Bundesverwaltungsgericht
Tribunal administratif fédéral
Tribunale amministrativo federale
Tribunal administrativ federal


Abteilung VI

F-1148/2017, F-1151/2017, F-1153/2017

Urteil vom 7. Juli 2017

Richter Andreas Trommer (Vorsitz),

Richter Blaise Vuille,
Besetzung
Richter Yannick Antoniazza-Hafner,

Gerichtsschreiber Julius Longauer.

1. A.X._______,

2. B.X._______,

Parteien 3.C.X._______,

Beschwerdeführende,

Zustelladresse: c/o D._______,

gegen

Staatssekretariat für Migration SEM,

Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand Einreiseverbot.

Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest,

dass das Ehepaar X._______ (Beschwerdeführende 1 und 2) und ihre schwer behinderte Tochter (Beschwerdeführerin 3) aus den Niederlanden stammen,

dass die Beschwerdeführenden im Jahr 2010 in die Schweiz gelangten, wo ihnen eine EU/EFTA-Bewilligung erteilt wurde,

dass später infolge Sozialhilfebezugs die Voraussetzungen wegfielen, unter denen das Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen, FZA, SR 0.142.112.681) den Angehörigen der Vertragsstaaten (Vertragsausländern) ein Aufenthaltsrecht vermittelt,

dass das zuständige Amt für Migration und Personenstand des Kantons Bern in einer Verfügung vom 8. März 2013 die EU/EFTA-Bewilligung widerrief und die Beschwerdeführenden aus der Schweiz weg wies, wogegen diese erfolglos den Instanzenzug beschritten (Entscheid der Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern vom 14. Juli 2014, Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 10. Februar 2015 und Urteil des Bundesgerichts 2C_243/2015 vom 2. November 2015),

dass die Beschwerdeführenden in der Folge ihrer Verpflichtung, die Schweiz zu verlassen, nicht freiwillig nachkamen,

dass sie daher im September 2016 mit polizeilichen Zwangsmitteln in die Niederlande verbracht wurden,

dass die Beschwerdeführenden am 9. Dezember 2016 in die Schweiz zurückkehrten und sich diesmal im Kanton Zürich aufhielten,

dass das SEM mit drei separaten Verfügungen vom 15. Februar 2017 gegen die Beschwerdeführenden ein jeweils dreijähriges Einreiseverbot verhängte,

dass es das Einreiseverbot mit der Gefahr eines massiven Sozialhilfebezugs und der Uneinsichtigkeit des Beschwerdeführers begründete,

dass die Beschwerdeführenden dagegen mit drei separaten Eingaben vom 21. Februar 2017 Rechtsmittel einlegten,

dass die Beschwerdeführenden in der Sache die Aufhebung des Einreiseverbots beantragten und für das Verfahren um unentgeltliche Rechtspflege sowie - im Rahmen einer superprovisorischen Massnahme - um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nachsuchten,

dass das Bundesverwaltungsgericht mit Zwischenverfügung vom 29. März 2017 die drei Beschwerden vereinigte, eine superprovisorische Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ablehnte und die Beschwerdeführenden aufforderte, ihre prozessuale Bedürftigkeit nachzuweisen,

dass das Bundesgericht auf eine im Zusammenhang mit der vorerwähnten Zwischenverfügung eingereichte Beschwerde/Rechtsverzögerungsbeschwerde mit Urteil 2C_367/2017 vom 13. April 2017 nicht eintrat,

dass sich die Vorinstanz mit Vernehmlassung vom 5. April 2017 einer Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung widersetzte und die Abweisung der Beschwerde beantragte,

dass das Bundesverwaltungsgericht mit Zwischenverfügung vom 12. Mai 2017 die aufschiebende Wirkung der Beschwerde wiederherstellte, das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege jedoch infolge der Weigerung der Beschwerdeführenden, ihre Bedürftigkeit nachzuweisen, abwies,

dass das Bundesgericht auf das Rechtsmittel der Beschwerdeführenden gegen die vorgenannte Verfügung mit Urteil vom 2C_530/2017 vom 12. Juni 2017 nicht eintrat,

dass auf den weiteren Akteneinhalt, soweit entscheidserheblich, in den Erwägungen eingegangen wird,

und zieht in Erwägung,

dass Einreiseverbote des SEM der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht unterliegen (Art. 31 , 32 und 33 Bst. d VGG),

dass sich das Verfahren nach den Bestimmungen des VwVG richtet, so-weit das Verwaltungsgerichtsgesetz nichts anderes regelt (Art. 37 VGG),

