Bundesverwaltungsgericht
Tribunal administratif fédéral
Tribunale amministrativo federale
Tribunal administrativ federal


Abteilung III

C-5042/2014

Urteil vom 7. März 2016

Richter Martin Kayser (Vorsitz),

Besetzung Richter Blaise Vuille, Richterin Jenny de Coulon Scuntaro,

Gerichtsschreiberin Barbara Giemsa-Haake.

A._______,

vertreten durch Verein Berner Beratungsstelle
Parteien
für Sans-Papiers,

Beschwerdeführer,

gegen

Staatssekretariat für Migration SEM,

Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand Zustimmung zur Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung.

Sachverhalt:

A.
Der Beschwerdeführer, Jahrgang 1970, ist gebürtiger Peruaner. Er verliess sein Heimatland im Jahr 1988, um in Buenos Aires ein Gesangsstudium zu absolvieren. 2005 erhielt er die argentinische Staatsbürgerschaft. Seit August 2006 lebt er ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz. Bisher fand er sein finanzielles Auskommen durch Engagements als Künstler in verschiedenen musikalischen Ensembles sowie durch Beschäftigungen in den Bereichen Gärtnerei, Umzüge, Reinigung und Haushalt (vgl. Aktennotiz der Vorinstanz vom 6. Januar 2014 [Vorakten S. 15]).

B.
Am 28. Oktober 2013 richtete der Beschwerdeführer an die Migrationsbehörde der Stadt Bern ein Gesuch um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung gemäss Art. 30 Abs. 1 Bst. b AuG (SR 142.20). Dieses Gesuch begründete er zum einen mit seiner hiesigen sozialen und beruflichen Integration, zum anderen damit, dass ihm die Rückkehr nach Argentinien aufgrund seiner HIV-Infektion und der dortigen Behandlungsmöglichkeiten, ausserdem auch wegen des dort fehlenden Beziehungsnetzes nicht zumutbar sei. Die Migrationsbehörde bejahte das Vorliegen eines schwerwiegenden persönlichen Härtefalls und bat die Vorinstanz mit Schreiben vom 16. Dezember 2014 um Zustimmung zur Erteilung der entsprechenden Aufenthaltsbewilligung.

C.
Nachdem die Vorinstanz dem Beschwerdeführer rechtliches Gehörs gewährt hatte, lehnte sie die beantragte Zustimmungserteilung mit Verfügung vom 4. Juli 2014 ab. Sie führt aus, bei der Prüfung eines schwerwiegenden persönlichen Härtefalles gemäss Art. 30 Abs. 1 Bst. b AuG seien alle Gesichtspunkte und Besonderheiten des Einzelfalles zu berücksichtigen. Im Hinblick auf die hierfür besonders massgebenden Kriterien von Art. 31 Abs. 1 der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE, SR 142.201) liege beim Beschwerdeführer ein solcher Härtefall jedoch nicht vor. Auch wenn sich dieser während des mehr als siebeneinhalbjährigen Aufenthalts in der Schweiz beruflich und sprachlich gut integriert haben sollte, läge darin, zumal hiesige familiäre Bindungen fehlten, kein wichtiger persönlicher Grund für seinen weiteren Aufenthalt. Auch der Hinweis auf seinen grossen Freundes- und Bekanntenkreis spreche nicht für eine derart enge Verwurzelung in der Schweiz, dass seine Rückkehr nach Argentinien nicht in Betracht gezogen werden könnte. Die dortigen Lebens- und Arbeitsbedingungen seien im Vergleich mit denen in der Schweiz möglicherweise ungünstiger. Allerdings besitze der Beschwerdeführer verschiedene berufliche Qualifikationen, die er auch dort nutzen könne. Seine HIV-Infektion hindere ihn nicht an der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, da er hierdurch keine körperliche Einschränkung erfahre bzw. solche nicht geltend gemacht habe. Abgesehen davon gäbe es in Argentinien, entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers, auch für mittellose HIV-infizierte Person Behandlungsmöglichketen, da das öffentliche Gesundheitssystem grundsätzlich kostenfrei sei.

