Bundesstrafgericht
Tribunal pénal fédéral Tribunale penale federale Tribunal penal federal
Geschäftsnummer: RR.2016.285 + RP.2016.68
Entscheid vom 6. Juni 2017 Beschwerdekammer
Besetzung
Bundesstrafrichter Stephan Blättler, Vorsitz, Andreas J. Keller und Cornelia Cova, Gerichtsschreiberin Patricia Gehrig
Parteien
A., zzt. im Regionalgefängnis,
vertreten durch Rechtsanwalt Dominic Nellen, Beschwerdeführer
gegen
Bundesamt für Justiz, Fachbereich Auslieferung, Beschwerdegegner
Gegenstand
Auslieferung an Rumänien
Auslieferungsentscheid (Art. 55

Kosten und Entschädigung bei Rückzug des Auslieferungsersuchens (Art. 72

Sachverhalt:
A. Am 8. April 2016 ersuchte das rumänische Justizministerium die Schweiz um Auslieferung des ägyptischen Staatsangehörigen A. im Hinblick auf die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von drei Jahren aus dem Urteil des Amtsgerichts Roman vom 10. Oktober 2014 wegen Betrugs (act. 19.1).
B. Das Bundesamt für Justiz (nachfolgend „BJ“) ersuchte das rumänische Justizministerium am 18. Juli 2016 um verschiedene Ergänzungen, namentlich um Zusicherung, dass A. im Falle einer Auslieferung an Rumänien die Wiederaufnahme des Gerichtsverfahrens verlangen kann. Die rumänischen Behörden kamen mit Schreiben vom 21. sowie 27. Juli 2016 der Aufforderung nach und übermittelten die betreffenden Ergänzungen (act. 19.3, 19.4).
C. Am 15. September 2016 wurde A. gestützt auf den Auslieferungshaftbefehl des BJ vom 11. August 2016 von der Kantonspolizei Bern festgenommen und am Folgetag einvernommen (act. 19.5, 19.6, 19.7). Im Rahmen der Einvernahme vom 16. September 2016 erklärte A., sich einer Auslieferung zu widersetzen.
D. Mit Schreiben vom 23. September 2016 reichte B., ein Bekannter von A., eine Vollmacht für die Vertretung der rechtlichen, gesundheitlichen und finanziellen Belange des Beschwerdeführers ein (act. 19.7, 4. Frage; act. 19.9). Die Frist von 14 Tagen zur Einreichung einer schriftlichen Stellungnahme zum rumänischen Auslieferungsersuchen, welche ihm bei der Befragung vom 16. September 2016 eröffnet wurde, liess A. unbenutzt verstreichen. Am 21. Oktober 2016 reichte Rechtsanwalt Dominic Nellen (nachfolgend „RA Nellen“) eine Vollmacht von A. ein und ersuchte um Akteneinsicht sowie seine Beiordnung als amtlicher Rechtsbeistand (act. 19.10, 19.11).
E. Mit Schreiben vom 25. Oktober 2016 ernannte das BJ RA Nellen zum amtlichen Rechtsbeistand von A. im Rahmen des Auslieferungsverfahrens. Gleichzeitig informierte das BJ RA Nellen, dass die Frist zur Einreichung einer schriftlichen Stellungnahme zum Auslieferungsersuchen bereits abgelaufen sei (act. 19.12).
F. Mit Auslieferungsentscheid vom 27. Oktober 2016 bewilligte das BJ die Auslieferung von A. an Rumänien für die dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegenden Straftaten (act. 1.1).
G. Dagegen gelangt A. mit Beschwerde vom 28. November 2016 an die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts mit folgenden Anträgen:
1. Der Auslieferungsentscheid vom 27. Oktober 2016 sei aufzuheben und der Beschwerdeführer sei nicht auszuliefern;
