2019 VI/4

Auszug aus dem Urteil der Abteilung VI
i.S. B. gegen Staatssekretariat für Migration
Fâ¿¿184/2019 vom 28. August 2019

Nichteintreten auf Asylgesuch (Dublin-Verfahren). Fristen im Dublin-Verfahren. Remonstrationsverfahren. Verspätete Zuständigkeitserklärung. Praxisänderung. Grundsatzurteil.

Art. 5 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 1560/2003.

1. Darstellung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zur zweiwöchigen Antwortfrist im Remonstrationsverfahren gemäss Art. 5 Abs. 2 Verordnung Nr. 1560/2003 (E. 8.3.1â¿¿8.3.2).

2. Weil keine triftigen Gründe gegen die Übernahme der Rechtsprechung des EuGH sprechen, ist die Praxis des Bundesverwaltungsgerichts dahingehend anzupassen, dass der im Remonstrationsverfahren ersuchte Mitgliedstaat seine Zustimmung rechtswirksam nur innerhalb der zweiwöchigen Antwortfrist des Art. 5 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 erteilen kann. Lehnt der ersuchte Mitgliedstaat seine Zuständigkeit ab oder antwortet er nicht innert dieser Frist, wird der ersuchende Mitgliedstaat zum zuständigen Mitgliedstaat, es sei denn, die zwingenden Fristen der Art. 21 Abs. 1 Dublin-III-VO beziehungsweise Art. 23 Abs. 2 Dublin-III-VO für die Stellung eines erneuten Gesuchs um Aufnahme und Wiederaufnahme sind noch nicht abgelaufen. In diesem Fall kann der ersuchende Mitgliedstaat ein neues Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch an einen anderen Mitgliedstaat richten (E. 8.4).

Non-entrée en matière sur une demande d'asile (procédure Dublin). Délais dans la procédure Dublin. Procédure de réexamen. Acceptation de compétence tardive. Changement de jurisprudence. Arrêt de principe.

Art. 5 par. 2 règlement (CE) no 1560/2003.

1. Rappel de la jurisprudence de la Cour de justice de l'Union européenne (CJUE) concernant le délai de réponse de deux semaines dans la procédure de réexamen au sens de l'art. 5 par. 2 du règlement no 1560/2003 (consid. 8.3.1â¿¿8.3.2).

2. En l'absence de raisons valables pour ne pas reprendre la jurisprudence de la CJUE, le Tribunal administratif fédéral est amené adapter sa pratique en n'accordant l'Etat membre requis dans la procédure de réexamen ne dispose que du délai de réponse de deux semaines prévu l'art. 5 par. 2 du règlement (CE) no 1560/2003 pour accepter sa propre compétence de manière valable. Si l'Etat membre requis rejette sa compétence ou ne répond pas dans ce délai, la compétence passe l'Etat membre requérant, moins que les délais impératifs des art. 21 par. 1 et art. 23 par. 2 du règlement Dublin III pour présenter une nouvelle requête aux fins de prise ou de reprise en charge ne soient pas encore échus. Dans ce cas, l'Etat membre requérant peut adresser une nouvelle requête aux fins de prise ou de reprise en charge un autre Etat membre (consid. 8.4).

Non entrata nel merito di una domanda d'asilo (procedura Dublino). Termini applicabili nella procedura Dublino. Procedura di riesame. Accettazione tardiva della competenza. Modifica della prassi. Sentenza di principio.

Art. 5 par. 2 regolamento (CE) n. 1560/2003.

1. Sintesi della giurisprudenza della Corte di giustizia dell'Unione europea (CGUE) sul termine di risposta di due settimane nella procedura di riesame secondo l'art. 5 par. 2 del regolamento (CE) n. 1560/2003 (consid. 8.3.1â¿¿8.3.2).

2. In assenza di fondati motivi che si oppongono al recepimento della giurisprudenza della CGUE, la prassi del Tribunale amministrativo federale deve essere adeguata, accordando allo Stato membro richiesto nella procedura di riesame soltanto il termine di risposta di due settimane, previsto all'art. 5 par. 2 del regolamento (CE) n. 1560/2003, per riconoscere validamente la propria competenza. Se lo Stato richiesto nega la propria competenza o non risponde entro tale termine, la competenza passa allo Stato richiedente, a meno che i termini cogenti previsti agli art. 21 par. 1 e art. 23 par. 2 del regolamento Dublino III per la presentazione di una nuova domanda di ammissione o riammissione non siano ancora spirati. In tal caso, lo Stato richiedente può presentare a un altro Stato membro una nuova domanda di ammissione o riammissione (consid. 8.4).

Die Beschwerdeführerin, eine äthiopische Staatsangehörige, suchte am 30. Juli 2018 in der Schweiz um Asyl nach.

Abklärungen des Staatssekretariats für Migration (SEM) ergaben, dass der Beschwerdeführerin am 12. Juni 2018 von der italienischen Vertretung in Äthiopien ein bis 4. Juli 2018 gültiges Schengen-Visum ausgestellt worden war.

