EMARK - JICRA - GICRA 2006 / 17

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Auszug aus dem Urteil der ARK vom 27. April 2006 i.S. Y.H., Irak
Art. 3 AsylG: Frage der Kollektivverfolgung von Jeziden im Irak.

1. Allgemeine Situation der jezidischen Minderheit im Irak (Erw. 4.1.).

2. Jeziden unterliegen im Irak keiner Kollektivverfolgung im Sinne der Rechtsprechung (EMARK 2006 Nr. 1) (Erw. 4.2.).
Art. 3 LAsi : question de la persécution collective des Yézidis en Irak.

1. Situation générale de la minorité yézidi en Irak (consid. 4.1.).

2. Les Yézidis ne connaissent pas, en Irak, de persécution collective au sens où l'entend la jurisprudence (JICRA 2006 n° 1) (consid. 4.2.).
Art. 3 LAsi: questione della persecuzione collettiva degli iazidi in Iraq.

1. Situazione generale della minoranza degli iazidi in Iraq (consid. 4.1.).

2. Gli iazidi non sono esposti in Iraq ad una persecuzione collettiva ai sensi della giurisprudenza (GICRA 2006 n. 1) (consid. 4.2.).
Zusammenfassung des Sachverhalts:
Der Beschwerdeführer, ein ethnischer Kurde jezidischen Glaubens mit letztem Wohnsitz in X./Mosul/Nordirak, stellte am 21. Mai 2002 ein Asylgesuch. Er machte im Wesentlichen geltend, er habe seine Heimat verlassen, weil der irakische Sicherheitsdienst (der damaligen Zentralregierung von Saddam Hussein) von ihm verlangt habe, dass er im religiösen Zentrum der Jeziden in Y. Informationen sammle. Man habe ihm gesagt, es sei ein Sprengstoffanschlag auf dieses Zentrum geplant. Er habe sich weder politisch noch religiös betätigt, habe aber während seines Studiums an der Universität von Mosul Informationsblätter des Zentrums der Jeziden erhalten. Nach Abschluss seines Studiums habe er als Hirte gearbeitet. Die Jeziden hätten im Irak viele Schwierigkeiten, unter denen auch er gelitten habe.

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Die Vorinstanz lehnte das Asylgesuch des Beschwerdeführers mit Verfügung vom 30. September 2005 ab. Gleichzeitig verfügte sie die Wegweisung aus der Schweiz. Zufolge Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs ordnete sie die vorläufige Aufnahme des Beschwerdeführers an.
Mit Beschwerde vom 31. Oktober 2005 beantragte der Beschwerdeführer bei der ARK die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft und die Gewährung von Asyl.
Die ARK weist die Beschwerde ab.
Aus den Erwägungen:

3.

3.1. Der Beschwerdeführer macht in seiner Eingabe geltend, es sei eine Tatsache, dass die Jeziden unter dem Saddam-Regime aus ihren angestammten Dörfern vertrieben und einer Zwangsassimilation unterworfen worden seien. Man habe sie als Araber sehen und in die Politik einbinden wollen. Die Jeziden hätten nur in einem privaten und häuslichen Rahmen sowie der lokalen Umgebung ihre Religion ausüben dürfen. Damit sei festzustellen, dass er als Angehöriger der jezidischen Glaubensgemeinschaft die Anforderungen an die Flüchtlingseigenschaft zum Zeitpunkt seiner Einreise in die Schweiz erfüllt habe. Die Sicherheitssituation von Angehörigen religiöser Minderheiten habe sich im Irak nach dem Sturz des alten Regimes verschlechtert. In der neuen irakischen Verfassung sei der Islam als Staatsreligion verankert. Es sei zu befürchten, dass die Scharia eine zentrale Rolle spielen werde, weshalb die in der Verfassung verankerte Religionsfreiheit rechtlich nicht hinreichend gesichert sei. Die irakischen Polizeikräfte seien nicht in der Lage, Recht und Ordnung wirksam durchzusetzen und viele Übergriffe gelangten den Sicherheitskräften nicht zur Kenntnis. Es sei eine starke Hinwendung von Teilen der Bevölkerung im Zentral- und Südirak zu streng
islamischen Traditionen und Glaubensgrundsätzen zu beobachten, was zu wachsender Ausgrenzung und zunehmendem Druck auf Angehörige religiöser Minderheiten führe. Das Leben des Beschwerdeführers sei deshalb im Irak nach wie vor in Gefahr. Die Angehörigen der religiösen Minderheit der Jeziden unterlägen im Irak einer Kollektivverfolgung.

3.2. Die Vorinstanz führt in ihrer Vernehmlassung aus, die Zugehörigkeit zur jezidischen Glaubensgemeinschaft reiche für sich allein nicht aus, um eine Verfolgung anzunehmen. Der Beschwerdeführer habe sich durch keine religiösen Tätigkeiten exponiert, habe an der Universität von Mosul studiert und sei Mitglied der Baath-Partei gewesen; er spreche kurdisch, kurmansch und arabisch.