2. Eventualiter zu Ziff. 1 sei der Auslieferungsentscheid vom 27. Oktober 2016 aufzuheben und die Sache im Sinne der Erwägungen zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen;
3. Der Beschwerdeführer sei unverzüglich aus der Haft zu entlassen;
4. Dem Beschwerdeführer sei für das vorliegende Beschwerdeverfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren unter Beiordnung von Rechtsanwalt Dominic Nellen als amtlicher Rechtsanwalt;
unter Kosten- und Entschädigungsfolgen.
H. Mit Schreiben vom 29. November 2016 zog das rumänische Justizministerium das Auslieferungsersuchen vom 8. April 2016 gegen A. zurück (act. 6.1), worauf das BJ mit Faxschreiben vom 12. Dezember 2016 die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts über die sofortig verfügte Haftentlassung von A. informierte (act. 6). Mit Schreiben vom 13. Dezember 2016 erklärte das BJ, dass das Auslieferungsverfahren nunmehr gegenstandslos sei und auf die Einreichung einer materiellen Beschwerdeantwort verzichtet werde (act. 7).
I. Mit Eingabe vom 7. Februar 2017 hält A. am Begehren fest, dass die Verfahrenskosten durch den Staat zu tragen sind und beantragt eine Genugtuung von Fr. 200.--/ Hafttag, mithin ein Total von Fr. 17‘800.-- (act. 8). Mit Schreiben vom 29. März 2017 sowie 18. April 2017 lässt sich A. unaufgefordert vernehmen (act. 11, 12).
J. Am 17. Mai 2017 lud die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts das BJ zur Stellungnahme betreffend Kosten- und Entschädigungsfolgen ein und forderte gleichzeitig die Einreichung der Akten an (act. 15). Gleichentags wurde RA Nellen aufgefordert, seine Honorarnote einzureichen (act. 16). Das Schreiben und die Honorarnote von RA Nellen vom 17. Mai 2017 wurden dem BJ am 18. Mai 2017 weitergeleitet.
K. Am 23. Mai 2017 reichte das BJ die Akten sowie eine Stellungnahme zu den Kosten- und Entschädigungsfolgen ein (act. 19). Letztere wurde A. am 24. Mai 2017 zur Kenntnis übermittelt (act. 20).
Auf die weiteren Ausführungen der Parteien sowie die eingereichten Unterlagen wird, soweit erforderlich, in den rechtlichen Erwägungen eingegangen.
Die Beschwerdekammer zieht in Erwägung:
1. Das rumänische Justizministerium hat das Auslieferungsersuchen gegen den Beschwerdeführer zurückgezogen (act. 6.1). Daraufhin verfügte das BJ die sofortige Haftentlassung des Verfolgten (act. 6). Bei dieser Sachlage hat der Beschwerdeführer kein Interesse mehr an der Behandlung seiner Beschwerde. Das Beschwerdeverfahren RR.2016.285 ist daher aufgrund des Rückzugs des Auslieferungsersuchens als gegenstandslos vom Geschäftsverzeichnis abzuschreiben (vgl. Weissenberger, in: Waldmann/Weissenberger [Hrsg.], Praxiskommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren, Zürich/Basel/Genf 2009, Art. 61 N. 4; Urteile des Bundesgerichts 1C_122/2008 vom 30. Mai 2008, E. 1; 1A.240/2006 vom 11. September 2007; Entscheide des Bundesstrafgerichts RR.2015.193 vom 4. März 2016 E. 3.2; RH.2013.1 vom 23. April 2013, E. 2.2).
2. Nach konstanter Praxis gelangt im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesstrafgericht für den Entscheid über die Kosten- und Entschädigungsfolgen bei Gegenstandslosigkeit Art. 72

