Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B 325/2009

Urteil vom 7. Dezember 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Eusebio,
Gerichtsschreiber Steinmann.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Fingerhuth,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Zug, An der Aa 4, Postfach 1356, 6301 Zug.

Gegenstand
Haftentlassung,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 10. November 2009 des Obergerichts des Kantons Zug,
Strafrechtliche Abteilung.
Sachverhalt:

A.
Das Strafgericht des Kantons Zug verurteilte X.________ am 4. Juli 2008 wegen mehrfachen und versuchten Diebstahls, Raubes, mehrfacher Sachbeschädigung, mehrfachen Hausfriedensbruchs sowie Vergewaltigung zu 39 Monaten Freiheitsstrafe. Es ordnete eine stationäre therapeutische Massnahme an und schob den Vollzug der Freiheitsstrafe auf.
Das Obergericht des Kantons Zug trat am 10. März 2009 auf die Berufung des Verurteilten mangels rechtsgenüglicher Begründung nicht ein. Auf Beschwerde hin hob die Strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts den Obergerichtsentscheid auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück (Urteil 6B 302/2009 vom 28. September 2009).

B.
Im Rahmen der Ergänzung der Berufungsbegründung vom 30. Oktober 2009 ersuchte X.________ um Haftentlassung. Die Vorsitzende der Strafrechtlichen Abteilung des Obergerichts des Kantons Zug wies dieses Haftentlassungsgesuch am 10. November 2009 ab. Sie bejahte den Tatverdacht, die Fluchtgefahr sowie die Verhältnismässigkeit der Haft.

C.
Gegen diesen Entscheid hat X.________ am 11. November 2009 beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen erhoben. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und die Rückweisung der Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz. Er macht im Wesentlichen eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend. Überdies ersucht der Beschwerdeführer um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Die Strafrechtliche Abteilung des Obergerichts beantragt die Abweisung der Beschwerde. Die Staatsanwaltschaft hat auf Vernehmlassung verzichtet.
Der Beschwerdeführer hält in seiner Replik an Antrag und Begründung fest.
Erwägungen:

1.
Die Eintretensvoraussetzungen geben zu keinen Anmerkungen Anlass. Auf die Beschwerde in Strafsachen ist einzutreten.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend. Diese erblickt er im Umstand, dass er am 30. Oktober 2009 ein Haftentlassungsgesuch gestellt und die Staatsanwaltschaft dazu am 9. November 2009 Stellung genommen hat und dass er die Stellungnahme nicht erhalten hat und damit keine Gelegenheit hatte, sich dazu zu äussern.
In der Vernehmlassung hält das Obergericht fest, dass der angefochtene Entscheid im Verfahren nach § 18ter der Zuger Strafprozessordnung und somit nicht im Verfahren nach § 17bis ff. StPO ergangen sei und dass eine Frist von fünf Tagen einzuhalten war.

2.2 Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 27. Oktober 2008 in Sicherheitshaft. Sein Ersuchen vom 30. Oktober 2009 stellt somit ein Gesuch um Entlassung aus der strafprozessualen Haft dar.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte räumte im Urteil Sanchez-Reisse gegen die Schweiz vom 21. Oktober 1986 dem Betroffenen im Haftprüfungsverfahren gestützt auf Art. 5 Ziff. 4
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 5 Recht auf Freiheit und Sicherheit - (1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
a  rechtmässiger Freiheitsentzug nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;
b  rechtmässige Festnahme oder rechtmässiger Freiheitsentzug wegen Nichtbefolgung einer rechtmässigen gerichtlichen Anordnung oder zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung;
c  rechtmässige Festnahme oder rechtmässiger Freiheitsentzug zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern;
d  rechtmässiger Freiheitsentzug bei Minderjährigen zum Zweck überwachter Erziehung oder zur Vorführung vor die zuständige Behörde;
e  rechtmässiger Freiheitsentzug mit dem Ziel, eine Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern;
f  rechtmässige Festnahme oder rechtmässiger Freiheitsentzug zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist.
EMRK einen unbedingten Anspruch ein, behördliche Stellungnahmen zu erhalten und sich dazu äussern zu können (Serie A Band 107, EuGRZ 1988 S. 523, VPB 1986 Nr. 91). Das Bundesgericht hat in der Folge im Urteil BGE 114 Ia 84 festgehalten, dass der Beschuldigte Anspruch darauf hat, sich im Verfahren, in dem über sein Haftentlassungsgesuch entschieden wird, zu einer Vernehmlassung der Strafverfolgungsbehörde zu äussern, und dass dieser Anspruch unbekümmert darum bestehe, ob die Stellungnahme der Behöre neue Argumente enthalte oder nicht (BGE 114 Ia 84). Diese Rechtsprechung ist seither bestätigt worden (vgl. BGE 125 I 113 E. 2a S. 115; Urteil 1B 6/2009 vom 4. Februar 2009). Darüber hinaus hat das Bundesgericht gestützt auf Art. 29 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
1    Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
2    Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör.
3    Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand.
BV in allgemeiner Weise erkannt, dass Vernehmlassungen unabhängig von ihrem Inhalt den Verfahrensbeteiligten bekannt zu machen sind und die Parteien dazu müssen Stellung nehmen können (BGE 132 I 42, 133 I 98 und 133 I 100).
In Anbetracht dieser Rechtsprechung ist der Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf rechtliches Gehörs verletzt worden. Weder hat er die Vernehmlassung im Voraus erhalten, noch hatte er Gelegenheit zu einer Äusserung. Daran ändert nichts, dass die Strafprozessordnung einen Entscheid innert fünf Tagen verlangt (vgl. BGE 114 Ia 84 E. 3 S. 87). Diesem Erfordernis ist mit entsprechenden organisatorischen Vorkehren Rechnung zu tragen. Im Übrigen ist die Frist im vorliegenden Fall nicht eingehalten worden. Schliesslich hat der Betroffene Anspruch auf das letzte Wort, sodass eine Duplikmöglichkeit von Seiten der Staatsanwaltschaft entfällt. Unerheblich ist, ob im angefochtenen Entscheid tatsächlich auf die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft abgestellt worden ist.
Demnach erweist sich die Beschwerde als begründet.

