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Auszug aus dem Urteil der Abteilung V
i.S. A., B., C. und D. gegen Staatssekretariat für Migration
E 6330/2015 vom 7. Dezember 2015

Asyl. Verfahrensgarantien. Geschlechtsspezifische Verfolgung.

Art. 17 Abs. 2
SR 142.31 Loi du 26 juin 1998 sur l'asile (LAsi)
LAsi Art. 17 Dispositions de procédure particulières - 1 La disposition de la loi fédérale sur la procédure administrative40 concernant les féries ne s'applique pas à la procédure d'asile.
1    La disposition de la loi fédérale sur la procédure administrative40 concernant les féries ne s'applique pas à la procédure d'asile.
2    Le Conseil fédéral édicte des dispositions complémentaires concernant la procédure d'asile, notamment pour qu'il soit tenu compte dans la procédure de la situation particulière des femmes et des mineurs.
2bis    Les demandes d'asile des requérants mineurs non accompagnés sont traitées en priorité.41
3    La défense des intérêts des requérants mineurs non accompagnés est assurée aussi longtemps que dure la procédure:
a  dans un centre de la Confédération ou à l'aéroport: par le représentant juridique désigné, en qualité de personne de confiance; ce représentant juridique assure la coordination avec les autorités cantonales compétentes;
b  après l'attribution des intéressés à un canton: par une personne de confiance immédiatement désignée par les autorités cantonales compétentes.42
3bis    Si des indices laissent supposer qu'un requérant prétendument mineur a atteint l'âge de la majorité, le SEM peut ordonner une expertise visant à déterminer son âge.43
4    ...44
5    Lors de la notification d'une décision rendue en vertu des art. 23, al. 1, 31a ou 111c, le SEM fait parvenir les pièces de la procédure au requérant ou à son mandataire si l'exécution du renvoi a été ordonnée.45
6    Le Conseil fédéral définit le rôle, les compétences et les tâches de la personne de confiance.46
AsylG. Art. 6
SR 142.311 Ordonnance 1 du 11 août 1999 sur l'asile relative à la procédure (Ordonnance 1 sur l'asile, OA 1) - Ordonnance 1 sur l'asile
OA-1 Art. 6 Procédure en cas de persécution liée au genre - (art. 17, al. 2, LAsi)
AsylV 1.

Verfahrensvorschriften bei Hinweisen auf geschlechtsspezifische Verfolgung (E. 5).

Asile. Garanties de procédure. Persécution de nature sexuelle.

Art. 17 al. 2 LAsi. Art. 6 OA1.

Règles de procédure particulières en présence d'indices de persécution de nature sexuelle (consid. 5).

Asilo. Garanzie procedurali. Persecuzione di natura sessuale.

Art. 17 cpv. 2 LAsi. Art. 6 OAsi 1.

Norme procedurali particolari in caso di sospetta persecuzione di natura sessuale (consid. 5).


B. verliess die Türkei eigenen Angaben zufolge in Begleitung ihres Sohnes C. Anfang April 2012 und gelangte am 8. April 2012 in die Schweiz, wo sie am 11. April 2012 im Empfangs- und Verfahrenszentrum Basel um Asyl nachsuchte. Am 24. April 2012 fand die Befragung zur Person (BzP) und am 19. Juni 2015 die Anhörung zu ihren Asylgründen statt.

Mit am 4. September 2015 eröffneter Verfügung vom 2. September 2015 stellte das Staatssekretariat für Migration (SEM) fest, die Beschwerdeführenden und ihre Kinder erfüllten die Flüchtlingseigenschaft nicht, lehnte ihre Asylgesuche ab und ordnete die Wegweisung aus der Schweiz sowie den Vollzug an.

Mit Rechtsmitteleingabe vom 5. Oktober 2015 gelangten die Beschwerdeführenden durch ihren Rechtsvertreter an das Bundesverwaltungsgericht und beantragten in materieller Hinsicht die Aufhebung der angefochtenen Verfügung und die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur ergänzenden Sachverhaltsabklärung und zur neuen Entscheidung. Eventualiter sei ihnen unter Feststellung ihrer Flüchtlingseigenschaft Asyl zu gewähren, subeventualiter die vorläufige Aufnahme anzuordnen.