Mit Blick auf den heutigen Gesundheitszustand des Beschwerdeführers, so die Vorinstanz, werde der Vollzug seiner Wegweisung als zumutbar in Sinne von Art. 83 Abs. 4 AuG erachtet. Es sei davon auszugehen, dass er durch Mitnahme eines angemessenen Medikamentenvorrats die in der Schweiz begonnene antiretrovirale Therapie in Buenos Aires - wo er zuletzt gewohnt habe - lückenlos fortsetzen könne. Dass er in Argentinien angeblich auf kein Beziehungsnetz mehr zurückgreifen könne, erscheine nicht plausibel. Demzufolge stehe auch die Anordnung einer vorläufigen Aufnahme ausser Frage.

D.
Mit Rechtsmitteleingabe vom 8. September 2014 beantragt der Beschwerdeführer, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und der Erteilung der Aufenthaltsbewilligung sei die erforderliche Zustimmung zu erteilen. Er bringt vor, er habe Peru im Alter von 18 Jahren verlassen, einerseits, weil ihn seine Familie wegen seiner homosexuellen Orientierung abgelehnt habe, zum anderen, um in Argentinien klassischen Gesang zu studieren und Opernsänger zu werden. Sein dortiges Studium habe er mit Gelegenheitsarbeiten finanziert. Danach sei es ihm nur einige wenige Male gelungen, ein Engagement als Sänger zu bekommen und er habe aufgrund der niedrigen Gagen nicht lange von einem Auftritt leben können. Nebst der finanziellen Probleme habe er grosse Schwierigkeiten gehabt, in Argentinien ein Beziehungsnetz aufzubauen, denn er sei sowohl wegen seiner Herkunft als auch wegen seiner Homosexualität diskriminiert und ausgegrenzt worden. Deshalb habe er sich - nach der Kontaktaufnahme zu einem in Bern lebenden Freund - entschlossen, in die Schweiz zu kommen. Nach seiner Einreise seien die wenigen oberflächlichen Bekanntschaften, die er in Argentinien gehabt habe, aufgrund der grossen Distanz verloren gegangen.

Hier in der Schweiz habe er, der Beschwerdeführer, sich vom ersten Tag an um Engagements bei Theatern und Opernhäusern bemüht und damit - auch in Italien, Deutschland und Frankreich - Erfolg gehabt. Durch seine Auftritte habe er sehr gute Kontakte knüpfen können, weshalb er sicher sei, nach Erhalt einer Aufenthaltsbewilligung eine feste Anstellung bei einer Oper oder einem Theater finden zu können. Derzeit erledige er viele Aushilfsarbeiten, um finanziell unabhängig zu sein. Abgesehen davon habe er ein festes monatliches Einkommen von rund 700 Franken pro Monat für seine Mithilfe in zwei Haushalten. Einer kranken Person gebe er Gesangsunterricht. Neben alledem engagiere er sich seit langem ehrenamtlich in verschiedenen kirchlichen Programmen. Die deutsche Sprache habe er innert kürzester Zeit gelernt und beherrsche sie heute perfekt. Daneben spreche er fliessend Französisch und Italienisch. In der Schweiz habe er viele sehr gute Freunde - fast ausschliesslich Schweizerinnen und Schweizer - gefunden, wodurch er sich ohne Schwierigkeiten habe integrieren können. Dank dieser Beziehungen fühle er sich zum ersten Mal in seinem Leben an einem Ort willkommen und zuhause. Dass auch er für seine Freunde wichtig sei, ergebe sich u.a. aus den der Beschwerde beigefügten Referenzschreiben und Fotos.

Der Beschwerdeführer macht weiterhin geltend, er sei in ständiger ärztlicher Behandlung, seit bei ihm im Jahr 2009 eine HIV-Ansteckung diagnostiziert worden sei. Sein gesundheitlicher Zustand sei momentan stabil, erfordere aber eine kontinuierliche Therapie und regelmässige Kontrollen in einer Spezialklinik. Letzteres spräche gegen seine Rückkehr nach Argentinien, denn dort müsste er unverzüglich eine Erwerbstätigkeit aufnehmen, um sich an den notwendigen medizinischen Leistungen der an sich "kostenfreien Therapie" finanziell beteiligen zu können. Fände er keine Arbeit, würde die dann zwangsläufige Beendigung seiner bisherigen Behandlung zu lebensbedrohlichen Komplikationen und damit zur völligen Arbeitsunfähigkeit führen.

