BGE 64 I 145
28. Urteil vom 6. Mai 1938 i. S. Laubscher gegen Laubscher und Obergericht des
Kantons Solothurn.
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Regeste:
Formelle Rechtsverweigerung. Die durch ein Zivil- oder Strafurteil bestimmte
Rechtsstellung einer Partei darf zu ihren Ungunsten nicht verändert werden,
ohne dass ihr Gelegenheit geboten worden ist, sich zu den Gründen, die gegen
das Urteil geltend gemacht werden, vernehmen zu lassen. - Der Anspruch auf
rechtliches Gehör ist formeller Natur; zu seiner Geltendmachung bedarf es des
Nachweises eines materiellen Interesses nicht.
A. - Die Ehegatten Laubscher-Sutter, die heutigen Parteien, leben seit einiger
Zeit getrennt. Während des Jahres 1937 überwies der Ehemann seiner Ehefrau
regelmässig Unterhaltsbeiträge, so zuletzt am 1. September und am 6. Oktober
1937 je Fr. 500.-. Vom September an machte er jedoch die Auszahlung weiterer
Beträge davon abhängig, dass ihm die Ehefrau jeweils zuvor über die Verwendung
des vorherigen Beitrages bis ins einzelne Rechenschaft ablege.
Am 15. November 1937 verlangte die Ehefrau gestützt auf Art. 169
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 169 - 1 Ein Ehegatte kann nur mit der ausdrücklichen Zustimmung des andern einen Mietvertrag kündigen, das Haus oder die Wohnung der Familie veräussern oder durch andere Rechtsgeschäfte die Rechte an den Wohnräumen der Familie beschränken. |
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1 | Ein Ehegatte kann nur mit der ausdrücklichen Zustimmung des andern einen Mietvertrag kündigen, das Haus oder die Wohnung der Familie veräussern oder durch andere Rechtsgeschäfte die Rechte an den Wohnräumen der Familie beschränken. |
2 | Kann der Ehegatte diese Zustimmung nicht einholen oder wird sie ihm ohne triftigen Grund verweigert, so kann er das Gericht anrufen. |
Richteramt Bucheggberg-Kriegstetten, dass ihr Ehemann zur Zahlung eines
monatlichen Unterhaltsbeitrages von Fr. 450.- an sie und ihre Kinder
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zu verpflichten sei. Der Amtsgerichtspräsident wies das Begehren am 20.
November 1937 mit mündlicher Begründung kostenfällig ab.
Gegen diesen Entscheid reichte die Ehefrau beim Obergericht des Kantons
Solothurn Beschwerde ein unter Wiederholung des vor dem
Amtsgerichtspräsidenten gestellten Rechtsbegehrens. Das Obergericht stellte
diese Beschwerde dem Amtsgerichtspräsidenten von Bucheggberg-Kriegstetten,
nicht aber dem Ehemann zur Vernehmlassung zu.
Mit Entscheid vom 22. Januar, zugestellt am 21. Februar 1938 hiess das
Obergericht die Beschwerde gut und verpflichtete den Ehemann, der Ehefrau ohne
Auflage und Vorbehalte einen Unterhaltsbeitrag von Fr. 400.- im Monate zu
bezahlen, und zwar unter der Voraussetzung, dass er auch weiterhin ihr die
Wohnung zur Verfügung stelle und für die Kosten der Heizung und des
Strombezuges usw. im bisherigen Umfange aufkomme.
B. - Gegen diesen Entscheid hat der Rekurrent rechtzeitig staatsrechtliche
Beschwerde erhoben mit dem Antrag auf Aufhebung. Zur Begründung wird
ausgeführt: Das Obergericht habe die Beschwerde gutgeheissen, ohne den
Rekurrenten einzuvernehmen oder ihm auch nur von der Einreichung der
Beschwerde Kenntnis zu geben. Dadurch sei der Anspruch des Rekurrenten auf
rechtliches Gehör, wie ihn Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
zum ZGB gewährleisteten, verletzt worden. Der angefochtene Entscheid sei
ferner auch materiell willkürlich (wird näher ausgeführt).
C. - Das Obergericht des Kantons Solothurn trägt auf Abweisung der Beschwerde
an und macht geltend: Nach §§ 3, 4 des EG zum ZGB seien im Beschwerdeverfahren
auf ein im summarischen Verfahren erlassenes Urteil des
Amtsgerichtspräsidenten die Parteien nur zu hören, soweit es möglich und nötig
sei. Im vorliegenden Falle seien dem Obergericht die finanziellen Verhältnisse
der Parteien und insbesondere der Standpunkt des Rekurrenten aus dem
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Entmündigungsprozess (den die Ehefrau in den Jahren 1936/37 gegen den
Rekurrenten geführt hat), aus den Akten und aus der Vernehmlassung des
Amtsgerichtspräsidenten zur Genüge bekannt gewesen, sodass sich ein weiterer
Schriftenwechsel und eine kontradiktorische Verhandlung vor Obergericht
erübrigt habe. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (BGE 39 I S. 107)
bedeute der durch Art. 4 gewährleistete Grundsatz des rechtlichen Gehörs
nicht, dass die Parteien Anspruch darauf hätten, in jeder Instanz gehört zu
werden. Materiell sei der angefochtene Entscheid keineswegs willkürlich.