Mit Eingabe vom 4. November 2015 reichte der Rechtsvertreter eine Vertretungsvollmacht von B. (nachfolgend: Beschwerdeführerin) und einen fachärztlichen Bericht des Psychiatrie-Teams Stans vom 2. November 2015 betreffend die Beschwerdeführerin zu den Akten.

Diesem Bericht könne unter anderem die Diagnose (depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode, posttraumatische Belastungsstörung, schwere psychosoziale Belastungsstörung) und die Anamnese (sie sei mehrere Male vergewaltigt, anschliessend im Gesicht und am Oberkörper « beschmutzt » worden) entnommen werden. Gestützt darauf sei die Beschwerdeführerin derzeit aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht nicht reisefähig und eine Rückführung an den Ort des Geschehens könne zu einer massiven Retraumatisierung mit Suizidalität führen.

Das Bundesverwaltungsgericht heisst die Beschwerde gut, hebt die vorinstanzliche Verfügung auf und weist die Sache ans SEM zurück. Das Staatssekretariat wird angewiesen, die Beschwerdeführerin durch ein reines Frauenteam zu ihren Asylgründen anzuhören, den rechtserheblichen Sachverhalt richtig respektive vollständig festzustellen und über die Asylgesuche neu zu entscheiden.


Aus den Erwägungen:

5.

5.1 In der Rechtsmitteleingabe wird unter anderem zur unvollständigen Sachverhaltsermittlung vorgebracht, bei der BzP respektive Anhörung der Beschwerdeführerin falle insbesondere auf, dass trotz klaren Andeutungen auf sexuellen Missbrauch seitens der türkischen Polizei keine Nachfrage erfolgt sei. Sie habe bereits bei der BzP geltend gemacht, sie sei von den Polizisten belästigt worden, sie habe Todesdrohungen erhalten und sie sei von den Nachbarn als « Terroristin » beschimpft worden. Auch bei der Anhörung habe sie die Übergriffe der Polizisten erwähnt und ausgesagt, sie hätten sie angeschrien, die Bettsachen auf den Boden geworfen, die Schubladen gezogen und dann hätten sie sie angefasst. Des Weiteren habe sie die aufgemalte Todesdrohung an der Hauswand erwähnt. Diesbezügliche Nachfragen seien unterblieben und die Beschwerdeführerin sei auch nicht zur Verfolgung von Familienangehörigen befragt worden, obwohl sie bei der BzP diesbezüglich erwähnt habe, ihre Grossmutter mütterlicherseits sei umgebracht worden und ihr Onkel mütterlicherseits befinde sich im Gefängnis. Das Unterbleiben von Nachfragen zu den polizeilichen Übergriffen erscheine umso erstaunlicher, als die
Beschwerdeführerin bei ihren Erzählungen zu weinen begonnen und « nicht bloss » mit zittriger Stimme gesprochen habe, was dem beigelegten Bericht der anwesenden Hilfswerkvertreterin entnommen werden könne.

Angesichts dessen, dass es für sie stark belastend gewesen sei, über die Geschehnisse während der Hausdurchsuchung zu sprechen, sei nicht nachvollziehbar, dass eine Nachfrage unterblieben sei. In Anbetracht der Umstände sei offensichtlich, dass die Beschwerdeführerin ihre Gefährdungssituation nicht aufschlussreich habe darlegen können. Es sei ihr angesichts der ausgebliebenen Ergänzungsfragen seitens der männlichen Befrager bei der BzP und der Anhörung nicht möglich gewesen, von der erlittenen Vergewaltigung durch die Polizisten zu erzählen. Die Konfrontation mit dem negativen Asylentscheid habe bei ihr eine schwere psychische Reaktion hervorgerufen.