Nach alledem, so der Beschwerdeführer, erfülle er die Kriterien eines schwerwiegenden persönlichen Härtefalls, weshalb gemäss Art. 30 Abs. 1 Bst. b AuG von den Zulassungsvoraussetzungen abzuweichen sei.

E.
Gleichzeitig mit seiner Rechtsmitteleingabe hat der Beschwerdeführer um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne von Art. 65 Abs. 1 VwVG ersucht. Das Bundesverwaltungsgericht hat angekündigt, dieses Gesuch im End-entscheid zu behandeln und auf die Erhebung eines Kostenvorschusses verzichtet (vgl. Verfügung vom 19. September 2014).

F.
In ihrer Vernehmlassung 25. September 2014 beantragt die Vorinstanz unter Hinweis auf den Inhalt der angefochtenen Verfügung die Abweisung der Beschwerde. Mit Verfügung vom 29. September 2014 hat das Bundesverwaltungsgericht die Vernehmlassung dem Beschwerdeführer zur Kenntnis gebracht und den Schriftenwechsel geschlossen.

G.
Auf den weiteren Akteninhalt - u.a. auch auf den der beigezogenen kantonalen Akten - wird, soweit rechtserheblich, in den Erwägungen Bezug genommen.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

1.1 Verfügungen des BFM, mit denen die Zustimmung zur Erteilung einer kantonalen Aufenthaltsbewilligung verweigert wird, unterliegen der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (Art. 31 VGG und Art. 5 VwVG). Dessen Urteil ist endgültig, soweit nicht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht offen steht, insbesondere ein sich aus dem Völkerrecht ergebender Anspruch geltend gemacht würde (Art. 83 Bst. c Ziff. 2 BGG).

1.2 Das Rechtsmittelverfahren richtet sich nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz, soweit das Verwaltungsgerichtsgesetz nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG).

1.3 Der Beschwerdeführer ist zur Ergreifung des Rechtsmittels legitimiert. Auf seine frist- und formgerecht eingereichte Beschwerde ist einzutreten (Art. 48 ff . VwVG).

2.
Mit Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht kann die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes und - soweit nicht eine kantonale Behörde als Beschwerdeinstanz verfügt hat - die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 49 VwVG). Das Bundesverwaltungsgericht wendet im Beschwerdeverfahren das Bundesrecht von Amtes wegen an. Es ist gemäss Art. 62 Abs. 4 VwVG an die Begründung der Begehren nicht gebunden und kann die Beschwerde auch aus anderen als den geltend gemachten Gründen gutheissen oder abweisen. Massgebend sind grundsätzlich die tatsächlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt seines Entscheides (BVGE 2014/1 E. 2).

3.

3.1 Gemäss Art. 40 AuG sind die Kantone zuständig für die Erteilung und Verlängerung von Bewilligungen. Vorbehalten ist u.a. die Zuständigkeit des Bundes im Zustimmungsverfahren, zu dessen Ausgestaltung Art. 99 AuG den Bundesrat ermächtigt.

3.2 Aus dieser Ermächtigung resultiert Art. 85 der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit vom 24. Oktober 2007 (VZAE; SR 142.201), der die Zuständigkeit für zustimmungspflichtige Bewilligungen und Vorbescheide dem SEM überträgt. Dessen Zuständigkeit ergibt sich sowohl aus dem ursprünglichen Wortlaut von Art. 85 VZAE (AS 2007 5497, 5526) als auch aus der am 1. September 2015 in Kraft getretenen abgeänderten Fassung. Die neue Fassung von Art. 85 Abs. 2 VZAE - Folge der bis dahin teilweise nicht eingehaltenen Delegationsgrundsätze (vgl. im Einzelnen BGE 141 II 169 E. 4.3 und E. 4.4) - verweist auf die ebenfalls am 1. September 2015 in Kraft getretene Verordnung des EJPD vom 13. August 2015 über die dem Zustimmungsverfahren unterliegenden ausländerrechtlichen Bewilligungen und Vorentscheide (SR 142.201.1). Gemäss Art. 86 Abs. 1 VZAE kann das SEM die Zustimmung ohne Bindung an die Beurteilung durch den Kanton verweigern oder mit Bedingungen verbinden.

