96 I 525
81. Urteil vom 18. November 1970 i.S. X. gegen Kantonsgericht St. Gallen.
Regeste (de):
- Gerichtspolizei im Strafprozess. Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
- Grundlagen und Tragweite des Rechts des Angeschuldigten und seines Anwalts, Mängel der Strafuntersuchung vor dem Strafrichter zu rügen (Erw. 2).
- Wann sind die Grenzen zulässiger Kritik überschritten und darf der Anwalt wegen "unanständigen Benehmens" gegenüber den Behörden der Strafrechtspflege und gegenüber einem Experten mit einer Ordnungsbusse bestraft werden? (Erw. 3).
Regeste (fr):
- Discipline du procès en procédure pénale. Art. 4 Cst.
- Fondement et portée du droit de l'inculpé et de son avocat de se plaindre, devant le juge pénal, des vices de la procédure d'instruction (consid. 2).
- Quand les limites de la critique admissible sont-elles dépassées, et quand l'avocat peut-il être frappé d'une amende d'ordre pour comportement inconvenant à l'égard des autorités de la justice pénale et d'un expert? (consid. 3).
Regesto (it):
- Disciplina del processo nella procedura penale. Art. 4 CF.
- Fondamento e portata del diritto dell'incolpato e del suo avvocato di far valere davanti al giudice penale vizi della procedura d'istruzione (consid. 2).
- Quando i limiti della critica ammissibile sono oltrepassati, e l'avvocato può essere colpito con una multa d'ordine per comportamento sconveniente verso le autorità della giustizia penale e un perito? (consid. 3).
Sachverhalt ab Seite 525
BGE 96 I 525 S. 525
Aus dem Tatbestand:
A.- Rechtsanwalt X. in St. Gallen hatte den wegen verschiedener Vermögensdelikte angeklagten A. zu verteidigen, der
BGE 96 I 525 S. 526
sich im Jahre 1965 etwa 3 Monate in Untersuchungshaft befunden und zunächst Rechtsanwalt Y. mit seiner Verteidigung beauftragt hatte. Auf dessen Antrag wurde im Frühjahr 1967 eine psychiatrische Begutachtung durchgeführt durch Dr. N. Nachdem A. der Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen überwiesen worden war, übertrug er seine Verteidigung dem X. Dieser reichte am 12. März 1969 eine 68 Seiten umfassende Eingabe ein, in welcher er u.a. das Untersuchungsverfahren und das psychiatrische Gutachten scharf kritisierte. In der Hauptverhandlung vom 10./11. Juni 1970 beantragte der Staatsanwalt Verurteilung des Angeklagten zu 3 Jahren Zuchthaus, während der Verteidiger Freisprechung von sämtlichen Anklagepunkten verlangte. Das Kantonsgericht sprach ihn von zwei Anklagen frei und verurteilte ihn zu 18 Monaten Zuchthaus sowie Fr. 500.-- Busse. Ferner auferlegte es dem Verteidiger in Anwendung von Art. 194 Ziff. 4
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz ZPO Art. 194 Grundsatz - 1 Die Gerichte sind gegenseitig zur Rechtshilfe verpflichtet. |
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1 | Die Gerichte sind gegenseitig zur Rechtshilfe verpflichtet. |
2 | Sie verkehren direkt miteinander77. |
B.- Gegen diese Bussenverfügung hat X. staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Er macht Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
C.- Die Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen hat dem Bundesgericht mitgeteilt, dass sie unter Hinweis auf die Akten und ihr Urteil und unter Bestreitung der tatsächlichen Vorbringen des Beschwerdeführers (soweit sie sich nicht mit den Akten decken) von einer Vernehmlassung Umgang nehme.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, Art. 194 Abs. 2 Ziff. 4
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz ZPO Art. 194 Grundsatz - 1 Die Gerichte sind gegenseitig zur Rechtshilfe verpflichtet. |
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BGE 96 I 525 S. 527
