Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C 90/2013

Urteil vom 2. Mai 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
Avenir Krankenversicherung AG, Rechtsdienst, Rue des Cèdres 5, 1920 Martigny,
Beschwerdeführerin,

gegen

W.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Daniel J. Senn,
Beschwerdegegner,

Vivao Sympany AG, Thurgauerstrasse 40, 8050 Zürich.

Gegenstand
Krankenversicherung (Versicherungspflicht; Wechsel Krankenversicherer),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 11. Dezember 2012.

Sachverhalt:

A.
A.a Im Rahmen eines Beratungsgesprächs vom 23. März 2010 mit einem Versicherungsvermittler unterzeichneten W.________ und seine Ehefrau E.________ je für sich und für ihre Kinder S.________ und V.________ verschiedene Formulare der Groupe Mutuel, u.a. eine "Beitrittserklärung" für die Krankenpflegeversicherung gemäss KVG auf den 1. Januar 2011. Am 7. April 2010 bestätigte die Groupe Mutuel durch die ihr angehörende SKBH Schweizerische Krankenkasse für das Bau- und Holzgewerbe gegenüber der Concordia Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung AG, bei welcher die Familie W.________ (noch) obligatorisch krankenpflegeversichert war, dass ab 1. Januar 2011 die vom KVG vorgeschriebenen Leistungen bei ihr versichert seien. Mit Schreiben vom 9. April 2010 hiess sie W.________ und seine Familie im Versichertenkreis willkommen, unter Angabe der Versicherungszweige und Monatsprämien. Am 12. April 2010 führte W.________ mit dem Vermittler ein Telefongespräch.

Am 1. Juni 2010 unterzeichneten W.________, seine Ehefrau E.________ und ihr Sohn V.________ je einen Neuantrag der Vivao Sympany AG für die obligatorische Krankenpflegeversicherung und gewisse Zusatzversicherungen ab dem 1. Januar 2011.
A.b Am 22. Oktober 2010 erhielt W.________ von der Groupe Mutuel die Policen zugestellt. Diese sandte er drei Tage später zurück mit der Begründung, der damalige Vermittler habe mehrmals erklärt, es handle sich lediglich um "Offertanfragen" und nicht um eine Unterschrift auf den Anträgen. Er und seine Ehefrau seien nicht bereit, auf Versicherungsverträge einzugehen, die sie nie gewollt hätten und auch nicht wollten. Die innerhalb der Groupe Mutuel verantwortliche Avenir Krankenversicherung AG weigerte sich indessen, die Versicherungsverträge aufzulösen.
A.c Am .... und .... 2011 (Ausstellungsdatum der Zahlungsbefehle) setzte die Avenir Krankenversicherung AG gegen W.________ die Prämien für das erste Halbjahr und für das dritte Quartal in Betreibung. Mit Verfügungen vom 9. November und 23. Dezember 2011 hob sie den dagegen jeweils erhobenen Rechtsvorschlag auf. Die Einsprachen wies sie mit Entscheid vom 1. Februar 2012 ab.

B.
In Gutheissung der Beschwerde von W.________ hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen den Einspracheentscheid vom 1. Februar 2012 sowie die Betreibungen Nr. ..... für die Summe von Fr. 2'211.10 nebst Zins zu 5 % auf dem Betrag von Fr. 1'898.10 ab dem 2. September 2011 und Nr. ..... des Betreibungsamtes X.________ auf, wobei es feststellte, dass mit der Avenir Krankenversicherung AG kein Versicherungsverhältnis für die obligatorische Krankenpflegeversicherung zustande gekommen sei (Entscheid vom 11. Dezember 2012).

C.
Die Avenir Krankenversicherung AG führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 11. Dezember 2012 sei aufzuheben, und es sei festzustellen, dass W.________ und Familie ab 1. Januar 2011 bei ihr krankenversichert seien; eventualiter sei die Sache zur weiteren Abklärung an das kantonale Versicherungsgericht zurückzuweisen.

W.________ beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das kantonale Versicherungsgericht, das Bundesamt für Gesundheit und auch die Vivao Sympany AG haben keine Vernehmlassung eingereicht.

