VPB 51.17

(Entscheid des Bundesrates vom 25. Juni 1986)

Arbeitslosenversicherung. Beschwerde einer Gemeinde (Bern) an den Bundesrat gegen die bei Beiträgen an Beschäftigungsprogramme für Arbeitslose vorgenommene Kürzung des bisher stets angewendeten Beitragssatzes. Unzulässige Praxisänderung angesichts der unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse in bezug auf Arbeitszeit und Entlohnung der Arbeitslosen sowie auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit und auf die finanziellen Grundlagen für die Berechnung des Beitragssatzes.

Assurance-chômage. Recours d'une commune (Berne) au Conseil fédéral contre la réduction, dans le cadre de contributions à des programmes d'emploi pour chômeurs, du taux constamment appliqué jusqu'ici à ces contributions. Modification de pratique inadmissible eu égard à l'absence de changement dans les circonstances de fait et de droit concernant le temps de travail et la rémunération des chômeurs, ainsi que l'évolution du chômage et les bases financières du calcul du taux de contribution.

Assicurazione contro la disoccupazione. Ricorso di un Comune (Berna) al Consiglio federale contro la riduzione, nell'ambito delle contribuzioni a programmi d'impiego per disoccupati, dell'aliquota costantemente applicata a tali contribuzioni. Modificazione della pratica inammissibile in considerazione delle circostanze di fatto e di diritto, rimaste immutate, concernenti il tempo di lavoro e la rimunerazione dei disoccupati, come pure l'evoluzione della disoccupazione e le basi finanziarie del calcolo dell'aliquota di contribuzione.

I

A. Am 14. und 27. Juni sowie am 11. Juli 1985 hat das Wirtschaftsamt Bern beim Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) Gesuche um Ausrichtung von Beiträgen an mehrere Beschäftigungsprogramme von Arbeitslosen, wie Flickstube und Kleideraufbereitung, Wanderwegbau, Werkstätte und Holzbearbeitung, Theatersammlung, Spielzeugflickerei, Holzsammeln und Genossenschaftszentren, eingereicht. Die Aufsichtskommission für den Ausgleichsfonds der Arbeitslosenversicherung hat die Gesuche und die darin aufgeführten Beschäftigungsprogramme mit Entscheid vom 3. September 1985 gutgeheissen und als Gesamtprogramm behandelt; ferner hat sie an die anrechenbaren Kosten gemäss Art. 97 Abs. l der V vom 31. August 1983 über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung (AVIV, SR 837.02) einen Versicherungsbeitrag gewährt. In Anwendung von Art. 98 Abs. 1 AVIV ist aber der Beitragssatz von 35% auf 30% gekürzt worden. Der Begründung ist zu diesem Punkt folgendes zu entnehmen:

«4. Aufgrund der Unterlagen wird ebenfalls ersichtlich, dass die wöchentliche Einsatzdauer im Schnitt bei knapp 42 Stunden liegt und dass die Entschädigung 90% des versicherten Verdienstes ausmacht. Auf eine durchschnittliche Basis von 44 Wochenstunden umgerechnet, ergibt sich daraus eine Arbeitslosenentschädigung, welche über die gesetzliche Regelung beim Zwischenverdienst oder bei der Ersatzarbeit hinausgeht. Mit Rücksicht auf den subsidiären Charakter solcher Leistungen und auf die Arbeitsdauer bei den übrigen Erwerbstätigen beurteilt die Aufsichtskommission eine solche Lösung als grosszügig. Um eine schonungsvolle und breitgestreute Verwendung der Versicherungsmittel zu gewährleisten, hält sie daher eine angemessene Reduktion des üblichen Beitragssatzes als gerechtfertigt.»