verstiessen gegen die Handels- und Gewerbefreiheit, unter deren Schutz auch die Ausübung der wissenschaftlichen Berufe steht. Er wirft dem Kantonsgericht ausschliesslich Willkür, d.h. Verletzung des Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
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2. Nach Art. 194 Abs. 2 Ziff. 4
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SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 3 Achtung der Menschenwürde und Fairnessgebot - 1 Die Strafbehörden achten in allen Verfahrensstadien die Würde der vom Verfahren betroffenen Menschen. |
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1 | Die Strafbehörden achten in allen Verfahrensstadien die Würde der vom Verfahren betroffenen Menschen. |
2 | Sie beachten namentlich: |
a | den Grundsatz von Treu und Glauben; |
b | das Verbot des Rechtsmissbrauchs; |
c | das Gebot, alle Verfahrensbeteiligten gleich und gerecht zu behandeln und ihnen rechtliches Gehör zu gewähren; |
d | das Verbot, bei der Beweiserhebung Methoden anzuwenden, welche die Menschenwürde verletzen. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz ZPO Art. 194 Grundsatz - 1 Die Gerichte sind gegenseitig zur Rechtshilfe verpflichtet. |
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BGE 96 I 525 S. 528
ist der Anwalt gelegentlich als Hilfsorgan der Rechtspflege oder als Gehilfe des Richters bezeichnet worden. Doch wollte damit nicht gesagt werden, dass sich seine Aufgabe hierin erschöpfe (vgl. DUBACH, Das Disziplinarrecht der freien Berufe, ZSR 1951 S. 49 a/50 a, 66 a/67 a). Er hat jedenfalls, gerade auch als Hilfsorgan der Rechtspflege, die Pflicht und das Recht, Missstände aufzuzeigen und Mängel des Verfahrens zu rügen. Der Preis, der für diese unentbehrliche Freiheit der Kritik an der Rechtspflege zu entrichten ist, besteht darin, dass auch gewisse Übertreibungen in Kauf zu nehmen sind. Wenn dem Anwalt unbegründete Kritik verboten ist, so kann er auch eine allenfalls begründete nicht mehr gefahrlos vorbringen und ist die Wirksamkeit der Kontrolle der Rechtspflege in Frage gestellt. Pflichtwidrig handelt er nur, wenn er eine Rüge wider besseres Wissen oder in ehrverletzender Form erhebt, statt sich auf Tatsachenbehauptungen und Wertungen zu beschränken.
3. Das Kantonsgericht hat die gegenüber dem Beschwerdeführer verhängte Ordnungsbusse im angefochtenen Urteil verhältnismässig kurz begründet und es nicht für nötig erachtet, zu den ausführlichen Vorbringen in der staatsrechtlichen Beschwerde Stellung zu nehmen. Bei dieser Sachlage ist die Zulässigkeit der Busse ausschliesslich aufgrund der im angefochtenen Urteil enthaltenen Vorwürfe gegen den Beschwerdeführer und der sich auf diese beziehenden Ausführungen der Beschwerde zu prüfen. Das Bundesgericht hat weder zu berücksichtigen, was der Beschwerdeführer sonst zu seiner Rechtfertigung vorbringt, noch in den Akten nach weiteren Verstössen zu fahnden, mit denen die angefochtene Ordnungsbusse begründet werden könnte. a) In seiner Eingabe vom 12. März 1969 hat der Beschwerdeführer das Gutachten des Gerichtsexperten Dr. N. eingehend kritisiert und dabei auch beanstandet, dass der Untersuchungsrichter seinem Auftragsschreiben an den Experten "Ausführungen zur Persönlichkeit des Angeklagten" beigefügt habe, deren Kopie sich nicht bei den Akten befinde und durch die der Experte, den er in diesem Zusammenhang als "Ausländer" bezeichnete, beeinflusst worden sei. Das Kantonsgericht erblickt hierin ein "sehr unanständiges Benehmen" des Beschwerdeführers, zumal da er sich, nachdem er erfuhr, dass der Experte Bündner sei, nicht entschuldigt habe. Der Vorwurfist unhaltbar. Wenn ein Anwalt zur Widerlegung der Schlüssigkeit eines
