S. 221 / Nr. 32 Obligationenrecht (d)

BGE 76 II 221

32. Urteil der I. Zivilabteilung vom 27. Juni 1950 i. S. Schenkel gegen
Scherer, Verron & Co.


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Regeste:
Art. 201
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 201 - 1 Der Käufer soll, sobald es nach dem üblichen Geschäftsgange tunlich ist, die Beschaffenheit der empfangenen Sache prüfen und, falls sich Mängel ergeben, für die der Verkäufer Gewähr zu leisten hat, diesem sofort Anzeige machen.
1    Der Käufer soll, sobald es nach dem üblichen Geschäftsgange tunlich ist, die Beschaffenheit der empfangenen Sache prüfen und, falls sich Mängel ergeben, für die der Verkäufer Gewähr zu leisten hat, diesem sofort Anzeige machen.
2    Versäumt dieses der Käufer, so gilt die gekaufte Sache als genehmigt, soweit es sich nicht um Mängel handelt, die bei der übungsgemässen Untersuchung nicht erkennbar waren.
3    Ergeben sich später solche Mängel, so muss die Anzeige sofort nach der Entdeckung erfolgen, widrigenfalls die Sache auch rücksichtlich dieser Mängel als genehmigt gilt.
OR.
Unterscheidung zwischen offenen und verborgenen Mängeln; massgebliche
Bedeutung und Sinn der nach Empfang der Ware vorzunehmenden «übungsgemässen
Untersuchung» Ablehnung weitergehender Anforderungen an die Prüfungspflicht
des Käufers.
Art. 201 CO.
Distinction entre défauts apparents et défauts cachés. Portée décisive et sens
des «vérifications usuelles» auxquelles l'acheteur doit procéder après
réception de la marchandise. Il ne peut être posé d'exigences plus étendues à
l'obligation de vérification de l'acheteur.
Art. 201 CO.
Distinzione tra i difetti apparenti e difetti non apparenti. Portata decisiva
e senso dell'«ordinario esame o, cui il compratore deve procedere dopo aver
ricevuto la cosa. Non si può dare una più vasta portata all'obbligo del
compratore di esaminare la merce.

A. - Am 22. Mai 1947 bestellte die Klägerin bei der Beklagten anlässlich eines
Besuches und nachher ergänzend noch telefonisch 280 Stück Kunstseidenstoffe
Crêpe lingerie rayonne zu Fr. 3.70 den Meter, lieferbar im ersten Quartal
1948. Die beiden Aufträge wurden am 23. Mai bzw. berichtigt am 16. Juli 1947,
je mit Hinweis auf beigelegte Qualitätsmuster, schriftlich bestätigt. Am 11.
September 1947 gab die Klägerin eine erste Farbeinteilung für 25 Stück in
lachs, welche dann am 3. und 5. Februar 1948 geliefert und fakturiert wurden.
Die verbleibenden 255 Stück stellte die Beklagte bei ihr mittels Briefes und
«Rohfaktura» vom 9. April 1948 der Klägerin zur Verfügung. Ende Juni 1948
wurden weitere 100 Stück abgerufen. Die restlichen 155 Stück blieben bei der
Stückfärberei Basel A.-G. für die Klägerin auf Lager. Der ganze Kaufpreis von
insgesamt Fr. 37,112.60 wurde bezahlt.
B. - Von einer Abnehmerin, der Firma Seiden-Grieder in Zürich, erhielt die
Klägerin am 14. August 1948 einen Unterrock zurückgeschickt, der aus dem von
der Beklagten bezogenen Stoff hergestellt und schon bei der Anprobe