Am 18. September 2018 ersuchte das SEM (nachfolgend auch: Vorinstanz) die italienischen Behörden um Aufnahme der Beschwerdeführerin gemäss Art. 18 Abs. 1 Bst. a der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung), ABl L 180/31 vom 29.6.2013 (nachfolgend: Dublin-III-VO). Diese lehnten das Gesuch am 14. November 2018 ab.

Am 15. November 2018 gelangte das SEM abermals an die italienischen Behörden und ersuchte um eine Überprüfung ihrer negativen Antwort (sog. Remonstrationsgesuch). Rechtsgrundlage bildete Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABI. L 222/3 vom 5.9.2003 (nachfolgend: Verordnung Nr. 1560/2003), welcher das sogenannte Remonstrationsverfahren regelt.

Am 18. Dezember 2018 stimmten die italienischen Behörden dem Remonstrationsgesuch ausdrücklich zu.

Mit Verfügung vom 19. Dezember 2018 trat das SEM in Anwendung von Art. 31a Abs. 1 Bst. b
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 31a Entscheide des SEM - 1 Das SEM tritt in der Regel auf Asylgesuche nicht ein, wenn Asylsuchende:
1    Das SEM tritt in der Regel auf Asylgesuche nicht ein, wenn Asylsuchende:
a  in einen sicheren Drittstaat nach Artikel 6a Absatz 2 Buchstabe b zurückkehren können, in welchem sie sich vorher aufgehalten haben;
b  in einen Drittstaat ausreisen können, welcher für die Durchführung des Asyl- und Wegweisungsverfahrens staatsvertraglich zuständig ist;
c  in einen Drittstaat zurückkehren können, in welchem sie sich vorher aufgehalten haben;
d  in einen Drittstaat weiterreisen können, für welchen sie ein Visum besitzen und in welchem sie um Schutz nachsuchen können;
e  in einen Drittstaat weiterreisen können, in dem Personen, zu denen sie enge Beziehungen haben, oder nahe Angehörige leben;
f  nach Artikel 31b in ihren Heimat- oder Herkunftsstaat weggewiesen werden können.
2    Absatz 1 Buchstaben c-e findet keine Anwendung, wenn Hinweise bestehen, dass im Einzelfall im Drittstaat kein effektiver Schutz vor Rückschiebung nach Artikel 5 Absatz 1 besteht.
3    Das SEM tritt auf ein Gesuch nicht ein, welches die Voraussetzungen von Artikel 18 nicht erfüllt. Dies gilt namentlich, wenn das Asylgesuch ausschliesslich aus wirtschaftlichen oder medizinischen Gründen eingereicht wird.
4    In den übrigen Fällen lehnt das SEM das Asylgesuch ab, wenn die Flüchtlingseigenschaft weder bewiesen noch glaubhaft gemacht worden ist oder ein Asylausschlussgrund nach den Artikeln 53 und 54 vorliegt.96
AsylG (SR 142.31) auf das Asylgesuch der Beschwerdeführerin nicht ein und verfügte die Wegweisung aus der Schweiz nach Italien.

Das Bundesverwaltungsgericht heisst die dagegen erhobene Beschwerde gut und weist die Vorinstanz an, sich für das Asylverfahren der Beschwerdeführerin zuständig zu erklären und das nationale Verfahren durchzuführen.

Aus den Erwägungen:

8.3.1 Zur rechtlichen Tragweite der zweiwöchigen Antwortfrist gemäss Art. 5 Abs. 2 Verordnung Nr. 1560/2003 hält der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH; Urteil des EuGH vom 13. November 2018
Câ¿¿47/17 und Câ¿¿48/17 X und X/Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie) einleitend fest, dass das Ausbleiben einer fristgerechten Antwort des ersuchten Mitgliedstaats nicht als Zustimmung gewertet werden könne, wie es Art. 22 Abs. 7 und Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO für das Aufnahme- beziehungsweise Wiederaufnahmeverfahren vorsähen (Rn. 77â¿¿79). Er erinnert jedoch daran, dass Art. 5 Abs. 2 Verordnung Nr. 1560/2003 im Einklang mit den Vorschriften der Dublin-III-VO und den mit dieser verfolgten Ziele auszulegen sei, insbesondere dem in den Erwägungsgründen 4 und 5 dieser Verordnung genannten Ziel, eine klare und praktikable Formel für die rasche Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats festzulegen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung eines solchen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden. Dieses Ziel würde, so der EuGH, nicht beachtet, hätte die zweiwöchige Antwortfrist gemäss Art. 5 Abs. 2 Verordnung Nr. 1560/2003 nur hinweisenden Charakter (Rn. 81, 82). Vor diesem Hintergrund legt der EuGH Art. 5 Abs. 2 Verordnung Nr. 1560/2003 abweichend
vom Bundesverwaltungsgericht im Grundsatzurteil BVGE 2018 VI/2 dahingehend aus, dass sich der mit einem Remonstrationsgesuch konfrontierte Mitgliedstaat im Geist der loyalen Zusammenarbeit bemühen müsse, das Gesuch innerhalb einer Frist von zwei Wochen zu beantworten. Antworte er nicht innerhalb dieser Frist, sei das Remonstrationsverfahren endgültig abgeschlossen und der ersuchende Mitgliedstaat sei als zuständiger Mitgliedstaat zu betrachten, es sei denn, ihm stehe die für die Stellung eines erneuten Gesuchs um Aufnahme oder Wiederaufnahme erforderliche Zeit innerhalb der dazu in Art. 21 Abs. 1 beziehungsweise Art. 23 Abs. 2 Dublin-III-VO vorgesehenen zwingenden Fristen zur Verfügung (Rn. 86, 87, 90).