Die Vorinstanz habe angesichts dieser Umstände Verfahrensvorschriften verletzt, weil sie verpflichtet gewesen wäre, bei diesen konkreten Hinweisen auf geschlechtsspezifische Verfolgung die Anhörung durch eine Person gleichen Geschlechts durch- respektive weiterzuführen. Ferner sei ihre Situation durch den speziellen Befragungsstil des Sachbearbeiters zusätzlich erschwert worden. Aus dem eingereichten Bericht ergebe sich, dass es der Dolmetscher offenbar für nötig erachtet habe, die Beschwerdeführerin über die « etwas spezielle Charakterart des Sachbearbeiters aufzuklären, damit dies die [Beschwerdeführerin] nicht verwirrt ». Die Anhörung habe offensichtlich unter Umständen stattgefunden, die es verunmöglicht hätten, ein offenes Gespräch zu führen. Nach dem Geschilderten werde ersichtlich, dass die Vorinstanz den rechtserheblichen Sachverhalt nicht vollständig abgeklärt habe, weshalb die Sache zur vertieften Abklärung des Sachverhalts zurückzuweisen und die (zu wiederholende) Anhörung der Beschwerdeführerin von einem weiblichen Befragungsteam durchzuführen sei.

5.2 Gemäss Art. 17 Abs. 2
SR 142.31 Loi du 26 juin 1998 sur l'asile (LAsi)
LAsi Art. 17 Dispositions de procédure particulières - 1 La disposition de la loi fédérale sur la procédure administrative40 concernant les féries ne s'applique pas à la procédure d'asile.
1    La disposition de la loi fédérale sur la procédure administrative40 concernant les féries ne s'applique pas à la procédure d'asile.
2    Le Conseil fédéral édicte des dispositions complémentaires concernant la procédure d'asile, notamment pour qu'il soit tenu compte dans la procédure de la situation particulière des femmes et des mineurs.
2bis    Les demandes d'asile des requérants mineurs non accompagnés sont traitées en priorité.41
3    La défense des intérêts des requérants mineurs non accompagnés est assurée aussi longtemps que dure la procédure:
a  dans un centre de la Confédération ou à l'aéroport: par le représentant juridique désigné, en qualité de personne de confiance; ce représentant juridique assure la coordination avec les autorités cantonales compétentes;
b  après l'attribution des intéressés à un canton: par une personne de confiance immédiatement désignée par les autorités cantonales compétentes.42
3bis    Si des indices laissent supposer qu'un requérant prétendument mineur a atteint l'âge de la majorité, le SEM peut ordonner une expertise visant à déterminer son âge.43
4    ...44
5    Lors de la notification d'une décision rendue en vertu des art. 23, al. 1, 31a ou 111c, le SEM fait parvenir les pièces de la procédure au requérant ou à son mandataire si l'exécution du renvoi a été ordonnée.45
6    Le Conseil fédéral définit le rôle, les compétences et les tâches de la personne de confiance.46
AsylG (SR 142.31) in Verbindung mit Art. 6
SR 142.311 Ordonnance 1 du 11 août 1999 sur l'asile relative à la procédure (Ordonnance 1 sur l'asile, OA 1) - Ordonnance 1 sur l'asile
OA-1 Art. 6 Procédure en cas de persécution liée au genre - (art. 17, al. 2, LAsi)
der Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 (AsylV 1, SR 142.311) wird die asylsuchende Person von einer Person gleichen Geschlechts befragt, wenn konkrete Hinweise auf geschlechtsspezifische Verfolgung vorliegen. Geschlechtsspezifisch ist die Verfolgung dann, wenn sie in der Form sexueller Gewalt stattfindet oder die sexuelle Identität des Opfers treffen soll (Entscheidungen und Mitteilungen der [vormaligen] Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK] 2003 Nr. 2 E. 5a und b). Das Geschlecht soll nach Möglichkeit auch bei der Auswahl der Personen, die als Dolmetscher eingesetzt werden und das Protokoll führen, berücksichtigt werden. Art. 6
SR 142.311 Ordonnance 1 du 11 août 1999 sur l'asile relative à la procédure (Ordonnance 1 sur l'asile, OA 1) - Ordonnance 1 sur l'asile
OA-1 Art. 6 Procédure en cas de persécution liée au genre - (art. 17, al. 2, LAsi)
AsylV 1 der bei Frauen und Männern gleichermassen Anwendung findet ist eine Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs, mithin eine Schutzvorschrift, deren Zweck es ist, dass asylsuchende Personen ihre Vorbringen angemessen vortragen, das heisst konkret erlittene Übergriffe möglichst frei und unbeeinträchtigt von Schamgefühlen schildern können. Gleichzeitig dient sie dazu, die Richtigkeit der Sachverhaltsabklärung zu gewährleisten. Da diese Schutzvorschrift nicht bloss ein Recht der
asylsuchenden Person beinhaltet, eine solche Befragung zu verlangen, sondern die Behörde dazu verpflichtet, in der vorgesehenen Weise vorzugehen, sobald entsprechende Hinweise vorliegen, ist sie von Amtes wegen anzuwenden. Ein Verzicht der betroffenen asylsuchenden Person auf die Befragung durch eine Person gleichen Geschlechts könnte nur dann angenommen werden, wenn er ausdrücklich erklärt wird (EMARK 2003 Nr. 2 E. 5b/dd und 5c).