3.3 Art. 5 der soeben zitierten Verordnung des EJPD vom 13. August 2015 bezieht sich auf Bewilligungen, die in Abweichung von den Zulassungsvoraussetzungen erfolgen. Aus Bst. d der genannten Bestimmung ergibt sich explizit, dass die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung bei einem schwerwiegenden persönlichen Härtefall der Zustimmung durch das SEM bedarf. Um eine derartige Aufenthaltsbewilligung im Sinne von Art. 30 Abs. 1 Bst. b AuG geht es auch im vorliegenden Fall.

4.
Mit der Bestimmung von Art. 30 Abs. 1 Bst. b AuG hat der Gesetzgeber keinen eigenen Härtefallbegriff schaffen wollen, sondern denjenigen übernommen, der bereits im Kontext des Ausländerrechts bestand und durch die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 13 Bst. f der bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Verordnung vom 6. Oktober 1986 über die Begrenzung der Zahl der Ausländer (Begrenzungsverordnung, BVO, AS 1986 1791) konkretisiert wurde (vgl. dazu eingehend BVGE 2009/40 E. 5 mit Hinweisen). In Anlehnung an diese Rechtsprechung hat der Verordnungsgeber in Art. 31 Abs. 1 VZAE eine entsprechende Kriterienliste aufgestellt, die sich sowohl auf Art. 14 Abs. 2 AsylG als auch auf den Anwendungsbereich des AuG (Art. 30 Abs. 1 Bst. b , Art. 50 Abs. 1 Bst. b und Art. 84 Abs. 5 AuG) bezieht. Im Einzelnen werden folgende Kriterien genannt: die Integration (Bst. a), die Respektierung der Rechtsordnung (Bst. b), die Familienverhältnisse (Bst. c), die finanziellen Verhältnisse sowie der Wille zur Teilhabe am Wirtschaftsleben und zum Erwerb von Bildung (Bst. d), die Dauer der Anwesenheit (Bst. e), der Gesundheitszustand (Bst. f) und die Möglichkeit für eine Wiedereingliederung im Herkunftsland (Bst. g). Diese Kriterien stellen weder einen abschliessenden Katalog dar noch müssen sie kumulativ erfüllt sein (BVGE 2009/40 E. 6.2).

5.

5.1 Der Formulierung von Art. 30 Abs. 1 Bst. b AuG zufolge besteht kein Anspruch auf Erteilung einer Bewilligung, was auf deren Ausnahmecha-rakter hinweist (vgl. Urteil des BVGer C 5414/2013 vom 30. Juni 2015 E. 5.1.3). Ein schwerwiegender persönlicher Härtefall kann somit nicht leichthin angenommen werden. Erforderlich ist, dass sich die ausländische Person in einer persönlichen Notlage befindet, was bedeutet, dass ihre Lebens- und Existenzbedingungen, gemessen am durchschnittlichen Schicksal von ausländischen Personen, in gesteigertem Mass in Frage gestellt sind bzw. die Verweigerung einer Aufenthaltsbewilligung für sie mit schweren Nachteilen verbunden wäre (BGE 138 II 393 E. 3.1). Der von Rechtsprechung hierzu entwickelte Härtefallbegriff ist einheitlich, d.h. unabhängig davon, ob es um die Beurteilung eines Härtefalls aufgrund von Art. 14 Abs. 2 AsylG oder um eine solche im Kontext des Ausländergesetzes geht; hierauf weist auch der Untertitel von Art. 31 VZAE hin (BVGE 2009/40 E. 5.2.4 und E. 5.3).

5.2 Die Anerkennung als Härtefall setzt nicht zwingend voraus, dass die Anwesenheit in der Schweiz das einzige Mittel zur Verhinderung einer persönlichen Notlage darstellt. Es genügt indessen auch nicht, wenn sich die ausländische Person während längerer Zeit in der Schweiz aufgehalten, sich in sozialer und beruflicher Hinsicht gut integriert und sich nichts hat zuschulden kommen lassen (vgl. Vuille/Schenk, L'article 14 alinéa 2 de la loi sur l'asile et la notion d'intégration, in: Cesla Amarelle [Hrsg.], L'intégration des étrangers à l'épreuve du droit suisse, 2012, S. 121 f.). Vielmehr bedarf es einer so engen Beziehung zur Schweiz, dass es ihr nicht zugemutet werden kann, im Ausland, insbesondere in ihrem Heimatland, zu leben. Berufliche, freundschaftliche und nachbarschaftliche Beziehungen, welche die betroffene Person während ihres Aufenthalts in der Schweiz knüpfen konnte, genügen dieser Anforderung gewöhnlich nicht (BGE 130 II 39 E. 3; BVGE 2007/45 E. 4.2). Immerhin werden bei einem sehr langen Aufenthalt weniger hohe Anforderungen an das Vorliegen besonderer Umstände - wie etwa eine überdurchschnittliche Integration oder andere Faktoren - gestellt, welche die Rückkehr ins Heimatland als ausgesprochen schwierig erscheinen lassen (Urteil des BVGer C 5414/2013 E. 5.1.3 m.H.).

