Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
8C 317/2010
Urteil vom 3. August 2010
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Frésard, Maillard,
Gerichtsschreiber Grunder.
Verfahrensbeteiligte
Zürich Versicherungs-Gesellschaft, Postfach, 8085 Zürich,
vertreten durch Rechtsanwalt Adelrich Friedli, Stationsstrasse 66a, 8907 Wettswil,
Beschwerdeführerin,
gegen
S.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Christoph Kradolfer,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Unfallversicherung (Unfallbegriff),
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 17. März 2010.
Sachverhalt:
A.
Der seit 1982 als Primarlehrer erwerbstätige S.________ (Jg. 1961) liess der Zürich Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Zürich), bei welcher er gegen die Folgen von Unfällen obligatorisch versichert war, am 17. August 2007 melden, er sei am 28. Juli 2007 in den Erfassungsbereich eines auf dem Nachbargrundstück installierten "Ultraschallgerätes" gelangt, dessen dadurch ausgelöster Alarmton mit einem Schalldruck von 120 dB und einer Frequenz von 8 kHz sein Gehör geschädigt habe (Tinnitus). Die Zürich holte ärztliche Auskünfte ein und verneinte mit Verfügung vom 18. September 2007 einen Leistungsanspruch mit der Begründung, es liege weder ein Unfall noch eine unfallähnliche Körperschädigung im Rechtssinne vor. Auf Einsprache hin liess die Zürich an einem Modell des fraglichen Apparates Messungen der davon ausgehenden Lärmbelastung durchführen (Technische Beurteilung der SUVA, Bereich Physik - Team Akustik vom 21. Juli 2008 und Stellungnahme vom 17. Dezember 2008) und bestellte danach eine fachmedizinische Begutachtung (Expertise des Prof. Dr. Dr. A.________, Stationsleiter Audiologie, Universitäts-Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten [HNO] sowie Kopf- und Halschirurgie des Spitals X.________ vom 24. Juni 2009). Mit
Entscheid vom 14. September 2009 wies sie die Einsprache ab.
B.
In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde bejahte das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau das Vorliegen eines Unfalles im Sinne von Art. 4
SR 830.1 Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) ATSG Art. 4 Unfall - Unfall ist die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper, die eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit oder den Tod zur Folge hat. |
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt die Zürich beantragen, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.
Sowohl S.________ als auch die Vorinstanz schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
1.1 Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz BGG Art. 95 Schweizerisches Recht - Mit der Beschwerde kann die Verletzung gerügt werden von: |
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a | Bundesrecht; |
b | Völkerrecht; |
c | kantonalen verfassungsmässigen Rechten; |
d | kantonalen Bestimmungen über die politische Stimmberechtigung der Bürger und Bürgerinnen und über Volkswahlen und -abstimmungen; |
e | interkantonalem Recht. |
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz BGG Art. 96 Ausländisches Recht - Mit der Beschwerde kann gerügt werden: |
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a | ausländisches Recht sei nicht angewendet worden, wie es das schweizerische internationale Privatrecht vorschreibt; |
b | das nach dem schweizerischen internationalen Privatrecht massgebende ausländische Recht sei nicht richtig angewendet worden, sofern der Entscheid keine vermögensrechtliche Sache betrifft. |
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz BGG Art. 106 Rechtsanwendung - 1 Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an. |
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1 | Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an. |
2 | Es prüft die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht nur insofern, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist. |
1.2 Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz BGG Art. 97 Unrichtige Feststellung des Sachverhalts - 1 Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann. |
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1 | Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann. |
2 | Richtet sich die Beschwerde gegen einen Entscheid über die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung, so kann jede unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden.86 |
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz BGG Art. 105 Massgebender Sachverhalt - 1 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. |
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1 | Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. |
2 | Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht. |
3 | Richtet sich die Beschwerde gegen einen Entscheid über die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung, so ist das Bundesgericht nicht an die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz gebunden.95 |
2.
Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdegegner einen Unfall im Rechtssinne erlitten hat. Die Zürich räumt ein, dass vier der fünf Merkmale des Unfallbegriffs - Körperverletzung, äussere Einwirkung, Plötzlichkeit und fehlende Absicht (vgl. Art. 4
SR 830.1 Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) ATSG Art. 4 Unfall - Unfall ist die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper, die eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit oder den Tod zur Folge hat. |
3.
3.1
3.1.1 Gemäss den Akten vernahm der Versicherte am 27. oder 28. Juli 2007 abends einen ihm unbekannten Pfeifton. Als er sich dem vermuteten Standort der Lärmquelle näherte, löste er den automatisch gesteuerten Einschaltmechanismus des auf dem Nachbargrundstück installierten Marderschutzgerätes aus, welches ein von ihm als unerträglich empfundenes akustisches Signal, vergleichbar einem Knall, aussandte.
3.1.2 Die Vorinstanz erwog, dem Beschwerdegegner sei nicht bekannt gewesen, dass sein Nachbar einen solchen Apparat installiert habe, weshalb er, als er sich diesem näherte, nicht mit einer Gehörbelastung rechnen konnte und musste. Aus medizinischer Sicht sei der Kausalzusammenhang zwischen den geltend gemachten Gehörbeschwerden und dem Vorfall vom 28. Juli 2007 anscheinend ausgewiesen, weshalb die physikalischen Berechnungen der SUVA zur Schallbelastung, die zum einen auf strittigen Schätzungen zur Expositionsdauer, zum anderen explizit auf einer rein technischen Betrachtungsweise beruhten, von untergeordneter Bedeutung seien.