Erwägungen:

1.
Streitgegenstand bildet die Frage, ob die Vorinstanz die Forderung der Beschwerdeführerin betreffend Prämien der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für die Monate Januar bis September 2011 gegen den Beschwerdegegner zu Recht mangels eines rechtsgültig zustande gekommenen Versicherungsverhältnisses als unbegründet abgewiesen und die diesbezüglichen Betreibungen aufgehoben hat. In diesem Sinne ist das Feststellungsbegehren in der Beschwerde aufzufassen. Unbestritten ist, dass die Voraussetzungen für einen Wechsel des Beschwerdegegners und seiner Familie zur Beschwerdeführerin auf den 1. Januar 2011 gegeben sind (vgl. Art. 4
SR 832.10 Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG)
KVG Art. 4 Wahl des Versicherers - Die versicherungspflichtigen Personen können unter den Versicherern, die nach dem KVAG20 eine Bewilligung zur Durchführung der sozialen Krankenversicherung haben, frei wählen.
und 7
SR 832.10 Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG)
KVG Art. 7 Wechsel des Versicherers - 1 Die versicherte Person kann unter Einhaltung einer dreimonatigen Kündigungsfrist den Versicherer auf das Ende eines Kalendersemesters wechseln.
1    Die versicherte Person kann unter Einhaltung einer dreimonatigen Kündigungsfrist den Versicherer auf das Ende eines Kalendersemesters wechseln.
2    Bei der Mitteilung der neuen Prämie kann die versicherte Person den Versicherer unter Einhaltung einer einmonatigen Kündigungsfrist auf das Ende des Monats wechseln, welcher der Gültigkeit der neuen Prämie vorangeht. Der Versicherer muss die neuen, vom Bundesamt für Gesundheit29 (BAG)30 genehmigten Prämien jeder versicherten Person mindestens zwei Monate im Voraus mitteilen und dabei auf das Recht, den Versicherer zu wechseln, hinweisen.31
3    Muss die versicherte Person einen Versicherer verlassen, weil sie ihren Wohnort verlegt oder die Stelle wechselt, so endet das Versicherungsverhältnis im Zeitpunkt der Verlegung des Wohnortes oder des Stellenantritts beim neuen Arbeitgeber.
4    Führt ein Versicherer die soziale Krankenversicherung freiwillig oder aufgrund eines behördlichen Entscheides nicht mehr durch, so endet das Versicherungsverhältnis mit dem Entzug der Bewilligung nach Artikel 43 KVAG32.33
5    Das Versicherungsverhältnis endet beim bisherigen Versicherer erst, wenn ihm der neue Versicherer mitgeteilt hat, dass die betreffende Person bei ihm ohne Unterbrechung des Versicherungsschutzes versichert ist. Unterlässt der neue Versicherer diese Mitteilung, so hat er der versicherten Person den daraus entstandenen Schaden zu ersetzen, insbesondere die Prämiendifferenz. Sobald der bisherige Versicherer die Mitteilung erhalten hat, informiert er die betroffene Person, ab welchem Zeitpunkt sie nicht mehr bei ihm versichert ist.
6    Wenn der bisherige Versicherer den Wechsel des Versicherers verunmöglicht, hat er der versicherten Person den daraus entstandenen Schaden zu ersetzen, insbesondere die Prämiendifferenz.34
7    Der bisherige Versicherer darf eine versicherte Person nicht dazu zwingen, bei einem Wechsel des Versicherers auch die bei ihm abgeschlossenen Zusatzversicherungen im Sinne von Artikel 2 Absatz 2 KVAG zu kündigen.35
8    Der Versicherer darf einer versicherten Person die bei ihm abgeschlossenen Zusatzversicherungen nach Artikel 2 Absatz 2 KVAG nicht allein aufgrund der Tatsache kündigen, dass die versicherte Person den Versicherer für die soziale Krankenversicherung wechselt.36
KVG).