3.
Die Beschwerde ist gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Die Sache ist dem Obergericht zu neuer Entscheidung zurückzuweisen. Eine Entlassung aus der Haft, um die nicht ersucht wird, fällt ausser Betracht.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der Kanton Zug den Beschwerdeführer zu entschädigen (Art. 68 Abs. 2
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 68 Parteientschädigung - 1 Das Bundesgericht bestimmt im Urteil, ob und in welchem Mass die Kosten der obsiegenden Partei von der unterliegenden zu ersetzen sind.
1    Das Bundesgericht bestimmt im Urteil, ob und in welchem Mass die Kosten der obsiegenden Partei von der unterliegenden zu ersetzen sind.
2    Die unterliegende Partei wird in der Regel verpflichtet, der obsiegenden Partei nach Massgabe des Tarifs des Bundesgerichts alle durch den Rechtsstreit verursachten notwendigen Kosten zu ersetzen.
3    Bund, Kantonen und Gemeinden sowie mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen wird in der Regel keine Parteientschädigung zugesprochen, wenn sie in ihrem amtlichen Wirkungskreis obsiegen.
4    Artikel 66 Absätze 3 und 5 ist sinngemäss anwendbar.
5    Der Entscheid der Vorinstanz über die Parteientschädigung wird vom Bundesgericht je nach Ausgang des Verfahrens bestätigt, aufgehoben oder geändert. Dabei kann das Gericht die Entschädigung nach Massgabe des anwendbaren eidgenössischen oder kantonalen Tarifs selbst festsetzen oder die Festsetzung der Vorinstanz übertragen.
BGG). Damit wird das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung gegenstandslos. Es sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 66 Erhebung und Verteilung der Gerichtskosten - 1 Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben.
1    Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben.
2    Wird ein Fall durch Abstandserklärung oder Vergleich erledigt, so kann auf die Erhebung von Gerichtskosten ganz oder teilweise verzichtet werden.
3    Unnötige Kosten hat zu bezahlen, wer sie verursacht.
4    Dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden sowie mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen dürfen in der Regel keine Gerichtskosten auferlegt werden, wenn sie in ihrem amtlichen Wirkungskreis, ohne dass es sich um ihr Vermögensinteresse handelt, das Bundesgericht in Anspruch nehmen oder wenn gegen ihre Entscheide in solchen Angelegenheiten Beschwerde geführt worden ist.
5    Mehrere Personen haben die ihnen gemeinsam auferlegten Gerichtskosten, wenn nichts anderes bestimmt ist, zu gleichen Teilen und unter solidarischer Haftung zu tragen.
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, die Verfügung der Vorsitzenden der Strafrechtlichen Abteilung des Obergerichts des Kantons Zug vom 10. November 2009 aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid an das Obergericht des Kantons Zug zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Zug hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'200.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Zug, Strafrechtliche Abteilung, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 7. Dezember 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Steinmann
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 1B_325/2009
Date : 07. Dezember 2009
Published : 25. Dezember 2009
Source : Bundesgericht
Status : Unpubliziert
Subject area : Strafprozess
Subject : Haftentlassung


Legislation register
BGG: 66  68
BV: 29
EMRK: 5
BGE-register
114-IA-84 • 125-I-113 • 132-I-42 • 133-I-100 • 133-I-98
Weitere Urteile ab 2000
1B_325/2009 • 1B_6/2009 • 6B_302/2009
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