D. - Die Rekursbeklagte beantragt ebenfalls die Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Ueber Massnahmen zum Schutze der ehelichen Gemeinschaft (Art. 169 ff
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 169 - 1 Ein Ehegatte kann nur mit der ausdrücklichen Zustimmung des andern einen Mietvertrag kündigen, das Haus oder die Wohnung der Familie veräussern oder durch andere Rechtsgeschäfte die Rechte an den Wohnräumen der Familie beschränken. |
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1 | Ein Ehegatte kann nur mit der ausdrücklichen Zustimmung des andern einen Mietvertrag kündigen, das Haus oder die Wohnung der Familie veräussern oder durch andere Rechtsgeschäfte die Rechte an den Wohnräumen der Familie beschränken. |
2 | Kann der Ehegatte diese Zustimmung nicht einholen oder wird sie ihm ohne triftigen Grund verweigert, so kann er das Gericht anrufen. |
entscheidet im Kanton Solothurn der Amtsgerichtspräsident im summarischen
Verfahren (§§ 3, 63 EG zum ZGB). Dieser hat, soweit es möglich und nötig ist,
die Parteien über die geltend gemachten Gründe abzuhören und ihre Angaben zu
Protokoll zu nehmen (§ 3 Abs. 2 EG). Der Entscheid, der in Abwesenheit der
Parteien erfolgen kann (§ 3 Abs. 3 EG), kann durch Beschwerde an das
Obergericht weitergezogen werden. Auf das Verfahren vor Obergericht finden die
Bestimmungen über das erstinstanzliche Verfahren entsprechende Anwendung (§ 4
EG).
Aus diesen Bestimmungen kann entgegen der Auffassung des Obergerichtes nicht
ohne weiteres geschlossen werden, dass eine Beschwerde durch das Obergericht
ohne vorherige Anhörung des Beschwerdegegners gutgeheissen werden darf. § 4
Abs. 2 EG lässt sich auch dahin auslegen, dass § 3 auf das zweitinstanzliche
Verfahren nicht schlechthin, sondern sinngemäss anzuwenden sei, wozu gehören
würde, dass jedenfalls vor der Gutheissung einer Beschwerde diese zur
Vernehmlassung zuzustellen oder doch wenigstens der
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Beschwerdegegner über sie anzuhören sei. Denn es liegt immerhin ein Entscheid
des Amtsgerichtspräsidenten vor und es fehlt eine ausdrückliche Bestimmung,
dass ein solcher Entscheid aufgehoben werden dürfe auf ein einseitiges
Begehren einer Partei und ohne dass der Beschwerdegegner überhaupt von der
Beschwerde Kenntnis erhält.
2.- Selbst wenn aber der Beschwerdegegner aus den Vorschriften des EG einen
Anspruch, über die Beschwerde gehört zu werden, nicht ableiten könnte, steht
ihm ein solcher Anspruch doch auf Grund von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
Bundesgericht wiederholt entschieden hat, liegt ein Verstoss gegen Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
dann vor, wenn die durch ein Zivil- oder Strafurteil bestimmte Rechtsstellung
einer Partei zu ihren Ungunsten verändert wird, ohne dass ihr Gelegenheit
gegeben worden ist, sich zu den Gründen, die gegen das Urteil geltend gemacht
werden, vernehmen zu lassen (BGE 43 I S. 5, nicht veröffentlichtes Urteil in
Sachen Handschin vom 28. Juni 1935). Im vorliegenden Falle durfte das
Obergericht von der Anhörung des Rekurrenten umso weniger absehen, als es sich
nicht darauf beschränkte, das erstinstanzliche Urteil aufzuheben und die Sache
zu neuer Entscheidung zurückzuweisen, sondern selbst über die Sache absprach
und damit endgültig das erstinstanzliche Urteil zu Ungunsten des Rekurrenten
abänderte. Die Vernehmlassung des Amtsgerichtspräsidenten konnte eine solche
des Rekurrenten nicht ersetzen.
Der Einwand, der Rekurrent hätte in der Vernehmlassung nichts Neues vorbringen
können, weil das Obergericht über die Verhältnisse der Parteien genügend
orientiert gewesen sei, kann nicht gehört werden, Der Anspruch auf rechtliches
Gehör ist formeller Natur und es hat die Verletzung wesentlicher
Verfahrensvorschriften die Aufhebung des angefochtenen Entscheides selbst dann
zur Folge, wenn der Rekurrent ein materielles Interesse nicht nachzuweisen
vermag. Daher ist auch nicht zu untersuchen, ob irgendwelche Aussicht besteht,
dass das Obergericht, nachdem es die Vernehmlassung eingeholt hat, zu einer
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seines Entscheides gelangt (BGE 32 I S. 37; 48 I S. 255; 53 I S. 111; Urteil
i. S. Handschin vom 28. Juni 1935).
Das vom Obergericht angerufene Urteil des Bundesgerichtes vom 7. Februar 1913
(BGE 39 I S. 107) bezog sich nicht auf die Anhörung über eine Beschwerde,
sondern auf die Vernehmlassung zu einer Beweiseingabe. Der in diesem Entscheid
ganz allgemein vertretene Grundsatz, dass die Parteien keinen Anspruch darauf
hätten, in j e - d e r Instanz gehört zu werden, ist offenbar zu weit gefasst
und steht mit der seitherigen ständigen Praxis des Bundesgerichtes nicht im
Einklang.
3.- Der angefochtene Entscheid ist somit wegen Verletzung des Anspruches auf
rechtliches Gehör aufzuheben. Auf den weiteren Einwand, dass das Urteil des
Obergerichtes materiell willkürlich sei, ist bei dieser Sachlage nicht
einzutreten.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des Obergerichtes des Kantons
Solothurn vom 22. Januar 1938 aufgehoben.