5.3 Rechtswidrige Aufenthalte werden bei der Härtefallprüfung grundsätzlich nicht berücksichtigt. In solchen Fällen hat die Behörde jedoch zu prüfen, ob sich die betroffene Person aus anderen Gründen in einer schwerwiegenden persönlichen Notlage befindet. Dazu ist auf ihre familiären Beziehungen in der Schweiz und in ihrem Heimatland sowie auf ihre gesundheitliche und berufliche Situation, ihre soziale Integration und die weiteren Umstände des Einzelfalles abzustellen. In diesem Zusammenhang ist auch das Verhalten der Behörden - beispielsweise ein nachlässiger Wegweisungsvollzug - zu berücksichtigen (BGE 130 II 39 E. 3 m.H.).Werden die Möglichkeiten einer Wiedereingliederung im Herkunftsstaat geprüft, ist nicht immer zu vermeiden, dass Umstände, die für einen Härtefall sprechen könnten, sich mit denen, die den Wegweisungsvollzug betreffen, überschneiden. Dies ist in Kauf zu nehmen (Urteil des BVGer C 3887/2009 vom 30. Mai 2012 E. 4.3).

6.

6.1 Die Vorinstanz hat im Falle des Beschwerdeführers eine schwerwiegende persönliche Notlage verneint. Gegen diese Einschätzung erhebt der Beschwerdeführer unter Hinweis auf seine frühere und die jetzige Lebenssituation in der Schweiz verschiedene Einwände, mit denen er insbesondere seine hiesige Integration und seine Abhängigkeit von medizinscher Versorgung in den Vordergrund stellt. Es bleibt demzufolge zu prüfen, ob die angefochtene Verfügung unter Berücksichtigung des Kriterienkatalogs von 31 Abs. 1 VZAE (zu den Einzelheiten: E. 4) rechtmässig und verhältnismässig ist.

6.2 Sowohl die Abklärungen der Vorinstanz als auch das mit Konzertprogrammen und mehreren Referenzschreiben belegte Vorbringen des Beschwerdeführers lassen, was auch die Vorinstanz nicht bestreitet, auf dessen soziale und berufliche Integration schliessen. Zwar hat das SEM die finanzielle Situation des Beschwerdeführers als eher prekär bezeichnet und geht deswegen nicht von einer aussergewöhnlichen vorteilhaften wirtschaftlichen Integration aus; derart hohe Anforderungen können - worauf der Beschwerdeführer in seiner Rechtsmitteleingabe zurecht hingewiesen hat - an sogenannte Sans-Papiers jedoch nicht gestellt werden. Immerhin ergibt sich aus den Akten, dass der Beschwerdeführer von Beginn an um Teilhabe am Wirtschaftsleben und finanzielle Selbständigkeit bemüht war. Die Kriterien von Art. 31 Abs. 1 Bst. a und Bst. d VZAE sprechen damit zugunsten des Beschwerdeführers. Einzeln betrachtet sind sie, wie auch die übrigen Kriterien des Katalogs, allerdings nicht ausschlaggebend, sondern stets im Gesamtzusammenhang zu würdigen.

6.3 Art. 31 Abs. 1 Bst. b VZAE nennt als weiteres Kriterium die Respektierung der Rechtsordnung. Diesbezüglich ist festzustellen, dass sich der Beschwerdeführer - abgesehen von mit dem Status als Sans-Papiers einhergehenden Verstössen gegen ausländerrechtliche Bestimmungen - nichts hat zuschulden kommen lassen.