2.
Nach den verbindlichen, insoweit unbestrittenen Feststellungen der Vorinstanz (Art. 105 Abs. 1
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 105 Massgebender Sachverhalt - 1 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat.
1    Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat.
2    Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht.
3    Richtet sich die Beschwerde gegen einen Entscheid über die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung, so ist das Bundesgericht nicht an die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz gebunden.95
und 2
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 105 Massgebender Sachverhalt - 1 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat.
1    Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat.
2    Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht.
3    Richtet sich die Beschwerde gegen einen Entscheid über die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung, so ist das Bundesgericht nicht an die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz gebunden.95
BGG) unterzeichnete der Beschwerdegegner am 23. März 2010 zunächst ein Beratungsprotokoll, gemäss welchem er unter anderem bestätigte, vom Vermittler darüber informiert worden zu sein, "dass es sich nicht um eine Offertanfrage, sondern um einen formellen Antrag auf den Abschluss eines Versicherungsvertrages beim betreffenden Versicherer handelt". Die Bestätigung erfolgte durch Ankreuzen eines entsprechenden Kästchens, ebenso wie die dem Vermittler erteilte Erlaubnis, die unterzeichneten Kündigungsbriefe weiterzuleiten. Dem Schriftbild nach hatte der Vermittler die Häkchen gesetzt, der Beschwerdegegner selbst lediglich das Protokoll unterschrieben. Dasselbe galt für die Antragsformulare, insbesondere auch dasjenige betreffend die obligatorische Krankenpflegeversicherung. Aus diesem Formular selbst gehe, so die Vorinstanz weiter, abgesehen vom Titel "Beitrittserklärung" nicht hervor, dass es sich um einen formellen Antrag gehandelt habe. Es sei jedenfalls nichts Entsprechendes vermerkt. Dem Formular allein lasse sich mit anderen Worten - im Unterschied zum Formular betreffend Zusatzversicherungen - nicht entnehmen, ob damit eine
Offertanfrage oder ein formeller Versicherungsantrag gestellt werde.

Weiter hat die Vorinstanz erwogen, hätte der Beschwerdeführer die von ihm unterzeichneten Formulare sorgfältig durchgelesen, hätte ihm bewusst sein müssen, dass er - auch in Bezug auf die obligatorische Krankenpflegeversicherung - keine Offertanfrage, sondern einen formellen Versicherungsantrag stelle. Mit seiner Erklärung habe er sich daher zum Abschuss und zur Einhaltung der entsprechenden Verträge verpflichtet. Es sei allerdings notorisch, dass gewisse Vermittler anlässlich der persönlichen Beratungsgespräche die potenziellen Versicherungskunden über die Tragweite ihrer Erklärungen (Unterzeichnung eines formellen Versicherungsantrages) im Unklaren liessen bzw. bisweilen gar absichtlich täuschen würden. Mehrere Umstände sprächen dafür, dass es sich im vorliegenden Fall so verhalten habe. Insbesondere habe der Beschwerdeführer wiederholt und glaubhaft geltend gemacht, er sei vom Vermittler unter Druck gesetzt und bewusst getäuscht worden. Unter diesen Umständen habe die abgegebene Willenserklärung nicht seinem tatsächlichen Willen entsprochen, und er sei demzufolge nicht daran gebunden.

3.
Der Beschwerde führende Krankenversicherer rügt, die Vorinstanz habe den (rechtserheblichen) Sachverhalt offensichtlich unrichtig und in Verletzung von Art. 29 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
1    Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
2    Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör.
3    Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand.
BV einseitig festgestellt und daraus die falschen Schlüsse gezogen (Art. 95 lit. a
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 95 Schweizerisches Recht - Mit der Beschwerde kann die Verletzung gerügt werden von:
a  Bundesrecht;
b  Völkerrecht;
c  kantonalen verfassungsmässigen Rechten;
d  kantonalen Bestimmungen über die politische Stimmberechtigung der Bürger und Bürgerinnen und über Volkswahlen und -abstimmungen;
e  interkantonalem Recht.
und Art. 97 Abs. 1
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 97 Unrichtige Feststellung des Sachverhalts - 1 Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann.
1    Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann.
2    Richtet sich die Beschwerde gegen einen Entscheid über die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung, so kann jede unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden.86
BGG).