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Demzufolge werde er in der Öffentlichkeit nicht in erster Linie als Jezide wahrgenommen. Dies gehe auch aus dem Umstand hervor, dass er nie Kontakte mit dem jezidischen Verein "Lalisch" gehabt habe.

3.3. Der Beschwerdeführer entgegnet in seiner Stellungnahme, er habe in der Schweiz Kontakte zu Jeziden aus dem Irak und der Türkei. Die von ihm beigelegten Berichte zeigten, dass die Angehörigen der religiösen Minderheit der Jeziden im Irak gezielt und andauernd ernsthaften Nachteilen ausgesetzt seien. Auf Grund der neuen irakischen Verfassung und eingeholter Informationen wisse er, dass er im Irak als "Ungläubiger" keine [...] Anstellung erhalten werde.

4.

4.1.

4.1.1. Die Jeziden stellen im Irak eine kleine religiöse Minderheit dar, ihr Anteil an der irakischen Gesamtbevölkerung liegt schätzungsweise bei ein bis zwei Prozent. Etwa 90 Prozent der jezidischen Glaubensangehörigen leben in Gebieten, welche bis zum Sturz des Regimes von Saddam Hussein vom irakischen Zentralstaat kontrolliert wurden; ungefähr 10 Prozent leben auf dem von den kurdischen Parteien kontrollierten Gebiet (die meisten in der Provinz Dohuk). Die Hauptsiedlungsgebiete der Jeziden sind das Scheikhan-Gebiet und der Jebel Sindjar. Der Sindjar liegt, ebenso wie der grösste Teil des Scheikhan, in der ehemals zentralirakischen Provinz Niniveh. Nur ein kleiner Teil Scheikhans - der Norden inklusive Lalisch-Tal - liegt in der kurdischen Provinz Dohuk. Der Jebel Sindjar und das Sheikhan-Gebiet wurden im Rahmen der Arabisierungspolitik des Regimes von Saddam Hussein entvölkert: Die Bewohner aus rund 400 Dörfern, welche zerstört oder Angehörigen arabischer Stämme überlassen wurden, wurden gezwungen, in so genannte Zentral- oder Sammeldörfer zu ziehen. Die meisten Jeziden leben heute in Dörfern beziehungsweise Zentraldörfern in Sindjar und Sheikhan; darüber hinaus gibt es in den grossen Städten des kurdisch verwalteten Nordens,
insbesondere in Dohuk, sowie in Mosul und Bagdad kleinere jezidische Bevölkerungsgruppen.

4.1.2. In Art. 7 der am 8. März 2004 verabschiedeten Übergangsverfassung des Irak wurde der Islam zur Staatsreligion erklärt; gleichzeitig wurde festgehalten, dass er lediglich eine Quelle des irakischen Rechts darstellt. Die Identifizierung der Mehrheit der Bevölkerung des Irak mit dem Islam soll respektiert und das Recht des Einzelnen auf Ausübung des eigenen Glaubens garantiert werden. Art. 12 legte fest, dass alle Iraker gleich sind, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Überzeugung, ihrer Nationalität, ihrer Religion und ihrer Herkunft; entsprechende Diskriminierungen wurden untersagt. Der Posten des Staatsministers für Angelegenheiten der Zivilgesellschaft wurde mit einem Jeziden besetzt; der

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Posten lief über das Kontingent der KDP, die auf diese Weise jezidische Wähler an sich binden wollte. Über die neue irakische Verfassung wurde am 15. Oktober 2005 abgestimmt; gemäss offiziellen Erklärungen wurde sie mit 78 Prozent der Stimmen angenommen. Damit wurde die Übergangsverfassung des Staates Iraks ersetzt. Auch in der neuen irakischen Verfassung wird festgehalten, dass jeder Iraker das Recht auf Religionsfreiheit hat, wobei die Religionsfreiheit der Christen, Jeziden und Mandäer ausdrücklich garantiert wird. Allerdings wird erst die Praxis zeigen, wie die Verfassungsregeln umgesetzt werden beziehungsweise wie tolerant sich die Angehörigen der Mehrheitsreligion zeigen werden.

