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Auszug aus dem Urteil der Abteilung V
i.S. X. gegen Bundesamt für Migration
E 2560/2011 vom 15. März 2013

Wegweisung. Lageanalyse Türkei. Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs.

Art. 83 Abs. 4
SR 142.20 Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG) - Ausländer- und Integrationsgesetz
AIG Art. 83 Anordnung der vorläufigen Aufnahme - 1 Ist der Vollzug der Wegweisung nicht möglich, nicht zulässig oder nicht zumutbar, so verfügt das SEM die vorläufige Aufnahme.244
1    Ist der Vollzug der Wegweisung nicht möglich, nicht zulässig oder nicht zumutbar, so verfügt das SEM die vorläufige Aufnahme.244
2    Der Vollzug ist nicht möglich, wenn die Ausländerin oder der Ausländer weder in den Heimat- oder in den Herkunftsstaat noch in einen Drittstaat ausreisen oder dorthin gebracht werden kann.
3    Der Vollzug ist nicht zulässig, wenn völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz einer Weiterreise der Ausländerin oder des Ausländers in den Heimat-, Herkunfts- oder in einen Drittstaat entgegenstehen.
4    Der Vollzug kann für Ausländerinnen oder Ausländer unzumutbar sein, wenn sie in Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt und medizinischer Notlage im Heimat- oder Herkunftsstaat konkret gefährdet sind.
5    Der Bundesrat bezeichnet Heimat- oder Herkunftsstaaten oder Gebiete dieser Staaten, in welche eine Rückkehr zumutbar ist.245 Kommen weggewiesene Ausländerinnen und Ausländer aus einem dieser Staaten oder aus einem Mitgliedstaat der EU oder der EFTA, so ist ein Vollzug der Wegweisung in der Regel zumutbar.246
5bis    Der Bundesrat überprüft den Beschluss nach Absatz 5 periodisch.247
6    Die vorläufige Aufnahme kann von kantonalen Behörden beantragt werden.
7    Die vorläufige Aufnahme nach den Absätzen 2 und 4 wird nicht verfügt, wenn die weggewiesene Person:248
a  zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe im In- oder Ausland verurteilt wurde oder wenn gegen sie eine strafrechtliche Massnahme im Sinne der Artikel 59-61 oder 64 StGB250 angeordnet wurde;
b  erheblich oder wiederholt gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland verstossen hat oder diese gefährdet oder die innere oder die äussere Sicherheit gefährdet; oder
c  die Unmöglichkeit des Vollzugs der Wegweisung durch ihr eigenes Verhalten verursacht hat.
8    Flüchtlinge, bei denen Asylausschlussgründe nach Artikel 53 und 54 AsylG252 vorliegen, werden vorläufig aufgenommen.
9    Die vorläufige Aufnahme wird nicht verfügt oder erlischt, wenn eine Landesverweisung nach Artikel 66a oder 66abis StGB oder Artikel 49a oder 49abis MStG253 oder eine Ausweisung nach Artikel 68 des vorliegenden Gesetzes rechtskräftig geworden ist.254
10    Die kantonalen Behörden können mit vorläufig aufgenommenen Personen Integrationsvereinbarungen abschliessen, wenn ein besonderer Integrationsbedarf nach den Kriterien gemäss Artikel 58a besteht.255
AuG.

Situation in den südöstlichen Provinzen der Türkei; Neubeurteilung der Sicherheitslage. In den Provinzen Hakkari und Sirnak herrscht eine Situation allgemeiner Gewalt.

Renvoi. Analyse de la situation en Turquie. Exigibilité de l'exécution du renvoi.

Art. 83 al. 4 LEtr.

Situation dans les provinces du sud-est de la Turquie; réévaluation des conditions de sécurité. Les provinces de Hakkari et de Sirnak se trouvent dans une situation de violence généralisée.

Allontanamento. Analisi della situazione in Turchia. Esigibilità dell'esecuzione dell'allontanamento.

Art. 83 cpv. 4 LStr.

Situazione nelle province del sud-est della Turchia; nuova valutazione delle condizioni di sicurezza. Le province di Hakkari e Sirnak si trovano in una situazione di violenza generalizzata.


Der Beschwerdeführer, ein Kurde aus der Provinz Adiyaman, stellte am 7. März 2011 in der Schweiz ein Asylgesuch. Mit Verfügung vom 6. April 2011 lehnte das Bundesamt für Migration (BFM) das Asylgesuch unter Hinweis auf die Unglaubhaftigkeit der geltend gemachten politischen Verfolgung ab, verfügte die Wegweisung aus der Schweiz und ordnete den Vollzug der Wegweisung an. Mit Eingabe an das Bundesverwaltungsgericht vom 4. Mai 2011 erhob der Beschwerdeführer gegen die vorinstanzliche Verfügung Beschwerde.

Das Bundesverwaltungsgericht weist die Beschwerde ab.


Aus den Erwägungen:

9.