4.
4.1
4.1.1 Die Unverbindlichkeit des vorinstanzlich festgestellten formellen Versicherungsantrages für den Beschwerdegegner setzt von hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen einen Willensmangel voraus. Das kantonale Versicherungsgericht erwähnt in diesem Zusammenhang Art. 23
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 23 - Der Vertrag ist für denjenigen unverbindlich, der sich beim Abschluss in einem wesentlichen Irrtum befunden hat.
OR ("Irrtum") und Art. 28
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 28 - 1 Ist ein Vertragschliessender durch absichtliche Täuschung seitens des andern zu dem Vertragsabschlusse verleitet worden, so ist der Vertrag für ihn auch dann nicht verbindlich, wenn der erregte Irrtum kein wesentlicher war.
1    Ist ein Vertragschliessender durch absichtliche Täuschung seitens des andern zu dem Vertragsabschlusse verleitet worden, so ist der Vertrag für ihn auch dann nicht verbindlich, wenn der erregte Irrtum kein wesentlicher war.
2    Die von einem Dritten verübte absichtliche Täuschung hindert die Verbindlichkeit für den Getäuschten nur, wenn der andere zur Zeit des Vertragsabschlusses die Täuschung gekannt hat oder hätte kennen sollen.
OR ("Absichtliche Täuschung"), ohne indessen darzulegen, inwiefern die diesbezüglichen tatbeständlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Nach der Rechtsprechung sind die Art. 23 ff
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 23 - Der Vertrag ist für denjenigen unverbindlich, der sich beim Abschluss in einem wesentlichen Irrtum befunden hat.
. OR ("Mängel des Vertragsabschlusses") im öffentlichen Recht nicht direkt anwendbar; als Ausdruck allgemeiner Rechtsgrundsätze sind sie jedoch insoweit zu beachten, als sich die Regelung als sachgerecht erweist (Urteil 1A.64/2005 vom 25. Mai 2005 E. 2.3.1 mit Hinweisen). Die Erheblichkeit von Willensmängeln gilt insbesondere bei Erklärungen Privater, die öffentlichrechtliche Wirkungen auslösen können, wobei der zugrunde liegende Irrtum nicht von ihnen verschuldet worden sein darf (Urteil 2A.532/2000 vom 12. März 2001 E. 2b mit Hinweisen, u.a. auf BGE 98 V 255 E. 2 S. 257 f.).

Die Vorinstanz hat die Mangelhaftigkeit des Vertragsabschlusses vorab damit begründet, es sei notorisch, dass gewisse Vermittler anlässlich der persönlichen Beratungsgespräche die potenziellen Versicherungskunden über die Tragweite ihrer Erklärungen (Unterzeichnung eines formellen Versicherungsantrages) im Unklaren liessen bzw. bisweilen gar absichtlich täuschen würden. Zum Beleg dafür, dass dieser nach ihrer Auffassung gültige Erfahrungssatz auch im konkreten Fall anwendbar ist, führt sie verschiedene Umstände an, von denen jedoch lediglich einer das Beratungsgespräch vom 23. März 2010 betrifft. Alle übrigen Umstände betreffen das Verhalten des Beschwerdegegners, nachdem ihm am 9. April 2010 von der Groupe Mutuel (durch die SKBH) mitgeteilt worden