6.4 Das in Art. 31 Abs. 1 Bst. c VZAE genannte Kriterium der familiären Verhältnisse ist für die vorliegend zur Frage stehende Härtefallregelung nicht ausschlaggebend. Der Beschwerdeführer ist alleinstehend und hat in der Schweiz keine Angehörigen.

6.5 Die Dauer der Anwesenheit in der Schweiz (Art. 31 Abs. 1 Bst. e VZAE) ist ein weiterer Aspekt bei der Beurteilung, ob ein schwerwiegender persönlicher Härtefall vorliegt. Jedoch sind, wie erwähnt (E. 5.3), rechtswidrige Aufenthalte bei der Härtefallprüfung grundsätzlich nicht zu berücksichtigen, was bedeutet, dass die Aufenthaltsdauer höchstens bei anderen Härtefall-Konstellationen, nicht aber bei Sans-Papiers eine Rolle spielen kann. Bei diesen könnte sich eine langjährige illegale Anwesenheit allenfalls indirekt auf eine Härtefallregelung auswirken, und zwar dann, wenn daraus eine derart enge Beziehung zur Schweiz entstanden wäre, dass dem Betroffenen ein Leben im Herkunftsland nicht mehr zugemutet werden könnte. Im vorliegenden Fall kann der Beschwerdeführer somit allein aus seinem jetzt rund neuneinhalb Jahre währenden Aufenthalt in der Schweiz nichts für sich herleiten.

6.6 Was das in Art. 31 Abs. 1 Bst. f VZAE genannte Kriterium des Gesundheitszustandes anbelangt, so macht der Beschwerdeführer geltend, er sei HIV-positiv. Dies habe man im Jahr 2009 aufgrund eines damals aufgetretenen schweren Immundefekts diagnostiziert. Seitdem sei er in ständiger ärztlicher Behandlung und habe aufgrund der aktuellen Therapie eine stabile Immunitätslage erreicht. Aus dieser gesundheitlichen Einschränkung leitet der Beschwerdeführer ab, dass er zwecks Kontinuität der Behandlung auf den Verbleib in der Schweiz angewiesen sei; andernfalls bzw. bei Unterbruch der Behandlung bestünde die Gefahr von auftretenden und möglicherweise sogar tödlich verlaufenden Komplikationen.

Die Vorinstanz hat Abklärungen zur Gesundheitsversorgung in Argentinien getroffen und im Ergebnis festgehalten, dass der Beschwerdeführer in den dortigen Grossstädten auf ein europäischem Standard entsprechendes Versorgungsangebot zugreifen und seine in der Schweiz begonnene antiretrovirale Therapie fortsetzen könne. Der angefochtenen Verfügung zufolge ist das dortige öffentliche Gesundheitssystem für alle Patienten kostenfrei. Allerdings hat die Vorinstanz eingeräumt, dass es nur von Patienten ohne private Krankenversicherung in Anspruch genommen wird, und es dahingestellt sein lassen, ob und in welchem Umfang sich die insoweit betroffenen Personen an den benötigten medizinischen Leistungen beteiligen müssen. Für den Beschwerdeführer, so die Vorinstanz, wäre eine allfällige finanzielle Belastung tragbar, wenn er in Argentinien eine Erwerbstätigkeit aufnehmen könnte.

Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorhandensein adäquater Behandlungsmöglichkeiten nicht, vertritt aber die Auffassung, dass ihm in Argentinien eine wirtschaftliche Integration unmöglich sei und er sich daher auch nicht die notwendige ärztliche Behandlung leisten könne.

Die Frage, ob der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers einen Härtefall begründen könnte, steht demzufolge im Zusammenhang mit der Frage nach den Möglichkeiten für eine Wiedereingliederung im Herkunftsstaat (Art. 31 Abs. 1 Bst. g VZAE).

