 2).

2.1 In tatsächlicher Hinsicht ist davon auszugehen, dass die Mitarbeiterin der Staatsanwaltschaft dem Beschwerdeführer am 29. September 2011 mitteilte, es sei nicht möglich, den Strafbefehl in der von ihm gewünschten französischen Sprache zuzustellen. Dieser erklärte hierauf, dass er Zeit brauche, um einen Übersetzer zu finden. Weiter hielt er der Mitarbeiterin gegenüber fest, dass er Einsprache erheben wolle. Die Mitarbeiterin bestätigte, sie mache vom Anruf und der Einsprache eine Notiz und ebenso davon, dass der Beschwerdeführer die Einsprache schriftlich bestätigen werde. Nachdem der Beschwerdeführer einen Übersetzer gefunden hatte, reichte er die Einsprache am 14. Oktober 2011 ein (angefochtener Entscheid S. 2 E. 2).

In rechtlicher Hinsicht geht die Vorinstanz von Art. 354 Abs. 1
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 354 Einsprache - 1 Gegen den Strafbefehl können bei der Staatsanwaltschaft innert 10 Tagen schriftlich Einsprache erheben:
1    Gegen den Strafbefehl können bei der Staatsanwaltschaft innert 10 Tagen schriftlich Einsprache erheben:
a  die beschuldigte Person;
abis  die Privatklägerschaft;
b  weitere Betroffene;
c  soweit vorgesehen die Ober- oder Generalstaatsanwaltschaft des Bundes oder des betreffenden Kantons im jeweiligen eidgenössischen oder kantonalen Verfahren.
1bis    Die Privatklägerschaft kann einen Strafbefehl hinsichtlich der ausgesprochenen Sanktion nicht anfechten.250
2    Die Einsprachen sind zu begründen; ausgenommen ist die Einsprache der beschuldigten Person.
3    Ohne gültige Einsprache wird der Strafbefehl zum rechtskräftigen Urteil.
StPO aus, wonach die beschuldigte Person gegen einen Strafbefehl innert zehn Tagen schriftlich Einsprache erheben kann. Eine entsprechende Belehrung sei auf dem Strafbefehl aufgedruckt. Aus diesem Grund sei die Auffassung des Beschwerdeführers nicht zu teilen, dass ihn die Mitarbeiterin der Staatsanwaltschaft noch einmal auf die formellen Erfordernisse einer Einsprache hätte aufmerksam machen müssen. Der Beschwerdeführer habe der Mitarbeiterin denn auch in Aussicht gestellt, er werde die (telefonisch vorgebrachte) Einsprache schriftlich bestätigen. Demgegenüber sei nie davon die Rede gewesen, dass die telefonisch angekündigte Einsprache gültig sei. Es sei auch nicht davon gesprochen worden, dass der Beschwerdeführer für die schriftliche Einreichung der Beschwerde längere Zeit zur Verfügung haben werde. Zudem sei es zum Zeitpunkt des Gesprächs ohne Weiteres möglich gewesen, die Einsprache rechtzeitig schriftlich einzureichen, auch wenn der Beschwerdeführer den Strafbefehl übersetzen lassen musste. Der Amtsgerichtspräsident, der auf die Einsprache wegen Verspätung nicht eintrat, sei weder in überspitzen Formalismus verfallen, noch habe er gegen Treu und Glauben
verstossen (vgl. angefochtenen Entscheid S. 3 E. 3).