3.1.3 Die Zürich bringt vor, unerwartete Einwirkungen auf den menschlichen Köper im Alltagsleben träten häufig auf, ohne dass sie deswegen schon ungewöhnlich seien. Ein Tinnitus könne durch jederzeit vorkommende vielfältige Beschallungen und Druckveränderungen entstehen. Der Pfeifton des Marderschutzgerätes sei zudem nicht ungewöhnlich laut gewesen, zumal der Nachbar des Beschwerdegegners diesen nicht habe hören können.
3.1.4 Der Beschwerdegegner wendet in der Vernehmlassung vor allem ein, das Marderschutzgerät sei im Zeitpunkt des geltend gemachten Vorfalles falsch eingestellt gewesen, was fachmedizinisch von mehreren Ärzten bestätigt worden sei. Daher sei die technische Expertise der SUVA wenig aussagekräftig.
3.2 Sowohl die Betrachtungsweise der Vorinstanz als auch diejenige des Beschwerdegegners überzeugen nicht. Erstere übersieht, dass sich das Unfallbegriffsmerkmal der Ungewöhnlichkeit nicht auf die Wirkung des äusseren Faktors bezieht, sondern nur auf diesen selber, weshalb die Schallmessungen der SUVA mit einem Modell des fraglichen Apparates nicht ohne Weiteres vernachlässigt werden können. Vor allem aufgrund der von dieser festgestellten Schallemissionen kann beurteilt werden, ob der unbestritten plötzlich aufgetretene Lärmpegel ungewöhnlich im Sinne der Rechtsprechung zum Unfallbegriff gewesen war. Der Beschwerdegegner übersieht zum einen, dass die SUVA seine Einwände in Bezug auf die Messmethode mit Stellungnahme vom 17. Dezember 2008 unter Beantwortung aller Fragen entkräftet hat. Insgesamt ist daher mit der Zürich festzuhalten, dass sich am 28. Juli 2007 nichts Ungewöhnliches im Sinne des Unfallbegriffs nach Art. 4
SR 830.1 Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) ATSG Art. 4 Unfall - Unfall ist die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper, die eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit oder den Tod zur Folge hat. |
2010 (Urteil vom 21. Mai 2010 E. 3.2.1), wo bei einem maximalen Schallpegel von 111 dB die Grenzwerte für eine Gehörgefährdung bei Schallexposition durch ein Marderschutzgerät deutlich unterschritten wurde. Der in jenem Fall von der SUVA beigezogene Experte stellte klar, dass aus fachmedizinischer Sicht nur Knalltraumata mit Spitzenwerten zwischen 160 bis 190 dB in Betracht fallen. Es ist nicht ersichtlich, weshalb davon im vorliegenden Fall, in dem die technische Lärmbeurteilung eines Exemplars des fraglichen Marderschutzgerätes sowohl auf der einstellbaren Frequenz von 8 wie 16 kHz lediglich Spitzenwerte von 108 bzw. 113 dB erreichte, abgewichen werden soll. Prof. Dr. Dr. A.________ ging in seinem Gutachten vom 24. Juni 2009 trotz entsprechender Fragestellung der Zürich darauf nicht ein; er nahm einzig Stellung zur natürlichen Kausalität der geltend gemachten Beschwerden mit dem Ereignis vom 27. oder 28. Juli 2007 (Gutachten vom 24. Juni 2009). Insgesamt betrachtet ist nicht mit der im Sozialversicherungsrecht erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachweisbar, dass dem Beschwerdegegner anlässlich des Ereignisses vom 28. Juli 2007 etwas Ungewöhnliches (vgl. dazu auch RKUV 2006 Nr. U 578 S. 170) widerfuhr, weshalb es an
einer Voraussetzung für das Vorliegen des Unfallbegriffs fehlt.
4.
Die Gerichtskosten sind dem unterliegenden Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz BGG Art. 66 Erhebung und Verteilung der Gerichtskosten - 1 Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben. |
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1 | Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben. |
2 | Wird ein Fall durch Abstandserklärung oder Vergleich erledigt, so kann auf die Erhebung von Gerichtskosten ganz oder teilweise verzichtet werden. |
3 | Unnötige Kosten hat zu bezahlen, wer sie verursacht. |
4 | Dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden sowie mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen dürfen in der Regel keine Gerichtskosten auferlegt werden, wenn sie in ihrem amtlichen Wirkungskreis, ohne dass es sich um ihr Vermögensinteresse handelt, das Bundesgericht in Anspruch nehmen oder wenn gegen ihre Entscheide in solchen Angelegenheiten Beschwerde geführt worden ist. |
5 | Mehrere Personen haben die ihnen gemeinsam auferlegten Gerichtskosten, wenn nichts anderes bestimmt ist, zu gleichen Teilen und unter solidarischer Haftung zu tragen. |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
In Gutheissung der Beschwerde wird der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 17. März 2010 aufgehoben.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 3. August 2010
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Ursprung Grunder