dass die Beschwerdeführenden zur Beschwerde legitimiert sind und auf ihre ansonsten frist- und formgerecht eingereichten Rechtsmittel einzutreten ist (Art. 49 ff . VwVG),

dass die Beschwerdeführenden Bürger der Niederlande und damit Angehörige eines Vertragsstaates des Freizügigkeitsabkommens sind,

dass sie als Vertragsausländer nur soweit dem allgemeinen Ausländerrecht unterstehen, als das Freizügigkeitsabkommen keine abweichenden Bestimmungen enthält oder ihnen das allgemeine Ausländerrecht eine günstigere Rechtsstellung vermittelt (Art. 2 Abs. 2 AuG [SR 142.20]),

dass gestützt auf Art. 67 Abs. 2 Bst. a AuG Einreiseverbote erlassen wer-den können gegen ausländische Personen, die gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland verstossen haben oder diese gefährden,

dass das Freizügigkeitsabkommen dieser Befugnis insoweit Schranken setzt, als Vertragsausländern ein Recht auf Einreise in die Schweiz (und Aufenthalt bis zu 3 Monaten Dauer) zusteht, das nur von der Vorlage eines gültigen Reisepapiers abhängig gemacht werden kann (Art. 3 FZA i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Anhang I FZA),

dass dieses Recht namentlich nicht davon abhängt, ob der Betroffene im Besitz ausreichender finanzieller Mittel ist (zur Publikation bestimmtes Urteil des BGer 6B_126/2016 vom 18.01.2017 E. 1.5 m.H),

dass ausreichende finanzielle Mittel und die anderen Voraussetzungen spezifischer Freizügigkeitsrechte des FZA erst vorliegen müssen, wenn der Aufenthalt länger als drei Monate dauert,

dass das Recht auf Einreise wie alle Rechte, die das Freizügigkeitsabkommen den aus ihm berechtigten Personen vermittelt, aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit eingeschränkt werden darf (sogenannter Ordre-public-Vorbehalt; vgl. Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA),

dass sich der Umfang und Inhalt des Ordre-public-Vorbehalts aus den Richtlinien des Rates 64/221/EWG, 72/194/EWG und 75/35/EWG in ihrer Fassung zum Zeitpunkt der Unterzeichnung (Art. 5 Abs. 2 Anhang I FZA) und der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung ergibt (Art. 16 Abs. 2 FZA),

dass die Gefahr des Bezugs von Sozialhilfeleistungen als wirtschaftlicher Grund nicht vom Ordre-public-Vorbehalt erfasst ist (Art. 5 Abs. 2 Anhang I zum FZA in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 64/221/EWG; Marcel Dietrich, Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Europäischen Union, 1995, S. 502; Walter Frenz, Handbuch Europarecht, Band 1: Europäische Grundfreiheiten, 2004, Rz. 1661),

dass folglich weder die den Beschwerdeführenden vorgeworfene Einreise im Dezember 2016 noch die Gefahr des Bezugs von Sozialhilfeleistungen geeignet sind, ein freizügigkeitsrechtsbeschränkendes Einreiseverbot gegenüber den Beschwerdeführenden zu rechtfertigen,

dass die Verletzung ausländerrechtlicher Bestimmungen, die den Beschwerdeführenden vorgeworfen werden könnte, ihnen jedoch nicht vorgeworfen wurde (illegaler Aufenthalt, Nichtbeachtung behördlicher Weisungen, Nichtanmeldung) qualitativ und quantitativ nicht eine Intensität erreicht, die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts freizügigkeitsrechtsbeschränkende Massnahmen nach sich ziehen könnte (vgl. dazu etwa Urteil des BVGer C-7549/2008 vom 23.08.2010 E. 7.4),

dass andere Gründe, die eine Fernhaltemassnahme gegen Vertragsausländer rechtfertigen könnten, nicht ersichtlich sind,

dass daher die gegen die Beschwerdeführenden verhängten Einreiseverbote das Bundesrecht verletzten (Art. 49 Bst. a VwVG) und in Gutheissung der Beschwerden aufzuheben sind,

dass den obsiegenden Beschwerdeführenden bei diesem Ausgang des Verfahrens keine Verfahrenskosten aufzuerlegen sind (Art. 63 Abs. 1 VwVG) und unterliegende Vorinstanzen von Gesetzes wegen nicht kostenpflichtig ist (Art. 63 Abs. 2 VwVG),