Gemäss Art. 72

3.
3.1 Für den Auslieferungsverkehr zwischen der Schweiz und Rumänien sind primär das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (EAUe; SR 0.353.1) sowie das zu diesem Übereinkommen am 15. Oktober 1975 ergangene erste Zusatzprotokoll (1. ZP; SR 0.353.11) und das am 17. März 1978 ergangene zweite Zusatzprotokoll (2. ZP; SR 0.353.12) massgebend.
3.2 Soweit diese Staatsverträge bestimmte Fragen nicht abschliessend regeln, findet auf das Verfahren der Auslieferung ausschliesslich das Recht des ersuchten Staates Anwendung (Art. 22




4.
4.1 Gegen Auslieferungsentscheide des BJ kann innert 30 Tagen seit der Eröffnung des Entscheides bei der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts Beschwerde geführt werden (Art. 55 Abs. 3



4.2 Der Auslieferungsentscheid vom 27. Oktober 2016 wurde dem Beschwerdeführer am 28. November 2016 eröffnet (act. 1.1), womit die Beschwerde vom 28. November fristgerecht erhoben worden ist. Der Beschwerdeführer ist als Adressat des Auslieferungsentscheides ohne Weiteres zu dessen Anfechtung legitimiert. Auf die Beschwerde wäre demnach einzutreten gewesen sein.
5.
5.1 Der Beschwerdeführer wendet gegen den Auslieferungsentscheid vom 27. Oktober 2016 ein, dass er im Strafverfahren in Rumänien ungenügend verteidigt worden sei (fehlende Anwesenheit des Pflichtverteidigers bei Abwesenheit des Beschuldigten, act. 1, S. 3).
5.2 Das BJ hat die Zusicherung Rumäniens eingeholt, dass A. im Falle einer Auslieferung an Rumänien die Wiederaufnahme des Gerichtsverfahrens verlangen kann und gegebenenfalls ein neues Gerichtsverfahren eingeleitet wird. Diese Garantie wurde dem BJ am 27. Juli 2016 übermittelt (act. 19.2, 19.4). Aufgrund des völkerrechtlichen Vertrauensprinzips ist davon auszugehen, dass abgegebene Garantierklärungen eingehalten werden (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1C_356/2014 vom 3. September 2014, E. 2.2.2).
Infolge der rumänischen Garantie eines neuen Verfahrens und damit die Möglichkeit, am Verfahren teilzunehmen und sich verteidigen zu lassen, wäre diese Rüge demnach voraussichtlich grundlos gewesen und damit fehl gegangen.
6.
6.1 Weiter bringt der Beschwerdeführer vor, er leide unter zahlreichen und schwerwiegenden Gesundheitsproblemen, welche einer Auslieferung entgegenstünden und reicht dabei medizinische Unterlagen des Inselspitals Bern ein (act. 1, S. 3, act. 1.3).
6.2 Die Schweiz prüft die Auslieferungsvoraussetzungen des EAUe auch im Lichte ihrer grundrechtlichen völkerrechtlichen Verpflichtungen. Nach internationalem Völkerrecht – wie auch nach schweizerischem Landesrecht – sind Folter und jede andere Art grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung verboten (Art. 3





Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Auslieferungsersuchen wegen des schlechten Gesundheitszustandes des Verfolgten nicht abgelehnt werden, denn weder die vorliegend anwendbaren Staatsverträge (E. 3.1) noch das IRSG sehen die Möglichkeit vor, eine Auslieferung aus gesundheitlichen Gründen abzulehnen. Es ist Sache des ersuchenden Staates dafür zu sorgen, dass der Auszuliefernde eine angemessene medizinische Behandlung bekommt und seinem Gesundheitszustand entsprechend untergebracht oder allenfalls, mangels Hafterstehungsfähigkeit, aus der Haft entlassen wird. Die Auslieferung ist allerdings abzulehnen, wenn ernstliche Gründe für die Annahme bestehen, der Auszuliefernde werde im ersuchenden Staat ohne genügende medizinische Versorgung in einer sein Leben oder seine Gesundheit schwer gefährdenden Weise inhaftiert werden, was eine unmenschliche Behandlung i.S.v. Art. 3

6.3 Der Beschwerdeführer verweist in seiner Beschwerde insbesondere auf den Tagesklinikbericht vom 24. März 2016 und auf die Vielzahl der Medikamente, die er einnehmen müsse. Aus diesem Bericht geht jedoch hervor:
„Wir sehen keine regulären Verlaufskontrollen bei uns vor […].
Weiterhin empfehlen wir eine schrittweise Reduktion und im Verlauf gänzliche Sistierung der sedierenden Medikamente.“
Daraus ist zu entnehmen, dass für den Beschwerdeführer weder zwingend noch dringend ärztliche Kontrollen bei der Tagesklinik vorgesehen sind. Weiter wird die Absetzung von Gabapentin, Temesta, Midazolam und Zolpidem empfohlen und damit eine Absetzung von mehreren der vorgebrachten Vielzahl an Medikamenten. Es finden sich weiter keine Anhaltspunkte, dass die übrigen Medikamente/Vitamine in Rumänien nicht erhältlich sein würden.
Der Bericht spricht damit dafür, dass die gesundheitlichen Probleme eine Transportfähigkeit nicht einschränken würden.
6.4 Anhaltspunkte dafür, dass für den Beschwerdeführer im Falle einer Auslieferung ein ernsthaftes und objektives Risiko besteht, Opfer einer schweren Verletzung der Menschenrechte i. S. Art. 3