war, dass er und seine Familie ab 1. Januar 2011 u.a. im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung neu bei ihr versichert seien. Sie erlauben zwar allenfalls Rückschlüsse auf seinen behaupteten wirklichen Willen - lediglich eine Offertanfrage zu stellen - im damaligen Zeitpunkt (Urteil 5C.31/2006 vom 10. Juli 2006 E. 4.1), sie sind jedoch für die Frage eines Willensmangels (Irrtum oder Täuschung) bei der Unterzeichnung des Formulars betreffend die obligatorische
Krankenpflegeversicherung und des Beratungsprotokolls nicht von entscheidender Bedeutung.
4.1.2 Der einzige Umstand, der zur Unverbindlichkeit des am 23. März 2010 unterzeichneten formellen Versicherungsantrages führen soll, ist somit darin zu erblicken, dass nach vorinstanzlicher Feststellung der Vermittler sämtliche Formulare selbst ausfüllte und den Beschwerdegegner und dessen Ehefrau diese lediglich unterschreiben liess. Die wohl nicht selten anzutreffende Vorgehensweise von Vermittlern, die notwendigen Dokumente (für eine Offertanfrage oder einen Versicherungsantrag) zwar im Beisein der potenziellen Versicherungsnehmer, so weit als möglich aber selber für diese auszufüllen, stellt für sich allein genommen kein irreführendes oder täuschendes Verhalten dar. Andere Vorkommnisse anlässlich des konkreten Beratungsgesprächs, welche diesen Schluss zu stützen vermöchten, hat die Vorinstanz nicht angeführt. Insbesondere hat sie nicht festgestellt und es bestehen auch keine diesbezüglichen Anhaltspunkte in den Akten, der Vermittler habe Druck auf den Beschwerdegegner und seine Ehefrau ausgeübt und sie etwa in vorgespielter Eile davon abgehalten oder sogar in irgendwelcher Weise daran gehindert, die ausgefüllten Dokumente vor dem Unterzeichnen aufmerksam und in Ruhe durchzulesen. Die Beschwerdeführerin bringt vor, es seien
bei ihr abgesehen vom konkreten Fall bisher keine Klagen zum Verhalten des zur Diskussion stehenden Vermittlers eingegangen. Ebenfalls hat die Vorinstanz keine den konkreten Vermittler betreffende ähnliche Vorfälle erwähnt. Selbst wenn der Beschwerdegegner und seine Ehefrau davon ausgegangen sein sollten, es handle sich lediglich um eine Offertanfrage, ist kein Grund ersichtlich, das vom Vermittler Angekreuzte und die Angaben u.a. zur Person sowie zur gewünschten Art der Versicherung (Einzel oder Kollektiv), zum Versicherungsmodell und zur Jahresfranchise nicht auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Im Übrigen hätte die Vorinstanz begründen müssen, inwiefern das angeblich fragwürdige (irreführende oder täuschende) Vorgehen der Vermittler in einer Vielzahl von Fällen gerade für den Beschwerdegegner und seine Ehefrau keine allgemein bekannte Tatsache ("notorisch" [= offenkundig, allbekannt; berüchtigt; vgl. Duden Band 1, Die deutsche Rechtschreibung, 25. Aufl. 2009, S. 783) darstellte und sie daher nicht zu entsprechender besonderer Vorsicht und Aufmerksamkeit angehalten waren.