9.1 Gemäss Art. 83 Abs. 4
SR 142.20 Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG) - Ausländer- und Integrationsgesetz
AIG Art. 83 Anordnung der vorläufigen Aufnahme - 1 Ist der Vollzug der Wegweisung nicht möglich, nicht zulässig oder nicht zumutbar, so verfügt das SEM die vorläufige Aufnahme.244
1    Ist der Vollzug der Wegweisung nicht möglich, nicht zulässig oder nicht zumutbar, so verfügt das SEM die vorläufige Aufnahme.244
2    Der Vollzug ist nicht möglich, wenn die Ausländerin oder der Ausländer weder in den Heimat- oder in den Herkunftsstaat noch in einen Drittstaat ausreisen oder dorthin gebracht werden kann.
3    Der Vollzug ist nicht zulässig, wenn völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz einer Weiterreise der Ausländerin oder des Ausländers in den Heimat-, Herkunfts- oder in einen Drittstaat entgegenstehen.
4    Der Vollzug kann für Ausländerinnen oder Ausländer unzumutbar sein, wenn sie in Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt und medizinischer Notlage im Heimat- oder Herkunftsstaat konkret gefährdet sind.
5    Der Bundesrat bezeichnet Heimat- oder Herkunftsstaaten oder Gebiete dieser Staaten, in welche eine Rückkehr zumutbar ist.245 Kommen weggewiesene Ausländerinnen und Ausländer aus einem dieser Staaten oder aus einem Mitgliedstaat der EU oder der EFTA, so ist ein Vollzug der Wegweisung in der Regel zumutbar.246
5bis    Der Bundesrat überprüft den Beschluss nach Absatz 5 periodisch.247
6    Die vorläufige Aufnahme kann von kantonalen Behörden beantragt werden.
7    Die vorläufige Aufnahme nach den Absätzen 2 und 4 wird nicht verfügt, wenn die weggewiesene Person:248
a  zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe im In- oder Ausland verurteilt wurde oder wenn gegen sie eine strafrechtliche Massnahme im Sinne der Artikel 59-61 oder 64 StGB250 angeordnet wurde;
b  erheblich oder wiederholt gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland verstossen hat oder diese gefährdet oder die innere oder die äussere Sicherheit gefährdet; oder
c  die Unmöglichkeit des Vollzugs der Wegweisung durch ihr eigenes Verhalten verursacht hat.
8    Flüchtlinge, bei denen Asylausschlussgründe nach Artikel 53 und 54 AsylG252 vorliegen, werden vorläufig aufgenommen.
9    Die vorläufige Aufnahme wird nicht verfügt oder erlischt, wenn eine Landesverweisung nach Artikel 66a oder 66abis StGB oder Artikel 49a oder 49abis MStG253 oder eine Ausweisung nach Artikel 68 des vorliegenden Gesetzes rechtskräftig geworden ist.254
10    Die kantonalen Behörden können mit vorläufig aufgenommenen Personen Integrationsvereinbarungen abschliessen, wenn ein besonderer Integrationsbedarf nach den Kriterien gemäss Artikel 58a besteht.255
des Ausländergesetzes vom 16. Dezember 2005 (AuG, SR 142.20) kann der Vollzug für Ausländerinnen und Ausländer unzumutbar sein, wenn sie im Heimat oder Herkunftsstaat aufgrund von Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt und medizinischer Notlage konkret gefährdet sind. Wird eine konkrete Gefährdung festgestellt, ist - unter Vorbehalt der Bestimmung von Art. 83 Abs. 7
SR 142.20 Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG) - Ausländer- und Integrationsgesetz
AIG Art. 83 Anordnung der vorläufigen Aufnahme - 1 Ist der Vollzug der Wegweisung nicht möglich, nicht zulässig oder nicht zumutbar, so verfügt das SEM die vorläufige Aufnahme.244
1    Ist der Vollzug der Wegweisung nicht möglich, nicht zulässig oder nicht zumutbar, so verfügt das SEM die vorläufige Aufnahme.244
2    Der Vollzug ist nicht möglich, wenn die Ausländerin oder der Ausländer weder in den Heimat- oder in den Herkunftsstaat noch in einen Drittstaat ausreisen oder dorthin gebracht werden kann.
3    Der Vollzug ist nicht zulässig, wenn völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz einer Weiterreise der Ausländerin oder des Ausländers in den Heimat-, Herkunfts- oder in einen Drittstaat entgegenstehen.
4    Der Vollzug kann für Ausländerinnen oder Ausländer unzumutbar sein, wenn sie in Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt und medizinischer Notlage im Heimat- oder Herkunftsstaat konkret gefährdet sind.
5    Der Bundesrat bezeichnet Heimat- oder Herkunftsstaaten oder Gebiete dieser Staaten, in welche eine Rückkehr zumutbar ist.245 Kommen weggewiesene Ausländerinnen und Ausländer aus einem dieser Staaten oder aus einem Mitgliedstaat der EU oder der EFTA, so ist ein Vollzug der Wegweisung in der Regel zumutbar.246
5bis    Der Bundesrat überprüft den Beschluss nach Absatz 5 periodisch.247
6    Die vorläufige Aufnahme kann von kantonalen Behörden beantragt werden.
7    Die vorläufige Aufnahme nach den Absätzen 2 und 4 wird nicht verfügt, wenn die weggewiesene Person:248
a  zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe im In- oder Ausland verurteilt wurde oder wenn gegen sie eine strafrechtliche Massnahme im Sinne der Artikel 59-61 oder 64 StGB250 angeordnet wurde;
b  erheblich oder wiederholt gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland verstossen hat oder diese gefährdet oder die innere oder die äussere Sicherheit gefährdet; oder
c  die Unmöglichkeit des Vollzugs der Wegweisung durch ihr eigenes Verhalten verursacht hat.
8    Flüchtlinge, bei denen Asylausschlussgründe nach Artikel 53 und 54 AsylG252 vorliegen, werden vorläufig aufgenommen.
9    Die vorläufige Aufnahme wird nicht verfügt oder erlischt, wenn eine Landesverweisung nach Artikel 66a oder 66abis StGB oder Artikel 49a oder 49abis MStG253 oder eine Ausweisung nach Artikel 68 des vorliegenden Gesetzes rechtskräftig geworden ist.254
10    Die kantonalen Behörden können mit vorläufig aufgenommenen Personen Integrationsvereinbarungen abschliessen, wenn ein besonderer Integrationsbedarf nach den Kriterien gemäss Artikel 58a besteht.255
AuG - die vorläufige Aufnahme anzuordnen.