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zerrissen war. Am 23. August 1948 leitete die Klägerin diese Beanstandung zur
Prüfung an ihre Lieferant in weiter. Die Beklagte entgegnete jedoch in ihrer
Antwort vom 24. August 1948, dass sie musterkonform geliefert habe und auf
Reklamationen nicht eingehen könne. Daraufhin erklärte die Klägerin mit
Schreiben vom:30. August 1948, sie sehe sich veranlasst, vorsorglich in aller
Form Mängelrüge zu erheben und behalte sich vor, nach näherer Abklärung auf
die Angelegenheit zurückzukommen. Gleichzeitig schickte sie Stoffproben zur
Untersuchung an die eidgenössische Materialprüfungsanstalt in St. Gallen
(EMPA). Deren Bericht vom 23. September 1948 gelangte zum Schluss, dass sowohl
die verarbeitete wie die rohe Ware Qualitätsfehler aufweise. Die Klägerin gab
der Beklagten von diesem Befund durch Schreiben vom 27. September 1948
Kenntnis, bestätigte ihre provisorische Mängelrüge als endgültig und regte
eine gütliche Verständigung an.
C. - Der nachfolgende Briefwechsel zwischen den Parteien führte zu keinem
Ergebnis. Die Klägerin belangte daher die Beklagte im März 1949 auf Bezahlung
von Fr. 40,860.90 mit 5 % Zins seit 1. Januar 1949. Sie verlangte die
Wandelung des Kaufes wegen verborgener Mängel der Ware und forderte die
Erstattung des erlegten Kaufpreises nebst Ersatz für Aufwendungen und
entgangenen Gewinn.
Das Handelsgericht des Kantons Zürich wies die Klage mit Urteil vom 4.
November 1949 ab.
D. - Die Klägerin legte Berufung an das Bundesgericht ein. Sie beantragt
Gutheissung der Klage, eventuell Rückweisung der Sache an die Vorinstanz. Die
Beklagte schliesst auf Bestätigung des kantonalen Entscheides.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Das Handelsgericht wirft der Klägerin vor, sie habe der ihr obliegenden
Prüfungspflicht nicht genügt, und verneint deswegen die Rechtzeitigkeit der
Mängel

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rüge. Dazu wird ausgeführt: Den Stoff habe die Klägerin zur Verarbeitung
gekauft, und wesentlich sei vor allem seine Eignung zu diesem Zweck gewesen.
In solchem Falle dürfe nach feststehender Rechtsprechung des Handelsgerichtes
und gemäss dem Grundgedanken des Art. 201
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 201 - 1 Der Käufer soll, sobald es nach dem üblichen Geschäftsgange tunlich ist, die Beschaffenheit der empfangenen Sache prüfen und, falls sich Mängel ergeben, für die der Verkäufer Gewähr zu leisten hat, diesem sofort Anzeige machen.
1    Der Käufer soll, sobald es nach dem üblichen Geschäftsgange tunlich ist, die Beschaffenheit der empfangenen Sache prüfen und, falls sich Mängel ergeben, für die der Verkäufer Gewähr zu leisten hat, diesem sofort Anzeige machen.
2    Versäumt dieses der Käufer, so gilt die gekaufte Sache als genehmigt, soweit es sich nicht um Mängel handelt, die bei der übungsgemässen Untersuchung nicht erkennbar waren.
3    Ergeben sich später solche Mängel, so muss die Anzeige sofort nach der Entdeckung erfolgen, widrigenfalls die Sache auch rücksichtlich dieser Mängel als genehmigt gilt.
OR der Käufer mit der Verarbeitung
nicht beliebig lange zuwarten, sondern er habe, wenn nicht sofort die gesamte
Ware zur Verarbeitung gelange, wenigstens ein Probestück anzufertigen und zu
prüfen. Abgesehen von Mängeln, die sich bei übungsgemässer Untersuchung - als
welche hier wohl nur die Handprobe in Betracht komme -zeigen, müsse rasch
Klarheit darüber geschaffen werden, ob die Ware zur Verarbeitung geeignet sei
und so zu dem vom Käufer vorausgesetzten Gebrauch tauge. Es würde den
Grundsätzen der Gewährleistung widersprechen, wenn der Käufer erst nach
geraumer Zeit die Ware in Verarbeitung nehmen, dann noch Mängelrüge erheben
und die Rücknahme verlangen könnte, möglicherweise in einem Moment, da der
Verkäufer gar nicht mehr in der Lage sei, sich an seinem eigenen Lieferanten
schadlos zu halten. Die Verarbeitung der Ware oder eines kleinen Teils
derselben habe daher innert angemessener Frist zu erfolgen. Könne das
ausnahmsweise nicht geschehen, so müsse binnen der nämlichen Frist mindestens
eine über die branchenübliche Untersuchung hinausgehende Prüfung stattfinden,
wie es die hier ohne Schwierigkeit durchführbare Handprobe an nasser Ware oder
die Kontrolle in einer geeigneten öffentlichen Anstalt gewesen wären.
2.- Diese Auffassung der Vorinstanz ist abzulehnen. In Art. 201
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 201 - 1 Der Käufer soll, sobald es nach dem üblichen Geschäftsgange tunlich ist, die Beschaffenheit der empfangenen Sache prüfen und, falls sich Mängel ergeben, für die der Verkäufer Gewähr zu leisten hat, diesem sofort Anzeige machen.
1    Der Käufer soll, sobald es nach dem üblichen Geschäftsgange tunlich ist, die Beschaffenheit der empfangenen Sache prüfen und, falls sich Mängel ergeben, für die der Verkäufer Gewähr zu leisten hat, diesem sofort Anzeige machen.
2    Versäumt dieses der Käufer, so gilt die gekaufte Sache als genehmigt, soweit es sich nicht um Mängel handelt, die bei der übungsgemässen Untersuchung nicht erkennbar waren.
3    Ergeben sich später solche Mängel, so muss die Anzeige sofort nach der Entdeckung erfolgen, widrigenfalls die Sache auch rücksichtlich dieser Mängel als genehmigt gilt.
OR wird klar
zwischen offenen und geheimen Mängeln unterschieden und entsprechend die
Rügepflicht geordnet. Das trennende Merkmal liegt in der Erkennbarkeit bzw.
Nichterkennbarkeit der Mängel bei der nach Empfang der Sache mit tunlicher
Beschleunigung vorzunehmenden «übungsgemässen Untersuchung». Was hierunter zu
verstehen ist, bestimmt sich nach den Handelsgebräuchen in der betreffenden
Branche. Dazu kann