dass den nicht vertretenen Beschwerdeführenden unmittelbar durch die Prozessführung offensichtlich keine verhältnismässig hohen bzw. nur verhältnismässig geringe Kosten erwachsen sind, eine Parteientschädigung daher nicht geschuldet wird (Art. 64 Abs. 1 VwVG, Art. 7 Abs. 4
SR 173.320.2 Reglement vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE)
VGKE Art. 7 Grundsatz
1    Obsiegende Parteien haben Anspruch auf eine Parteientschädigung für die ihnen erwachsenen notwendigen Kosten.
2    Obsiegt die Partei nur teilweise, so ist die Parteientschädigung entsprechend zu kürzen.
3    Keinen Anspruch auf Parteientschädigung haben Bundesbehörden und, in der Regel, andere Behörden, die als Parteien auftreten.
4    Sind die Kosten verhältnismässig gering, so kann von einer Parteientschädigung abgesehen werden.
5    Artikel 6a ist sinngemäss anwendbar.7
des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]),

dass mit dem vorliegenden, verfahrensabschliessenden Urteil die bisher nicht behandelten Anträge der Beschwerdeführenden auf vorsorgliche Massnahmen gegenstandslos geworden sind.

Dispositiv S. 6

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.
Die Beschwerden F-1148/2017, F-1151/2017 und F-1153/2017 werden gutgeheissen, und die gegen die Beschwerdeführenden am 15. Februar 2017 verhängten Einreiseverbote werden aufgehoben.

2.
Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt, und es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

3.
Dieses Urteil geht an:

- die Beschwerdeführenden (...)

- die Vorinstanz (...)

- die Migrationsbehörde des Kantons Zürich

Für die Rechtsmittelbelehrung wird auf die nächste Seite verwiesen.

Der vorsitzende Richter: Der Gerichtsschreiber:

Andreas Trommer Julius Longauer

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen nach Eröffnung beim Bundesgericht, 1000 Lausanne 14, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten geführt werden (Art. 82 ff
SR 173.320.2 Reglement vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE)
VGKE Art. 7 Grundsatz
1    Obsiegende Parteien haben Anspruch auf eine Parteientschädigung für die ihnen erwachsenen notwendigen Kosten.
2    Obsiegt die Partei nur teilweise, so ist die Parteientschädigung entsprechend zu kürzen.
3    Keinen Anspruch auf Parteientschädigung haben Bundesbehörden und, in der Regel, andere Behörden, die als Parteien auftreten.
4    Sind die Kosten verhältnismässig gering, so kann von einer Parteientschädigung abgesehen werden.
5    Artikel 6a ist sinngemäss anwendbar.7
., 90 ff. und 100 BGG). Die Rechtsschrift ist in einer Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift zu enthalten. Der angefochtene Entscheid und die Beweismittel sind, soweit sie der Beschwerdeführer in Händen hat, beizulegen (Art. 42
SR 173.320.2 Reglement vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE)
VGKE Art. 7 Grundsatz
1    Obsiegende Parteien haben Anspruch auf eine Parteientschädigung für die ihnen erwachsenen notwendigen Kosten.
2    Obsiegt die Partei nur teilweise, so ist die Parteientschädigung entsprechend zu kürzen.
3    Keinen Anspruch auf Parteientschädigung haben Bundesbehörden und, in der Regel, andere Behörden, die als Parteien auftreten.
4    Sind die Kosten verhältnismässig gering, so kann von einer Parteientschädigung abgesehen werden.
5    Artikel 6a ist sinngemäss anwendbar.7
BGG).

Versand:
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : F-1148/2017
Datum : 07. Juli 2017
Publiziert : 25. Juli 2017
Quelle : Bundesverwaltungsgericht
Status : Unpubliziert
Sachgebiet : Bürgerrecht und Ausländerrecht
Gegenstand : Einreiseverbot


Gesetzesregister
AuG: 2  67
BGG: 42  82
FZA: 1  3  5  16
VGG: 31  32  33  37
VGKE: 7
SR 173.320.2 Reglement vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE)
VGKE Art. 7 Grundsatz
1    Obsiegende Parteien haben Anspruch auf eine Parteientschädigung für die ihnen erwachsenen notwendigen Kosten.
2    Obsiegt die Partei nur teilweise, so ist die Parteientschädigung entsprechend zu kürzen.
3    Keinen Anspruch auf Parteientschädigung haben Bundesbehörden und, in der Regel, andere Behörden, die als Parteien auftreten.
4    Sind die Kosten verhältnismässig gering, so kann von einer Parteientschädigung abgesehen werden.
5    Artikel 6a ist sinngemäss anwendbar.7
VwVG: 49  63  64
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