BGE 96 I 525 S. 529
Gutachtens neben einer Reihe sachlicher Gründe auch die Staatsangehörigkeit des Experten erwähnt, so mag dies unangebracht und geschmacklos sein, stellt aber keine strafbare "Unanständigkeit" im Sinne des Gesetzes dar. b) Im angefochtenen Entscheid wird weiter ausgeführt, der Beschwerdeführer habe sich den Untersuchungsbehörden gegenüber dadurch unanständig benommen, dass er ihnen habe "schwere Mängel des Untersuchungsverfahrens und krasse Gesetzeswidrigkeiten zur Last legen wollen". Im Anschluss hieran werden zwei Vorwürfe des Beschwerdeführers genannt, die zu beanstanden seien. Nach dem im Eingang von Erw. 3 Gesagten ist nur zu prüfen, ob diese beiden Vorwürfe die Ordnungsbusse zu begründen vermögen. Bemerkt sei immerhin, dass die Rüge von Verfahrensmängeln und Gesetzwidrigkeiten, die der Anwalt nachher nicht zu beweisen vermag, an sich keinesfalls geeignet ist, eine Ordnungsstrafe zu rechtfertigen. Er ist verpflichtet, solche Mängel geltend zu machen, und darf sich dabei weitgehend auf die Angaben seines Klienten verlassen. Wenn er erhebliche, seien es wirkliche oder bloss vermeintliche, Missstände rügt, so ist auch eine scharfe Ausdrucksweise hinzunehmen. Inwiefern die im angefochtenen Entscheid kurz widerlegte Behauptung des Beschwerdeführers, der Untersuchungsrichter und der (an der Einvernahme des Angeschuldigten beteiligte) Polizeikorporal seien befangen gewesen und hätten in Ausstand treten müssen, "unanständig" sein soll, sagt das Kantonsgericht mit keinem Wort und ist auch nicht einzusehen. Soweit die Ordnungsbusse wegen dieser Rüge verhängt wurde, ist sie offensichtlich unhaltbar. Als besonders schwerwiegend bezeichnet das Kantonsgericht den unbewiesenen und in der Hauptsache widerlegten Vorwurf des Beschwerdeführers, der Angeklagte sei bei der Einvernahme durch den Polizeifunktionär "einer richtigen ,Gehirnwäsche' unterzogen" worden, worin - wie in der staatsrechtlichen Beschwerde zugegeben wird - eine Anspielung auf Methoden liegt, die in Diktaturstaaten Anwendung finden. Der Beschwerdeführer hat in seiner Eingabe vom 12. März 1969 einerseits unter Hinweis auf die Einvernahmeprotokolle festgehalten, dass sein Klient während der rund drei Monate dauernden Untersuchungshaft sehr zahlreichen, stunden- und tagelangen polizeilichen Verhören unterzogen worden sei;
BGE 96 I 525 S. 530
anderseits hat er geltend gemacht, die Gesundheit seines Klienten sei damals erschüttert gewesen. Wenn er im Hinblick hierauf den Ausdruck "Gehirnwäsche" verwendet hat, so handelte es sich offensichtlich um eine blosse, wenn auch übertreibende Vergleichung der strengen Verhöre mit der in Diktaturstaaten üblichen "Gehirnwäsche". Hätte er wirklich behaupten wollen, es sei mit in einem Rechtsstaat verpönten Untersuchungsmethoden wie Narkoanalyse oder dergleichen auf seinen Klienten eingewirkt worden, so hätte er dies zweifellos auch gesagt. Selbst im Sinne eines blossen Vergleichs erscheint die Verwendung des Ausdrucks "Gehirnwäsche" freilich als ein Missgriff, der jedoch als offensichtliche Übertreibung lediglich eine geringe Busse nach Art. 194 Abs. 2 Ziff. 4
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz ZPO Art. 194 Grundsatz - 1 Die Gerichte sind gegenseitig zur Rechtshilfe verpflichtet. |
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BGE 96 I 525 S. 531
Zeitungspolemik oder eine Intervention im Parlament, in Aussicht gestellt hätte. Davon ist hier aber nicht die Rede.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und Ziff. 10 Abs. 1 des Urteils des Kantonsgerichts St. Gallen vom 10./11. Juni 1970 aufgehoben.