Die Einrede der Unverbindlichkeit des am 23. März 2010 unterzeichneten formellen Versicherungsantrags betreffend die obligatorische Krankenpflegeversicherung wegen Willensmängel ist somit unbegründet. Der vorinstanzliche Entscheid verletzt in diesem Punkt Bundesrecht.
4.2
4.2.1 Das Verhalten des Beschwerdegegners nach der Mitteilung der SKBH vom 9. April 2010 ist ein Indiz dafür, dass sein wirklicher Wille tatsächlich lediglich auf eine Anfrage zur Offertstellung gerichtet war (vgl. E. 4.1.1). In diesem Sinne will er die Unterzeichnung des betreffenden Formulars anlässlich des Beratungsgesprächs vom 23. März 2010 denn auch verstanden haben. Nach dem hier anwendbaren Vertrauensprinzip ist jedoch entscheidend, ob auch die Gegenseite dieses Verhalten so verstehen musste. Es kommt somit darauf an, wie die Tatsache, dass er das vom Vermittler mit ihm und seiner Ehefrau zusammen bzw. in deren Beisein ausgefüllte Dokument unterzeichnete, vom Empfänger in guten Treuen verstanden werden durfte und musste. Massgebend ist nicht sein innerer Wille, sondern der objektive Sinn, den ein vernünftiger und korrekter Mensch seinem Erklärungsverhalten beimessen durfte. Diese Frage beurteilt sich nach den gesamten Umständen, die mit dem Ausfüllen und Unterzeichen des Formulars betreffend die obligatorische Krankenpflegeversicherung zusammenhängen (Urteile 4A 456/2009 vom 3. Mai 2010 E. 3.3.1 und 4A 437/2007 vom 5. Februar 2008 E. 2.4, je mit Hinweisen).
4.2.2 Die Vorinstanz hat festgestellt, bei sorgfältigem Durchlesen der Formulare hätte dem Beschwerdeführer bewusst sein müssen, dass er (auch) in Bezug auf die obligatorische Krankenpflegeversicherung keine Offertanfrage, sondern einen formellen Versicherungsantrag stellte (vgl. E. 2). Diese Feststellung ist - zu Recht - unwidersprochen geblieben. Auf der die Unterschrift tragenden Rückseite des betreffenden Formulars steht in der Mitte gut sichtbar, hinsichtlich Schriftgrösse und Fettdruck vom übrigen Text abgehoben "Beitrittserklärung". Darunter kann auch nach allgemeinem Sprachgebrauch nichts anderes verstanden werden als die Erklärung, sich bei der Beschwerdeführerin im Sinne von Art. 3 Abs. 1
SR 832.10 Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG)
KVG Art. 3 Versicherungspflichtige Personen - 1 Jede Person mit Wohnsitz in der Schweiz muss sich innert drei Monaten nach der Wohnsitznahme oder der Geburt in der Schweiz für Krankenpflege versichern oder von ihrem gesetzlichen Vertreter beziehungsweise ihrer gesetzlichen Vertreterin versichern lassen.
1    Jede Person mit Wohnsitz in der Schweiz muss sich innert drei Monaten nach der Wohnsitznahme oder der Geburt in der Schweiz für Krankenpflege versichern oder von ihrem gesetzlichen Vertreter beziehungsweise ihrer gesetzlichen Vertreterin versichern lassen.
2    Der Bundesrat kann Ausnahmen von der Versicherungspflicht vorsehen, namentlich für Personen, die im Sinne von Artikel 2 Absatz 2 des Gaststaatgesetzes vom 22. Juni 200713 mit Vorrechten, Immunitäten und Erleichterungen begünstigt sind.14
3    Er kann die Versicherungspflicht auf Personen ohne Wohnsitz in der Schweiz ausdehnen, insbesondere auf solche, die:
a  in der Schweiz tätig sind oder dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt (Art. 13 Abs. 2 ATSG16) haben;
b  im Ausland von einem Arbeitgeber mit einem Sitz in der Schweiz beschäftigt werden.
4    Die Versicherungspflicht wird sistiert für Personen, die während mehr als 60 aufeinander folgenden Tagen dem Bundesgesetz vom 19. Juni 199217 über die Militärversicherung (MVG) unterstellt sind. Der Bundesrat regelt das Verfahren.18
KVG für Krankenpflege versichern lassen zu wollen. Umgekehrt ist der vorformulierte Text nicht derart verfasst und das Formular nicht in einer Weise gestaltet, dass die Idee aufkommen könnte, es gehe lediglich um eine eigene Offertstellung (vgl. BGE 133 III 607 E. 2.2 S. 610 [Unklarheits- und Ungewöhnlichkeitsregel]). Dagegen spricht auch, dass der Vermittler die (voraussichtliche) Höhe der Monatsprämie angab, was bei einer blossen Offertanfrage wenig oder sogar keinen Sinn gemacht hätte, wie die Beschwerdeführerin vorbringt. Es kommt
dazu, dass im Beratungsprotokoll in der Mitte deutlich abgehoben vom übrigen Text (grösseres Schriftbild, Fettdruck) "Bestätigung des Antragstellers" stand. Unten auf der Seite unmittelbar über den Zeilen für Ort und Datum sowie die Unterschrift des Kunden und des Vermittlers wurde unter "Wichtige Mitteilung" u.a. festgehalten: "Mit meiner Unterschrift bestätige ich, dass (...) die abgeschlossenen Produkte meinem Wunsch und meinen Bedürfnissen entsprechen (...)". Die Begriffe "Antragstellung" und "abgeschlossene Produkte" können nur in dem Sinne verstanden werden, dass es bei der Beratung nicht bloss um das Einholen einer Offerte beim potenziellen Versicherungsnehmer ging, sondern um einen konkreten Antrag auf Abschluss einer Versicherung im Sinne des Wechsels zu einem anderen Krankenversicherer. Bei dieser klaren Sachlage ist das Verhalten des Beschwerdegegners nach der Mitteilung der SKBH vom 9. April 2010, dass er und seine Familie ab 1. Januar 2011 neu bei der Groupe Mutuel u.a. obligatorisch krankenpflegeversichert seien, ohne Relevanz, und es ist darauf nicht weiter einzugehen. Immerhin ist - wiewohl nicht streitentscheidend - nur schwer nachvollziehbar, dass der Beschwerdegegner auf dieses Schreiben hin lediglich mit dem
Vermittler telefonierte, den er später als Lügner bezeichnete, und sich nicht direkt schriftlich an den neuen Krankenversicherer wandte.