6.7 Der Umstand, dass der Beschwerdeführer bei seiner Rückkehr nach Argentinien schwierigere ökonomische Verhältnisse als in der Schweiz vorfände, spricht als solcher nicht für eine persönliche Notlage. Bei der Härtefallprüfung steht vor allem die Frage im Vordergrund, ob eine Verankerung in der Schweiz die Wiedereingliederung im Herkunftsland verunmöglichen würde. Eine solche Verankerung ist beim Beschwerdeführer trotz der offenbar gelungenen sozialen und wirtschaftlichen Integration nicht anzunehmen, denn - wie bereits erwähnt (E. 5.2) - genügen berufliche und freundschaftliche Beziehungen hierfür nicht. Der Beschwerdeführer hat Argentinien im Alter von 36 Jahren verlassen, weil er sich dort teils wegen seiner peruanischen Herkunft, teils wegen seiner Homosexualität diskriminiert sah und sich von einem Leben in der Schweiz eine finanziell besser abgesicherte Zukunft versprach. Mittlerweile ist der Beschwerdeführer 45-jährig, und es davon auszugehen, dass er mit den Verhältnissen in Argentinien, wo er 18 Jahre lang lebte und seine musikalische Ausbildung absolvierte, immer noch vertraut ist. Die dort seinen Angaben zufolge erfahrenen Diskriminierungen sprechen nicht gegen seine Rückkehr, sind doch Vorbehalte, die sich auf Herkunft oder sexuelle Orientierung beziehen, in den meisten Ländern zumindest latent vorhanden. Zudem hat der Beschwerdeführer eigene negative Erfahrungen nicht belegt, sondern Zeitungsartikel eingereicht, welche die allgemeine Diskriminierung von Ausländern und Homosexuellen in Argentinien thematisieren. Eine derartige Situation, von der grosse Bevölkerungsgruppen betroffen sind, ist keineswegs singulär und insoweit für die Beurteilung eines Härtefalls nicht ausschlaggebend.

Im Hinblick auf die beruflichen Eingliederungsmöglichkeiten des Beschwerdeführers ist festzustellen, dass seine gesundheitliche Situation eigenen Angaben zufolge stabil ist und ihm daher die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit grundsätzlich möglich und zumutbar ist. Seinem Einwand, die Fortsetzung der Therapie könne nur unter dem Vorbehalt vorhandener finanzieller Mittel bzw. der sofortigen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erfolgen, ist entgegen zuhalten, dass er mit einem Medikamentenvorrat aus der Schweiz einen gewissen erwerbslosen Zeitraum überbrücken könnte. Darauf hat auch die Vorinstanz hingewiesen.

Der Beschwerdeführer spricht eigenen Angaben zufolge fliessend Französisch, Italienisch und Deutsch und hat in Argentinien auch Englisch gelernt. Neben seiner spanischen Muttersprache beherrscht er somit insgesamt fünf Sprachen. Während seiner Aufenthalte in Argentinien und in der Schweiz hat er verschiedene Tätigkeiten ausgeübt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass ihm dies, gerade vor dem Hintergrund seiner Sprachkenntnisse, einen beruflichen Wiedereinstieg ermöglichen wird. Erst recht gilt dies in Bezug auf seinen musikalische Qualifikation, zumal aus den der Beschwerde beigefügten Konzertprogrammen ersichtlich wird, dass der Beschwerdeführer - unter dem Künstlernamen X.________ - nicht nur an mehreren Orten in der Schweiz, sondern auch an sonstigen inner- und aussereuropäischen Orten Konzert- und Opernauftritte hatte. Das Konzertprogramm vom 27. April 2014 erwähnt zahlreiche Auslandsauftritte, so in Frankreich (Valence) und Deutschland (Mannheim, Berlin), vor allem aber auch solche in Lateinamerika. Letztere hatte der Beschwerdeführer dem Programm zufolge an den Dritten Internationalen Festspielen für zeitgenössische Musik in Lima (Peru), zudem in vielen argentinischen Musikmetropolen und in den bedeutendsten Konzerten und Opernhäusern von Buenos Aires.