B. Gegen diesen Entscheid hat die Präsidialdirektion der Stadt Bern am 25. September 1985 beim Bundesrat eine Beschwerde eingereicht mit dem sinngemässen Antrag, auf eine Reduktion des Beitragssatzes um 5% zu verzichten. Zur Begründung wurde im wesentlichen geltend gemacht, dass eine Reduktion des Beitragssatzes die Stadt Bern ausserordentlich hart treffen würde; die Dienststelle Arbeitslosigkeit wäre zukünftig kaum mehr in der Lage, weiterhin ein so reichhaltiges Arbeitsprogramm anzubieten, da eine Erhöhung der städtischen Budgetposition in diesem Bereich nicht zur Diskussion stehe.

C. Die Aufsichtskommission für den Ausgleichsfonds der Arbeitslosenversicherung beantragt in ihrer Beschwerdevernehmlassung vom 1. November 1985, die Beschwerde abzuweisen, da ein Beitragssatz von 35% angesichts der rückläufigen Arbeitslosenzahl, der unterdurchschnittlichen Arbeitszeit und der städtischen Entlohnung von 90% des letzten versicherten Verdienstes zu grosszügig sei.

D. In der Replik vom 9. Dezember 1985 stellt die Beschwerdeführerin ferner den Eventualantrag, «die allgemeinen Kosten und die der effektiv geleisteten Arbeitszeit entsprechenden Arbeitsentgelte an die Arbeitslosen mit dem Beitragssatz zu 35% zu unterstützen; nur die restlichen Arbeitsentgelte wären mit einem reduzierten Satz zu subventionieren». Der Begründung ist zu entnehmen, die Beitragskürzung widerspreche der bisherigen Praxis und habe rückwirkend nachteilige Auswirkungen auf schon laufende Beschäftigungsprogramme. Die freie Zeit, die aus der reduzierten Arbeitszeit und der kurzen Mittagspause resultiere, diene vor allem zur Kontaktnahme mit dem Arbeitsamt und zur Durchführung von Vorstellungsgesprächen. Was den Beitragssatz für den Kanton Bern anbelange, so betrage er nach den provisorischen Richtlinien vom 13. Dezember 1983 für die Leistung von Beiträgen an Präventivmassnahmen 35%. Bei der Beitragskürzung werde vor allem übersehen, dass die beitragsberechtigten Kosten aus Aufwendungen bestünden, die unabhängig von der Arbeitszeit anfielen.

E. Die Aufsichtskommission für den Ausgleichsfonds der Arbeitslosenversicherung bestätigt in ihrer Duplik vom 20. Dezember 1985 ihren Antrag auf Abweisung der Beschwerde.

F. Mit Instruktionsverfügung vom 15. Januar 1986 hat die Instruktionsbehörde das BIGA ersucht, darzulegen, was für ernsthafte sachliche Gründe dazu führten, abweichend von der bisherigen Praxis den Beitragssatz neu von 35 auf 30% zu senken.

Das BIGA hat mit Schreiben vom 24. und 29. Januar und vom 24. März 1986 eine Antwort erteilt, auf die, soweit notwendig, in den Erwägungen zurückgekommen wird.

...

II

1. Art. 72 des BG vom 25. Juni 1982 über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung (AVIG, SR 837.0) sieht vor, dass die Versicherung die vorübergehende Beschäftigung von Arbeitslosen im Rahmen von Programmen öffentlicher oder privater, nicht auf Gewinn orientierter Institutionen zur Arbeitsbeschaffung oder Wiedereingliederung ins Erwerbsleben durch finanzielle Beiträge fördern kann. Ein gesetzlicher Anspruch auf solche Beiträge besteht nicht, da die gesetzlichen Voraussetzungen der Beitragszusicherung nach Art. 75 Abs. l in Verbindung mit Art. 63 und 64 AVIG in einem so hohen Mass unbestimmt sind, dass es weitgehend im Ermessen der verfügenden Behörde, der Aufsichtskommission, liegt, ob und in welchem Umfang sie Beiträge zusprechen will (BBl 1980 III 538, 618; Rhinow René, Vom Ermessen im Verwaltungsrecht: eine Einladung zum Nach- und Umdenken, Recht 1/1983, S. 41 ff., insbesondere 91 ff.; Gygi Fritz, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern 1983, S. 198 ff.; VPB 44.84, 49.68). Ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Eidg. Versicherungsgericht mangels eines Anspruchs auf vermögensrechtliche Zuwendungen unzulässig (Art. 129 Abs. 1 Bst. c OG), so ist die vorliegende Beschwerde
gegen die Verfügung der Aufsichtskommission durch den Bundesrat zu beurteilen (Art. 72 ff . VwVG; Art. 129 AVIV); dieser überprüft die angefochtene Verfügung nach Art. 49 VwVG in vollem Umfang.