2.2 Der Schlussfolgerung der Vorinstanz ist zuzustimmen. Was der Beschwerdeführer vorbringt (vgl. Beschwerde S. 5-7), dringt nicht durch. Jedermann weiss, dass die Einhaltung der Frist ein absolutes Gültigkeitserfordernis für eine Einsprache darstellt. Da die Rechtsmittelbelehrung klar und eindeutig war, musste der Beschwerdeführer über die Einsprachefrist nicht nochmals mündlich orientiert werden. Sein Anruf bei der Staatsanwaltschaft ändert daran nichts. Der Anruf betraf ja nicht die Formerfordernisse einer Einsprache, sondern die Frage, ob ihm eine französische Fassung des Strafbefehls zugestellt werden könnte. Die Mitarbeiterin belehrte ihn über die Verfahrenssprache im Kanton Solothurn und nahm davon Vormerk, dass der Beschwerdeführer die mündlich in Aussicht gestellte Einsprache, wie das Gesetz es verlangt, schriftlich einreichen werde. Unter den gegebenen Umständen ist nicht nachvollziehbar, dass er ohne Weiteres davon ausgegangen sein will, mit der Vormerknahme seines Anrufs durch die Mitarbeiterin bestehe "ein schriftliches Aktenstück", und dem Formerfordernis der Schriftlichkeit sei "Genüge getan" (Beschwerde S. 6). Von einem Handeln gegen Treu und Glauben durch die Behörden oder einer übertrieben strengen Handhabung der
Formvorschriften, die sachlich nicht gerechtfertigt wäre und dem Bürger den Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrte, kann nicht die Rede sein.

3.
Die Beschwerde ist im Verfahren nach Art. 109
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 109 Dreierbesetzung - 1 Die Abteilungen entscheiden in Dreierbesetzung über Nichteintreten auf Beschwerden, bei denen sich keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder kein besonders bedeutender Fall vorliegt, wenn die Beschwerde nur unter einer dieser Bedingungen zulässig ist (Art. 74 und 83-85). Artikel 58 Absatz 1 Buchstabe b findet keine Anwendung.
1    Die Abteilungen entscheiden in Dreierbesetzung über Nichteintreten auf Beschwerden, bei denen sich keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder kein besonders bedeutender Fall vorliegt, wenn die Beschwerde nur unter einer dieser Bedingungen zulässig ist (Art. 74 und 83-85). Artikel 58 Absatz 1 Buchstabe b findet keine Anwendung.
2    Sie entscheiden ebenfalls in Dreierbesetzung bei Einstimmigkeit über:
a  Abweisung offensichtlich unbegründeter Beschwerden;
b  Gutheissung offensichtlich begründeter Beschwerden, insbesondere wenn der angefochtene Akt von der Rechtsprechung des Bundesgerichts abweicht und kein Anlass besteht, diese zu überprüfen.
3    Der Entscheid wird summarisch begründet. Es kann ganz oder teilweise auf den angefochtenen Entscheid verwiesen werden.
BGG abzuweisen. Bei diesem Ausgang sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 66 Erhebung und Verteilung der Gerichtskosten - 1 Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben.
1    Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben.
2    Wird ein Fall durch Abstandserklärung oder Vergleich erledigt, so kann auf die Erhebung von Gerichtskosten ganz oder teilweise verzichtet werden.
3    Unnötige Kosten hat zu bezahlen, wer sie verursacht.
4    Dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden sowie mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen dürfen in der Regel keine Gerichtskosten auferlegt werden, wenn sie in ihrem amtlichen Wirkungskreis, ohne dass es sich um ihr Vermögensinteresse handelt, das Bundesgericht in Anspruch nehmen oder wenn gegen ihre Entscheide in solchen Angelegenheiten Beschwerde geführt worden ist.
5    Mehrere Personen haben die ihnen gemeinsam auferlegten Gerichtskosten, wenn nichts anderes bestimmt ist, zu gleichen Teilen und unter solidarischer Haftung zu tragen.
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Solothurn, Beschwerdekammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 8. Mai 2012

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Monn
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 6B_57/2012
Date : 08. Mai 2012
Published : 26. Mai 2012
Source : Bundesgericht
Status : Unpubliziert
Subject area : Strafrecht (allgemein)
Subject : Nichteintreten auf Einsprache (Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit)


Legislation register
BGG: 66  109
BV: 9  29
EMRK: 6
StPO: 354  355
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