6.5 Die vom Beschwerdeführer geäusserten Bedenken bezüglich der Haftbedingungen (überfüllte Gefängnisse, Mangel an Hygiene und sanitären Einrichtungen etc.) werden teilweise von dem ins Recht gelegten Zeitungsbericht untermauert (act. 1.4). Diesem Bericht ist aber auch zu entnehmen, dass die Regierung im Mai 2016 EUR 800 Millionen für die Modernisierung der Haftanstalten zur Verfügung stellte. Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe konstatierte ausserdem bereits im 2014 eine deutliche Verbesserung der Behandlung mutmasslicher Straftäter in den Polizeistationen.
6.6 Das BJ hat ausserdem in diesem Zusammenhang im Auslieferungsentscheid festgehalten, dass es die ersuchende Behörden auf allfällige gesundheitliche Probleme des Verfolgten hinweisen wird, und, falls er dies wünscht, ein aktuelles ärztliches Gutachten übermitteln (act. 1.1, S. 5).
6.7 Unter diesen Umständen hätte die Auslieferung des Beschwerdeführers an Rumänien weder gegen Art. 3


7.
7.1 Der Beschwerdeführer bringt vor, dass ihm die Beiordnung eines Rechtsanwalts im zeitkritischen Verfahrenszeitpunkt verweigert wurde. Er würde kein Deutsch sprechen und es sei ihm nicht möglich gewesen, seine Rechte ausreichend wahr zu nehmen (act. 1, S. 5).
7.2 Aus dem Protokoll der Einvernahme geht hervor, dass der Beschwerdeführer über seine Rechte aufgeklärt wurde. An der Einvernahme war ein Übersetzer zugegen, wobei der Beschwerdeführer bestätigte, er „verstehe den Übersetzer gut“ (act. 19.7, 1. Frage). Er wurde ebenfalls darüber in Kenntnis gesetzt, dass ihm eine 14-tägige Frist gesetzt wird zur Einreichung einer Stellungnahme zum Auslieferungsentscheid. Der Beschwerdeführer antwortete: „Ich nehme das zur Kenntnis. Ich muss das aber über einen Anwalt machen.“ (act. 19.7, 12. Frage). Am 25. Oktober 2016 ernannte das BJ sodann RA Nellen zum amtlichen Rechtsbeistand. In der Zwischenzeit war der Beschwerdeführer „in rechtlichen, gesundheitlichen und finanziellen“ Belangen durch B. vertreten, welcher am 23. September 2016 eine Vollmacht eingereicht hatte (act. 19.9). Der Beschwerdeführer wurde darüber aufgeklärt, dass es sich bei Herrn B. nicht um einen Rechtsanwalt handle (act. 19.7, 4. Frage). Das Argument, der Beschwerdeführer wäre ohne Sprachkenntnisse und ohne rechtliche Kenntnisse auf sich allein gestellt gewesen, geht damit fehl. Schliesslich hatte der Beschwerdeführer die Möglichkeit, Beschwerde gegen den Entscheid des BJ beim hiesigen Gericht einzureichen, was er offenkundig wahrgenommen hat.
Damit wäre auch dieser Rüge mutmasslich kein Erfolg beschieden gewesen und die Beschwerde wäre insgesamt abgewiesen worden.
8. Den vorstehenden Erwägungen ist zu entnehmen, dass die Beschwerde als aussichtslos hätte beurteilt werden müssen. Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtsvertretung ist deshalb abzuweisen (Art. 65 Abs. 1

9. Der Beschwerdeführer beantragt eine Entschädigung für ungerechtfertigte Haft (act. 7). Nach Art. 15 Abs. 1



10. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 63



Demnach erkennt die Beschwerdekammer:
1. Das Verfahren RR.2016.285 wird als gegenstandslos geworden vom Geschäftsverzeichnis abgeschrieben.
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
3. Die Gerichtsgebühr von Fr. 1‘000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
Bellinzona, 7. Juni 2017
Im Namen der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
Zustellung an
- Rechtsanwalt Dominic Nellen
- Bundesamt für Justiz, Fachbereich Auslieferung
- Bundesgericht, I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Rechtsmittelbelehrung
Gegen Entscheide auf dem Gebiet der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen kann innert zehn Tagen nach der Eröffnung der vollständigen Ausfertigung beim Bundesgericht Beschwerde eingereicht werden (Art. 100 Abs. 1


Gegen einen Entscheid auf dem Gebiet der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen ist die Beschwerde nur zulässig, wenn er eine Auslieferung, eine Beschlagnahme, eine Herausgabe von Gegenständen oder Vermögenswerten oder eine Übermittlung von Informationen aus dem Geheimbereich betrifft und es sich um einen besonders bedeutenden Fall handelt (Art. 84 Abs. 1