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allerdings die Verarbeitung roher Ware gehören. Dass das hier zutreffe, nimmt
aber die Vorinstanz selber nicht an, wie aus ihrer vorstehend wiedergegebenen
Argumentation erhellt. Darnach besteht die branchenübliche Prüfung in der
sogenannten Handprobe. Weitergehende Anforderungen zu stellen ist das
Handelsgericht nicht befugt, weil das gegen die gesetzliche Regelung verstösst
und auf eine einseitige Belastung des Käufers hinausläuft, der keineswegs
gehalten ist, nach geheimen Mängeln zu fahnden (vgl. das ebenfalls ein
Textilgeschäft betreffende Urteil vom 4. Oktober 1949 i. S. Sura A.-G. e. Naef
und Specker Gummi A.-G.). Die ständige eigene Praxis, auf die sich das
Handelsgericht stützt, vermag eine fehlende Handelsübung nicht zu ersetzen,
sondern ist wie dargelegt mit Art. 201
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 201 - 1 Der Käufer soll, sobald es nach dem üblichen Geschäftsgange tunlich ist, die Beschaffenheit der empfangenen Sache prüfen und, falls sich Mängel ergeben, für die der Verkäufer Gewähr zu leisten hat, diesem sofort Anzeige machen.
1    Der Käufer soll, sobald es nach dem üblichen Geschäftsgange tunlich ist, die Beschaffenheit der empfangenen Sache prüfen und, falls sich Mängel ergeben, für die der Verkäufer Gewähr zu leisten hat, diesem sofort Anzeige machen.
2    Versäumt dieses der Käufer, so gilt die gekaufte Sache als genehmigt, soweit es sich nicht um Mängel handelt, die bei der übungsgemässen Untersuchung nicht erkennbar waren.
3    Ergeben sich später solche Mängel, so muss die Anzeige sofort nach der Entdeckung erfolgen, widrigenfalls die Sache auch rücksichtlich dieser Mängel als genehmigt gilt.
OR im Widerspruch und darum unhaltbar.
Ob nun die massgebliche Handprobe übungsgemäss nur an der trockenen oder auch
an der nassen Ware vorgenommen wird, und ob sie schon am trockenen Gewebe zur
Aufdeckung der Schäden geführt hätte, ist von der Vorinstanz offen gelassen
worden. Beides ist nach dem Gesagten erheblich weil bestimmend dafür, ob
offene oder geheime Mängel in Frage stehen. Hierüber wird daher die Vorinstanz
ergänzend zu befinden haben.
3.- Ergibt sich, dass offene Mängel vorliegen, so erscheint die umstrittene
Rüge zweifellos als verspätet. Wenn aber verborgene Mängel gegeben sind, hat
die Klägerin richtig gehandelt. Grieder & Cie schickten am 14. August 1948
vier Unterröcke, darunter den bei der Anprobe zerrissenen, zurück mit dem
Ersuchen um genaue Prüfung des Materials. Im gleichen Sinne wandte sich die
Klägerin am 23. August 1948 an die Beklagte. Auf deren abschlägigen Bescheid
hin wurde dann, mit allen Vorbehalten gegenüber der Beklagten, am 30. August
1948 eine Begutachtung durch die EMPA veranlasst. Zu beachten ist bei diesem
ganzen Vorgehen, dass damals die Klägerin nur einen kleinen Teil der Stoffe
verarbeitet und weiterverkauft hatte, und dass die Mitteilung der