5.3 Bereits mit der Aussage der Beschwerdeführerin anlässlich der BzP vom 24. April 2012, die zivilen Polizeibeamten hätten bei den Hausdurchsuchungen respektive Razzien nicht nur sie, sondern auch ihren
Sohn belästigt (...), lagen konkrete Hinweise auf eine geschlechtsspezifische Verfolgung (Eingriff in die sexuelle Identität) vor, welche zwingend (vgl. EMARK 2003 Nr. 2 E. 5c; und unter anderen Urteile des BVGer
E 4285/2006 vom 25. November 2009; E 5321/2007 vom 22. September 2010; D 3161/2013 vom 19. November 2013; E 6707/2013 vom 14. Juli 2014) dazu Anlass hätten geben müssen, die Schutzvorschrift von Art. 6
SR 142.311 Ordonnance 1 du 11 août 1999 sur l'asile relative à la procédure (Ordonnance 1 sur l'asile, OA 1) - Ordonnance 1 sur l'asile
OA-1 Art. 6 Procédure en cas de persécution liée au genre - (art. 17, al. 2, LAsi)
AsylV 1 anzuwenden und die Beschwerdeführerin in der Folge durch ein reines Frauenteam zu ihren Asylgründen anzuhören. Wie bereits vorstehend (E. 5.2) erwähnt, ist Zweck der Schutzvorschrift von Art. 6
SR 142.311 Ordonnance 1 du 11 août 1999 sur l'asile relative à la procédure (Ordonnance 1 sur l'asile, OA 1) - Ordonnance 1 sur l'asile
OA-1 Art. 6 Procédure en cas de persécution liée au genre - (art. 17, al. 2, LAsi)
AsylV 1, dass asylsuchende Personen ihre Vorbringen angemessen vortragen, das heisst, konkret erlittene Übergriffe möglichst frei und unbeeinträchtigt von Schamgefühlen schildern können. Zudem dient sie dazu, die Richtigkeit der Sachverhaltsabklärung zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass die Beschwerdeführerin aus Scham gegenüber den bei der Anhörung vom 19. Juni 2015 anwesenden Männern (Befrager und Dolmetscher) darauf verzichtet hat, ausführlicher über das bei den Hausdurchsuchungen Erlittene zu berichten. Angesichts der Tatsache, dass es der Befrager anlässlich der Anhörung unterlassen hat, die Beschwerdeführerin über ihre diesbezüglichen Rechte aufzuklären, kann ein (impliziter) Verzicht auf eine Anhörung durch ein reines Frauenteam ausgeschlossen werden.

5.4 Damit ergibt sich, dass das Staatssekretariat dadurch, dass es die Beschwerdeführerin trotz klaren Hinweisen auf eine geschlechtsspezifische Verfolgung sowohl bei der BzP als auch bei der Anhörung nicht durch ein reines Frauenteam zu ihren Asylgründen anhören liess, den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, den rechtserheblichen Sachverhalt unrichtig respektive unvollständig festgestellt und damit Bundesrecht verletzt hat. Angesichts der formellen Natur des Anspruchs auf rechtliches Gehör spielt von vornherein keine Rolle, ob die Missachtung der Verfahrensvorschrift von Art. 6 AsylV1 auch Einfluss auf das Ergebnis hatte.