S. 282 / Nr. 72 Obligationenrecht (d)

BGE 62 II 282

72. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 25. November 1936 i. S.
Jabas gegen Habegger.


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Regeste:
Verjährung: Massgebender Zeitpunkt dafür, ob Art. 60 Abs. 2 OR anwendbar ist,
ist derjenige der Klageerhebung; eine nachher eintretende Verjährung der
Straftat ist ohne Einfluss auf den Zivilanspruch.

Aus dem Tatbestand:
Der Kläger Habegger wurde am 15. Dezember 1928 vom Auto des Beklagten Jabas
angefahren und derart verletzt, dass eine dauernde Teilinvalidität
zurückblieb. Der Kläger war bei der SUVAL obligatorisch versichert. Erst im
Jahre 1930, nachdem die Rentenangelegenheit mit der SUVAL erledigt war, wandte
sich der Kläger an den Beklagten mit dem Begehren auf Ersatz des durch die
Rente nicht gedeckten Schadens. Da keine Einigung zustande kam, reichte er am
11. Dezember 1930 gegen den Beklagten eine Strafanzeige wegen Übertretung des
Automobilkonkordats ein und machte adhäsionsweise seinen Zivilanspruch
geltend.
Das Verfahren zog sich wegen Einholung verschiedener Expertisen in die Länge,
so dass das erstinstanzliche Urteil erst im Juli 1934 gefällt werden konnte.
Sowohl die erste Instanz, wie die Strafkammer des Obergerichts Bern
entschieden deshalb, dass der Strafanspruch nach dem massgebenden bernischen
Strafprozessrecht verjährt sei; nicht verjährt sei dagegen auf Grund von Art.
60 Abs. 2 OR der Zivilanspruch.
Das Bundesgericht weist die gegen diese Auffassung gerichtete Berufung des
Beklagten ab.
Aus den Erwägungen:
Wie schon vor der Vorinstanz erhebt der Beklagte die Einrede, mit dem
Erlöschen des Strafanspruchs wegen Verjährung sei auch der Zivilanspruch
verjährt; denn das Nichteintreten auf die Strafklage wegen Verjährung sei

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mit einem Freispruch gleichbedeutend, weshalb für die Frage der Verjährung
nicht Art. 60 Abs. 2 OR, sondern dessen Abs. 1 mit der einjährigen
Verjährungsfrist zur Anwendung gelange. Mit Recht hat die Vorinstanz indes
diese Auffassung zurückgewiesen. Massgebender Zeitpunkt für die Entscheidung
der Frage, ob die Verjährungsfrist nach Abs. 1 oder 2 des Art. 60 zur
Anwendung komme, ist der Moment der Klageerhebung. Liegt in diesem Zeitpunkt
ein Urteil des Strafrichters vor, durch welches der Beklagte von der
strafbaren Handlung, aus welcher der Kläger seinen Anspruch herleitet,
freigesprochen worden ist, so ist allerdings nach allgemein anerkannter
Auffassung die Anwendung der längeren Verjährungsfrist des Art. 60 Abs 2 OR
ausgeschlossen; denn die Überlegung, auf der diese Bestimmung beruht ­ nämlich
dass es der Vernunft widerspräche, die Verjährung des Zivilanspruches
eintreten zu lassen, solange die den Täter viel härter treffende
strafrechtliche Verfolgung noch möglich ist ­ trifft mangels einer strafbaren
Handlung eben nicht mehr zu (OSER-SCHÖNENBERGER, Anm. 15 zu Art. 60 OR).
Dieselbe Wirkung hätte wohl auch ein Entscheid des Strafrichters, der das
Erlöschen der öffentlichen Klage wegen Verjährung feststellt, da diese
Feststellung durch den Richter die Bedeutung eines Freispruches hat; denn
infolge der Verjährung fällt eine materielle Voraussetzung des staatlichen
Strafanspruches dahin (HAFTER, Schweiz. Strafrecht, S. 391). Liegt dagegen zur
Zeit der Klageerhebung kein Entscheid des Strafrichters vor, so hat der
Zivilrichter darüber zu entscheiden, ob ein Straftatbestand erfüllt ist oder
nicht. Gelangt er zur Bejahung dieser Frage, so greift die längere
strafrechtliche Verjährungsfrist des Art. 60 Abs. 2 Platz. Ein nachträgliches
Erlöschen des staatlichen Strafanspruchs wegen Verjährung ist ohne Einfluss.
Denn nach allgemein anerkannter Auffassung setzt die Anwendbarkeit von Abs. 2
nicht voraus, dass ein Strafverfahren durchgeführt wird, das mit einer
Verurteilung des Beklagten endigt, sondern es genügt, dass der

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Tatbestand einer strafbaren Handlung gegeben ist (BECKER, Anm. 4 zu Art. 60
OR). Mangels eines Strafverfahrens tritt aber notwendigerweise die Verjährung
der Straftat ein, und wenn diesem Umstand für die Geltendmachung des
Zivilanspruchs Bedeutung beigemessen werden wollte, so wäre eine Berufung auf
die längere Strafverjährungsfrist im Sinne von Art. 60 Abs. 2 OR überhaupt nur
bei Durchführung eines Strafverfahrens denkbar.
Da nun im vorliegenden Falle zur Zeit der Klageerhebung, am 11. Dezember 1930,
ein strafgerichtlicher Entscheid noch nicht vorlag und anderseits die
Fahrweise des Beklagten materiell unstreitig eine strafbare Handlung
darstellte, nämlich einen Verstoss gegen Art. 33 des Automobilkonkordats, so
gilt für den daraus abgeleiteten Zivilanspruch des Klägers die strafrechtliche
Verjährungsfrist, die nach den verbindlichen Erklärungen der Vorinstanz 2
Jahre beträgt. Diese Frist ging erst am 15. Dezember 1930 zu Ende, so dass
durch die Klageerhebung vom 11. Dezember die Verjährung unterbrochen wurde.
Auch in der Folge trat eine Verjährung nicht ein, da gemäss Art. 138 Abs. 1 OR
jede gerichtliche Handlung der Parteien und jede Verfügung des mit der
Zivilklage befassten Richters eine neue Unterbrechung der Verjährung bewirkte.
Die Auffassung des Beklagten, dass für die Verjährung des Zivilanspruches auch
nach der Einreichung der Klage die strafrechtlichen Verjährungsvorschriften
massgebend seien, findet im Gesetz keinen Anhaltspunkt und muss auch aus dem
Sinn und Zweck des Art. 60 Abs. 2 OR keineswegs herausgelesen werden.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 62 II 282
Datum : 01. Januar 1936
Publiziert : 25. November 1936
Quelle : Bundesgericht
Status : 62 II 282
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Verjährung: Massgebender Zeitpunkt dafür, ob Art. 60 Abs. 2 OR anwendbar ist, ist derjenige der...


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OR: 60  138
BGE Register
62-II-282
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