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Firma Grieder die erste Reklamation von Seite ihrer Abnehmer war. Hieraus
konnte die Klägerin zwar ersehen, dass das betreffende Wäschestück irgendwie
fehlerhaft war. Jedoch musste sie noch nicht ohne weiteres vermuten, die Ware
sei insgesamt mit Mängeln behaftet. Erst nachdem auf Grund des vom 23.
September 1948 datierten EMPA-Berichtes die minderwertige Qualität des
Kunstseidegewebes feststand, war sie verpflichtet, eine Mängelrüge zu erheben.
Das tat sie mit Brief vom 27. September 1948 rechtzeitig, da zwischen diesen
Tag und die Kenntnisnahme der Untersuchungsbefunde ein Sonntag fiel.
4.- Die Ausführungen der Vorinstanz darüber, dass die Klägerin bei ihrer Rüge
nicht auf das erhaltene Muster Bezug genommen habe, brauchen nicht näher
erörtert zu werden. Denn ob mustergetreu geliefert wurde oder nicht ist
belanglos, sobald es um geheime Mängel geht. Und nur unter dieser
Voraussetzung kann die Klägerin überhaupt einen Wandelungsanspruch geltend
machen.
Demnach erkennt das Bundesgericht .
Die Berufung wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil des Handelsgerichts
des Kantons Zürich vom 4. November aufgehoben und die Sache zu neuer
Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 76 II 221
Datum : 01. Januar 1949
Publiziert : 27. Juni 1950
Quelle : Bundesgericht
Status : 76 II 221
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Art. 201 OR.Unterscheidung zwischen offenen und verborgenen Mängeln; massgebliche Bedeutung und...


Gesetzesregister
OR: 201
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 201 - 1 Der Käufer soll, sobald es nach dem üblichen Geschäftsgange tunlich ist, die Beschaffenheit der empfangenen Sache prüfen und, falls sich Mängel ergeben, für die der Verkäufer Gewähr zu leisten hat, diesem sofort Anzeige machen.
1    Der Käufer soll, sobald es nach dem üblichen Geschäftsgange tunlich ist, die Beschaffenheit der empfangenen Sache prüfen und, falls sich Mängel ergeben, für die der Verkäufer Gewähr zu leisten hat, diesem sofort Anzeige machen.
2    Versäumt dieses der Käufer, so gilt die gekaufte Sache als genehmigt, soweit es sich nicht um Mängel handelt, die bei der übungsgemässen Untersuchung nicht erkennbar waren.
3    Ergeben sich später solche Mängel, so muss die Anzeige sofort nach der Entdeckung erfolgen, widrigenfalls die Sache auch rücksichtlich dieser Mängel als genehmigt gilt.
BGE Register
76-II-221
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
beklagter • vorinstanz • handelsgericht • bundesgericht • brief • weiler • empfang • kaufpreis • entscheid • kenntnis • gewebe • ersetzung • voraussetzung • gerichts- und verwaltungspraxis • ware • werkstoff • telefon • obliegenheit • sonntag • seide
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