Der Einwand des Beschwerdeführers, potentielle Arbeitgeber würden HIV-infizierte und Aids-kranke Personen aufgrund von Einstellungstests diskriminieren bzw. mit diesen gar kein Arbeitsverhältnis eingehen, ist aufgrund des derzeitigen Stands der beruflichen und künstlerischen Entwicklung des Beschwerdeführers nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Derartige Tests mögen den Zweck verfolgen, längerfristige vertragliche Verpflichtungen gegenüber gesundheitlich beeinträchtigten Arbeitnehmern zu vermeiden. In einer derartigen arbeitsmarktlichen Situation befindet sich der Beschwerdeführer allerdings nicht. Eine feste bzw. längerfristige Anstellung an einem Musiktheater ist nur wenigen, insbesondere arrivierten Künstlern vorbehalten. Die grosse Mehrheit wird nur für eine Saison oder allenfalls für wenige Spielzeiten engagiert. Dass für ein solches Engagement HIV-Tests durchgeführt werden, ist höchst unwahrscheinlich. Der Beschwerdeführer hätte zudem - wie dies in seiner Branche durchaus üblich ist - die Möglichkeit der selbständigen Erwerbstätigkeit. Die offensichtlich in der jüngeren Vergangenheit erfolgten Engagements - u.a. auch in Argentinien - sprechen jedenfalls dafür, dass der Beschwerdeführer dort, entgegen seiner Behauptung, über ein Beziehungsnetz verfügt und seine musikalische Berufstätigkeit weiterführen könnte. Die Fortsetzung seiner medizinischen Behandlung wäre damit auch von finanzieller Seite her nicht in Frage gestellt.

7.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass beim Beschwerdeführer kein schwerwiegender persönlicher Härtefall vorliegt. Gründe im Sinne von Art. 83 Abs. 1 AuG, die dem Vollzug seiner Wegweisung entgegenstehen und zu einer vorläufigen Aufnahme führen könnten, existieren trotz seiner HIV-Infektion nicht. Gemäss Arztbericht vom 28. März 2014 (kantonale Akten S. 24) befindet sich der Beschwerdeführer im HIV-Stadium A3 (Klassifikation gemäss Center for Disease Control and Prevention [CDC], welches eine - auch in Argentinien erhältliche - antiretrovirale Therapie erfordert und angesichts der damit einhergehenden geringen gesundheitlichen Beeinträchtigung nicht zur Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs führt (zu dieser Thematik: Urteil des BVGer E-4374/2011 vom 23. Dezember 2011 E. 5.4 m.H.).

8.
Das Bundesverwaltungsgericht kommt daher zum Schluss, dass die Vor-instanz zurecht die Zustimmung zur Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung verweigert und den Beschwerdeführer aus der Schweiz weggewiesen hat (vgl. Art. 49 VwVG). Die Beschwerde ist daher abzuweisen.

9.
Gemäss Art. 63 Abs. 1 VwVG trägt in der Regel die unterliegende Partei die Verfahrenskosten. Im vorliegenden Fall sind dem Beschwerdeführer jedoch keine Kosten aufzuerlegen, da sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gutzuheissen ist. Von seiner Bedürftigkeit ist auszugehen; zudem erschien sein Begehren nicht von vornherein aussichtslos (vgl. Art. 65 Abs. 1 VwVG).

Dispositiv nächste Seite

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.
Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne von Art. 65 Abs. 1 VwVG wird gutgeheissen.

2.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

3.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

4.
Dieses Urteil geht an:

- den Beschwerdeführer (Einschreiben)

- die Vorinstanz

- die Fremdenpolizei der Stadt Bern

Der vorsitzende Richter: Die Gerichtsschreiberin:

Martin Kayser Barbara Giemsa-Haake

Versand:
Informazioni decisione   •   DEFRITEN
Documento : C-5042/2014
Data : 07. marzo 2016
Pubblicato : 16. marzo 2016
Sorgente : Tribunale amministrativo federale
Stato : Inedito
Ramo giuridico : Cittadinanza e diritto degli stranieri
Oggetto : Zustimmung zur Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung


Registro di legislazione
LAsi: 14
LStr: 30  40  50  83  84  99
LTAF: 31  37
LTF: 83
OASA: 31  85  86
PA: 5  48  49  62  63  65
Registro DTF
130-II-39 • 138-II-393 • 141-II-169
Parole chiave
Elenca secondo la frequenza o in ordine alfabetico
argentina • autorità inferiore • integrazione sociale • permesso di dimora • tribunale amministrativo federale • terapia • vita • quesito • stato di salute • durata • sida • assunzione di un'attività lucrativa • persona interessata • assistenza giudiziaria gratuita • paziente • spese di procedura • ricorso al tribunale amministrativo federale • autorizzazione o approvazione • soggiorno illegale • pittore
... Tutti
BVGE
2014/1 • 2009/40 • 2007/45
BVGer
C-3887/2009 • C-5042/2014 • C-5414/2013 • E-4374/2011
AS
AS 2007/5526 • AS 2007/5497 • AS 1986/1791