Am Ergebnis, dass das Verhalten des Beschwerdegegners als formelle Antragstellung zu betrachten ist, änderte nichts, wenn aufgrund der Tatsache, dass der Vermittler die erforderlichen Angaben u.a. zur Person, zur Art der Versicherung (Einzel oder Kollektiv), zum Versicherungsmodell mit Höhe der Monatsprämie und zur Jahresfranchise selber im Formular eintrug, von einem Versicherungsantrag seitens des Krankenversicherers ausgegangen würde.

4.3 Nach dem Gesagten waren somit der Beschwerdegegner und seine Familie ab 1. Januar 2011 bei der Beschwerdeführerin obligatorisch krankenpflegeversichert. Die Höhe der Prämien für die ersten drei Quartale dieses Jahres sind nicht bestritten. Die Vorinstanz hätte somit der Beschwerdeführerin in den diesbezüglich angehobenen Betreibungen im gesetzlichen Umfang definitive Rechtsöffnung erteilen und die Beschwerde gegen den Einspracheentscheid vom 1. Februar 2012 abweisen müssen. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist begründet.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdegegner die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 66 Erhebung und Verteilung der Gerichtskosten - 1 Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben.
1    Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben.
2    Wird ein Fall durch Abstandserklärung oder Vergleich erledigt, so kann auf die Erhebung von Gerichtskosten ganz oder teilweise verzichtet werden.
3    Unnötige Kosten hat zu bezahlen, wer sie verursacht.
4    Dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden sowie mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen dürfen in der Regel keine Gerichtskosten auferlegt werden, wenn sie in ihrem amtlichen Wirkungskreis, ohne dass es sich um ihr Vermögensinteresse handelt, das Bundesgericht in Anspruch nehmen oder wenn gegen ihre Entscheide in solchen Angelegenheiten Beschwerde geführt worden ist.
5    Mehrere Personen haben die ihnen gemeinsam auferlegten Gerichtskosten, wenn nichts anderes bestimmt ist, zu gleichen Teilen und unter solidarischer Haftung zu tragen.
BGG). Die obsiegende Beschwerdeführerin hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 68 Parteientschädigung - 1 Das Bundesgericht bestimmt im Urteil, ob und in welchem Mass die Kosten der obsiegenden Partei von der unterliegenden zu ersetzen sind.
1    Das Bundesgericht bestimmt im Urteil, ob und in welchem Mass die Kosten der obsiegenden Partei von der unterliegenden zu ersetzen sind.
2    Die unterliegende Partei wird in der Regel verpflichtet, der obsiegenden Partei nach Massgabe des Tarifs des Bundesgerichts alle durch den Rechtsstreit verursachten notwendigen Kosten zu ersetzen.
3    Bund, Kantonen und Gemeinden sowie mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen wird in der Regel keine Parteientschädigung zugesprochen, wenn sie in ihrem amtlichen Wirkungskreis obsiegen.
4    Artikel 66 Absätze 3 und 5 ist sinngemäss anwendbar.
5    Der Entscheid der Vorinstanz über die Parteientschädigung wird vom Bundesgericht je nach Ausgang des Verfahrens bestätigt, aufgehoben oder geändert. Dabei kann das Gericht die Entschädigung nach Massgabe des anwendbaren eidgenössischen oder kantonalen Tarifs selbst festsetzen oder die Festsetzung der Vorinstanz übertragen.
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 11. Dezember 2012 wird aufgehoben und der Beschwerdeführerin in den Betreibungen Nr. ..... und Nr. ..... des Betreibungsamtes X.________ im gesetzlichen Umfang definitive Rechtsöffnung erteilt.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 600.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Vivao Sympany AG, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 2. Mai 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Fessler
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 9C_90/2013
Date : 02. Mai 2013
Published : 20. Mai 2013
Source : Bundesgericht
Status : Unpubliziert
Subject area : Krankenversicherung
Subject : Krankenversicherung(Versicherungspflicht; Wechsel Krankenversicherer)


Legislation register
BGG: 66  68  95  97  105
BV: 29
KVG: 3  4  7
OR: 23  28
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133-III-607 • 98-V-255
Weitere Urteile ab 2000
1A.64/2005 • 2A.532/2000 • 4A_437/2007 • 4A_456/2009 • 5C.31/2006 • 9C_90/2013
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