2. Die Beschwerdeführerin ist durch die angefochtene Verfügung berührt und demzufolge beschwerdeberechtigt (Art. 48 Bst. a VwVG). Auf die form- und fristgerecht (Art. 50 , 52 VwVG) eingereichte Beschwerde ist daher einzutreten.

3. Der vorliegende Streit dreht sich um die Frage, ob die von der Aufsichtskommission für den Ausgleichsfonds der Arbeitslosenversicherung vorgenommene Praxisänderung, den Beitrag der Arbeitslosenversicherung für die Beschäftigungsprogramme von 35 auf 30% der anrechenbaren Kosten herabzusetzen (Art. 98 Abs. 1 AVIV), zulässig ist.

a. Eine Praxisänderung kommt nach der Lehre und der Rechtsprechung nur in Frage, wenn sich entweder die tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse geändert haben oder wenn neue rechtliche Argumente, wie sie namentlich die Wissenschaft vorgebracht hat, eine anderweitige Beurteilung rechtfertigen (Grisel André, Traité de droit administratif suisse, Neuenburg 1984, Bd. I, S. 101, 362; Kälin Walter, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, Bern 1984, S. 334; BGE 108 Ia 125 E.a).

b. Die Aufsichtskommission für den Ausgleichsfonds der Arbeitslosenversicherung begründet die Herabsetzung des Beitragssatzes auf 30% mit dem subsidiären Charakter der Leistungen, mit der rückläufigen Arbeitslosenzahl, der unterdurchschnittlichen Arbeitszeit der im Beschäftigungsprogramm engagierten Arbeitslosen und mit der städtischen Entlohnung von 90% des letzten versicherten Verdienstes.

Auf Ersuchen der Instruktionsbehörde hat das BIGA die Voraussetzungen, die zur Praxisänderung führten, untersucht und in seinen Schreiben vom 24. und 29. Januar 1986 dazu folgendes ausgeführt:

«...

2. Relevanz der unterdurchschnittlichen Arbeitszeit

Die wöchentliche Einsatzdauer bewegt sich auch in anderen Projekten ausserhalb des Kantons Bern zum Teil in diesem Rahmen. Eine solche Zeitreduktion wird in der Regel dazu benutzt, dass die Arbeitslosen beim Arbeitsamt vorsprechen oder persönliche Vorstellungen durchführen können. Das sind Pflichten, welche allen bezugsberechtigten Arbeitslosen obliegen.

3. Berechnung des Beitragssatzes

Gemäss Art. 98 Abs. 1 AVIV wird der Beitragssatz für die Versicherungsbeiträge, entsprechend der Usanz bei den Bundessubventionen, gestützt auf die Finanzkraft der Kantone, festgelegt (vgl. V über die Festsetzung der Finanzkraft der Kantone für die Jahre 1984 und 1985 vom 28. November 1983, AS 1983 1866). Die Masszahl von 74 Punkten ergibt bei Beiträgen «zwischen 20 und 40%» anhand der offiziellen Umrechnungstabelle (Anhang zur genannten V) einen Beitragssatz von 35% für Programme, die vom Kanton Bern oder einer bernischen Gemeinde durchgeführt werden (vgl. dazu Anhang zu den BIGA-Richtlinien vom 15. Dezember 1983).

4. Praxis bei den Beitragssätzen

Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich um eine Korrektur, die in dieser Form erstmals und ausschliesslich im vorliegenden Fall vorgenommen wurde.