8.3.2 Zum Vorbehalt der nicht abgelaufenen Frist für ein erneutes Aufnahme- beziehungsweise Wiederaufnahmegesuch äussert sich der EuGH nicht. Wie aber der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen festhält, legen Art. 22 Abs. 1 und 6 und Art. 25 Abs. 1 Dublin-III-VO die Rechtsfolgen einer ablehnenden Antwort des ersuchten Mitgliedstaats auf ein Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch nicht fest. Der ersuchende Mitgliedstaat wird daher mit der Ablehnung nicht automatisch zuständig. Zwei Optionen verbleiben ihm. Zum einen kann er, sofern die in den Art. 21 Abs. 1 und Art. 23 Abs. 2 Dublin-III-VO geregelten zwingenden Fristen eingehalten werden, ein neues Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverfahren bei einem anderen Mitgliedstaat als dem ersuchten Mitgliedstaat stellen, das gegebenenfalls zur Zuständigkeit dieses anderen Mitgliedstaates führt. Zum anderen kann er gestützt auf Art. 5 Abs. 2 Verordnung Nr. 1560/2003 mit einem Remonstrationsgesuch an den zuerst ersuchten Mitgliedstaat gelangen (Schlussanträge des Generalanwalts M. Wathelet vom 22. März 2018 Câ¿¿47/17 und Câ¿¿48/17 X und X/Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie Rn. 108â¿¿110). Die erste Option bleibt ihm erhalten, wenn der im Remonstrationsverfahren ersuchte
Mitgliedstaat die Zustimmung erneut verweigert oder nicht innert der zweiwöchigen Frist des Art. 5 Abs. 2 Verordnung Nr. 1560/2003 antwortet. Dass sich ein neues Aufnahme- beziehungsweise Wiederaufnahmegesuch an einen anderen Mitgliedstaat richten muss, ergibt sich im Übrigen bereits aus der Tatsache, dass ansonsten dem Remonstrationsverfahren, welches im Gegensatz zum Aufnahme- beziehungsweise Wiederaufnahmeverfahren (vgl. Art. 22 Abs. 7 und Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO) keine für den ersuchten Mitgliedstaat nachteiligen Rechtsfolgen vorsieht, falls er nicht oder nicht innert Frist antwortet, weitgehend der Anwendungsbereich entzogen wäre.

8.4 Obwohl die Rechtsprechung des EuGH für die Schweiz grundsätzlich nicht verbindlich ist, weicht das Bundesverwaltungsgericht im Interesse einer möglichst einheitlichen Anwendung und Auslegung des Dublin-Rechts nicht ohne triftige Gründe von ihr ab (vgl. dazu BVGE 2017 VI/9 E. 5.3 m.H.). Solche triftigen Gründe sind nicht ersichtlich, sodass die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts derjenigen des EuGH im Urteil X und X/Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie anzugleichen ist: Abweichend vom Grundsatzurteil BVGE 2018 VI/2 kann demnach der ersuchte Mitgliedstaat seine Zustimmung zu einem Remonstrationsgesuch rechtswirksam nur innerhalb der zweiwöchigen Antwortfrist des Art. 5 Abs. 2 Verordnung Nr. 1560/2003 erteilen. Lehnt der ersuchte Mitgliedstaat seine Zuständigkeit ab oder antwortet er nicht innert der genannten zweiwöchigen Frist des Art. 5 Abs. 2 Verordnung Nr. 1560/2003, wird der ersuchende Mitgliedstaat zum zuständigen Mitgliedstaat, es sei denn, die zwingenden Fristen der Art. 21 Abs. 1 beziehungsweise Art. 23 Abs. 2 Dublin-III-VO für die Stellung eines erneuten Gesuchs um Aufnahme und Wiederaufnahme sind noch nicht abgelaufen. Sofern diese eingehalten werden können, kann der ersuchende
Mitgliedstaat noch ein neues Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch bei einem anderen Mitgliedstaat als dem ersten ersuchten Mitgliedstaat stellen, das gegebenenfalls zu dessen Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz führt. Gegenüber dem ersten ersuchten Mitgliedstaat, der das Aufnahme- beziehungsweise Wiederaufnahmegesuch ablehnte und das nachfolgende Remonstrationsgesuch ebenfalls ablehnte beziehungsweise darauf nicht fristgerecht antwortete, besteht eine solche Möglichkeit nicht (insoweit unrichtig: Urteil des BVGer Eâ¿¿6184/2018 vom 10. Dezember 2018 oder Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 17. Dezember 2018, 22 L 3360/18.A).