4.1.3. Seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein ist es zu einer Vielzahl von Übergriffen (Anschläge, Ermordungen, Entführungen) und Drohungen gekommen, wovon auch Jeziden betroffen waren und sind. Insbesondere im Grossraum Mosul ist die Situation sehr angespannt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Sicherheitslage im Irak insgesamt gesehen als schlecht zu bezeichnen ist. Die Gefahr, Opfer eines Anschlags zu werden, hängt unter anderem vom Profil der betreffenden Person ab. So wird jemand, der in der Öffentlichkeit als Vertreter der jezidischen Glaubensgemeinschaft auftritt oder einen mit dieser Gemeinschaft in Verbindung stehenden beziehungsweise der Mehrheitsbevölkerung oder fundamentalistischen Gruppierungen missliebigen Beruf (Verkauf von Alkohol, Tätigkeit bei den irakischen oder multinationalen Sicherheitskräften) ausübt, gefährdeter sein als Personen ohne dieses spezielle Profil. Die Situation in den Gebieten Scheikhan und Sindjar ist in rein jezidischen Dörfern eher ruhiger als in den gemischten Orten. In den Letzteren dürfte sich die Sicherheitslage auch eher weiter verschlechtern oder zumindest zögerlicher verbessern. Besser ist die Sicherheitslage iBesser als in dieser zentralirakischen Region
ist die Sicherheitslage in den kurdisch verwalteten Gebieten (Dohuk, Erbil, Suleymaniya), wo die Gefahr, Opfer eines gewalttätigen Angriffs zu werden, geringer ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es gegenüber der jezidischen Bevölkerung nicht zu Diskriminierungen von Seiten der muslimischen Mehrheit käme. Die Möglichkeit für Jeziden aus Mosul, Bagdad, Scheikhan oder Sindjar, welche konkret bedroht worden sind, an anderen Orten Schutz zu finden, ist [...] begrenzt [...]. Für Personen ohne tragfähige Kontakte ist der Aufbau einer Existenz mit zahlreichen Schwierigkeiten verbunden.
Die hauptsächlichen Urheber der Übergriffe gegen Jeziden sind (nicht-staatliche) fundamentalistisch-islamistische Gruppierungen. Seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein haben sich viele solcher Gruppen gebildet. Die irakische Regierung und die Sicherheitsbehörden (Polizei, Armee) sind nicht in der Lage, an allen Orten effektiven Schutz vor Übergriffen seitens islamistischer Gruppen oder von Privatpersonen ausgehenden Benachteiligungen zu gewähren,

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denn in einigen Teilen des Iraks gibt es keine funktionstüchtigen Polizeikräfte und keine schutzfähige Armee. Sowohl die Sicherheitskräfte wie auch die alliierten Truppen sind Ziel terroristischer Anschläge und können wenig effektiven Schutz vor Übergriffen auf Privatpersonen bieten. Die allgemeine Sicherheitslage in den drei kurdisch verwalteten Provinzen ist, wie bereits erwähnt, deutlich besser als in den anderen Teilen des Landes, da der kurdisch verwaltete Nordirak über ein relativ stabiles Sicherheitssystem (Polizei und Geheimdienst) verfügt. Die Mehrheit der im Irak agierenden terroristischen Gruppen dürfte arabischer Herkunft sein - radikal-islamische kurdische Gruppen gibt es zwar, sie stellen jedoch eine Minderheit dar. Jezidische Institutionen (wie das Lalisch-Zentrum) werden von Peschmerga der KDP bewacht, was jedoch vor terroristischen Anschlägen nur begrenzt schützen kann (Quellen für diese Zusammenfassung der Lage der Jeziden im Irak waren unter anderen: Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Stellungnahme vom 2. November 2004 an das Verwaltungsgericht Regensburg; UNHCR, Hintergrundinformationen zur Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten im Irak, April 2005; SFH, Irak-Update, 15. Juni 2005; Amnesty
International Deutschland, Asyl-Gutachten, Verwaltungsstreitsache irakischer Staatsangehöriger jesidischer Religionszugehörigkeit, 16. August 2005).

4.2.

4.2.1. Die in der Beschwerde vertretene Auffassung, der Beschwerdeführer habe zum Zeitpunkt des Verlassens seines Heimatlandes die Flüchtlingseigenschaft erfüllt, weil er der jezidischen Glaubensgemeinschaft angehöre, wird von der ARK nicht geteilt. Dass der Beschwerdeführer, der sich seinen Angaben zufolge weder politisch betätigte noch religiös exponierte und mit den irakischen Behörden in der Vergangenheit keine Probleme, namentlich nie Festnahmen oder Inhaftierungen, erlebte, wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Jeziden eine zukünftige asylrechtlich relevante Verfolgung befürchten musste, ist insgesamt nicht zu bejahen.

4.2.2. Aufgrund der vorliegenden Einschätzungen der Situation der Jeziden im Irak muss zwar davon ausgegangen werden, dass diese aus religiösen und anderen Gründen in vielfältiger Weise diffamiert und schikaniert werden und dass zwischen ihnen und der muslimischen Bevölkerungsmehrheit latente und teilweise auch offene Spannungen und Konflikte bestehen. Gemäss Schätzungen leben zurzeit zirka 550'000 Jeziden im Irak. Auch wenn es in den letzten Jahren zu einigen hundert Übergriffen auf Angehörige dieser Glaubensgemeinschaft gekommen ist, bei denen zahlreiche Menschen verletzt wurden oder ums Leben gekommen sind, kann im Kontext des Irak nicht davon ausgegangen werden, dass Jeziden allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dieser Religionsgemeinschaft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Opfer von asylrechtlich relevanter

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Verfolgung werden. Somit kann nicht von einer derartigen Gefährdung der Jeziden gesprochen werden, dass eine Kollektivverfolgung der Angehörigen dieser Gruppe zu bejahen wäre (vgl. zur Frage der Voraussetzungen für die Annahme einer Kollektivverfolgung: EMARK 2006 Nr. 1, Erw. 4.3., S. 3_f.)

© 30.08.06