5. Entwicklung der Arbeitslosigkeit

Im gesamtschweizerischen Jahresdurchschnitt betrug die Arbeitslosenquote 1985 1,0% (im Vorjahr 1,1%). Die Arbeitslosigkeit entwickelte sich auf schweizerischer, kantonalbernischer und stadtbernischer Ebene parallel: Allgemeiner und saisonbedingter Rückgang in den Sommermonaten und leichter Wiederanstieg gegen Jahresende (vgl. dazu Auszug aus «Die Volkswirtschaft», 1985, S. 791). Der Kanton Bern gehört zu jenen Kantonen, die zahlenmässig eine sehr hohe Arbeitslosigkeit aufweisen. Die Quoten für die Stadt Bern lagen anfangs 1985 bei 1,6%, im August bei 1,0% und Ende 1985 bei 1,2%.

...

Über die Entlohnung der Teilnehmer in Beschäftigungsprogrammen bestehen von Bundes wegen keine besonderen Richtlinien. Das Ziel solcher Massnahmen, das heisst eine baldmögliche Eingliederung der Arbeitslosen ins Erwerbsleben, dürfte jedoch von selbst der Entschädigungshöhe gewisse Grenzen setzen.

Die von der Stadt im fraglichen Einsatzprogramm geübte Entlöhnungspraxis (90% des letzten Verdienstes) ist nur eine der zahlreichen Entschädigungsvarianten. Indem sie auf das ehemalige Einkommen abstellt, trägt sie dem individuellen Moment besondere Beachtung. Andere Organisationen wiederum stützen sich eher auf alters- oder leistungsabhängige Entlöhnungsansätze. Grundsätzlich kann jedoch festgestellt werden, dass sich die vorliegende Entschädigungspraxis durchaus im Rahmen bewegt.»

Die Darlegungen des BIGA zeigen, dass die Begründung der Vorinstanz zur Herabsetzung des Beitragssatzes eine Pauschalbehauptung darstellt, die nicht zutrifft; von geänderten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen ist nicht die Rede, weshalb eine Änderung der Beitragspraxis sachlich unbegründet und unzulässig ist (BGE 109 II 175, BGE 108 Ia 125; Haefliger Arthur, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, Zur Tragweite des Artikels 4 der Bundesverfassung, Bern 1985,S. 198/99).

4. Die Vorinstanz macht ferner geltend, die Herabsetzung der Versicherungsleistungen diene der Schonung und breiten Streuung der Versicherungsmittel.

Es ist richtig, die zur Verfügung stehenden Finanzmittel möglichst sinnvoll auf die einzelnen Projekte zu verteilen. Solange aber der Fonds und die Kassen der Arbeitslosenversicherung über ausreichende Finanzmittel verfügen, was im Jahr 1985 der Fall war, die Arbeitslosigkeit eher rückgängig und eine Erhöhung der Versicherungsbeiträge folglich nicht notwendig ist, besteht für eine Senkung des Beitragssatzes zur Berechnung der Leistungen der Arbeitslosenversicherung kein triftiger Grund; dies um so weniger, als die vorliegende Senkung des Beitragssatzes gesamtschweizerisch eine einmalige Ausnahme darstellt. Kürzungen der Versicherungsleistungen kamen höchstens in Frage, wenn vorgängig allgemein-gültige Richtlinien über die Verteilung der zur Verfügung stehenden Gelder aufgestellt würden (BGE 110 Ib 158 E.d).

5. Die Beschwerde ist daher gutzuheissen und der Beitragssatz der Arbeitslosenversicherung gemäss dem Antrag der Beschwerdeführerin auf 35% festzusetzen.

Verfahrenskosten werden keine gesprochen (Art. 63 Abs. 2 VwVG).

Die Beschwerdeführerin hat auch keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung, da die Stadtverwaltung Bern über einen gut ausgebauten Rechtsdienst verfügt und ihr im übrigen keine notwendigen und verhältnismässig hohen Kosten erwachsen sind (Art. 64 Abs. 2 VwVG).

Dokumente des Bundesrates