9.2

9.2.1 Der Beschwerdeführer ist kurdischer Ethnie, stammt aus Akdurak Köyü und hat gemäss seinen Angaben vor seiner Ausreise in einer Studentenwohnung in Besni gelebt; beide Orte liegen in der Provinz Adiyaman im Südosten der Türkei. Während des erstinstanzlichen Asylverfahrens wurden verschiedene Berichte von Menschenrechtsorganisationen zur Situation im Osten der Türkei zu den Akten gereicht (...) und es wurde wiederholt auf die schwierigen Verhältnisse, insbesondere auch die Sicherheitslage in seiner Heimatregion, hingewiesen.

9.2.2 Dem Bundesverwaltungsgericht ist bekannt, dass im Osten der Türkei in letzter Zeit eine deutliche Zunahme gewaltsamer Zwischenfälle zu registrieren war. Es nimmt deshalb im vorliegenden Verfahren eine Analyse der Sicherheitslage in diesem Landesteil vor. Diese Neubeurteilung basiert - neben den dem Gericht zur Verfügung stehenden Artikeln der schweizerischen, türkischen und internationalen Tagesmedien - insbesondere auf den folgenden Lagebeschreibungen und Berichten:

- Amnesty International, Annual Report 2012: Turkey (http://www. amnesty.org/en/region/turkey/report-2012 [besucht am 19.12.2012]);

- Human Rights Watch, World Report 2012: Turkey (http://www. hrw.org/world-report-2012/world-report-2012-turkey [besucht am 19.12.2012]);

- nsan Haklari Derne i (IHD; Türkischer Menschenrechtsverein), Human Rights, the Kurdish Issue and Turkey, 1.11.2009 (http:// www.ihd.org.tr/english/index.php?option=com_content&view= article&id=675:human [besucht am 19.12.2012]);

- International Crisis Group (ICG), Turkey: The PKK and a Kurdish Settlement, 11.9.2012;

- Kurdish Human Rights Project (KHRP), The Impact of Cross Border Military Operations into Kurdistan, Iraq: An Update (http:// www.khrp.org/khrpnews/human-rights-documents/briefing-papers/ doc_download/270-the-impact-of-cross-border-military-operations-intokurdistan-iraq-an-update.html [besucht am 19.12.2012]);

- Neue Zürcher Zeitung (NZZ), Im Teufelskreis der Gewalt - viele Todesopfer im Kampf der Türkei gegen die PKK, 12.9.2012;

- Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Türkei: Die aktuelle Situation der Kurden, 20.12.2010;

- Spiegel-Online, Türkei: Viele Tote bei Gefechten zwischen Militär und PKK, 5.8.2012 (http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-viele-tote-bei-gefechten-zwischen-militaer-und-pkk-a-848329.html [besucht am 19.12.2012]);

- Spiegel-Online, Konflikt in der Türkei: Kurden fürchten neuen Bürgerkrieg, 3.10.2011 (http://www.spiegel.de/politik/ausland/ konflikt-in-der-tuerkei-kurden-fuerchten-neuen-buergerkrieg-a-789349.html [besucht am 19.12.2012]);

- U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2011: Turkey.

9.3

9.3.1 Die Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans, PKK) wurde im Jahr 1978 als Reaktion auf die Unterdrückung der kurdischen Identität durch den türkischen Staat gegründet. Ab 1984 kämpfte sie gewaltsam für einen unabhängigen Kurdenstaat und später, nach Aufgabe dieses Ziels, für die kulturellen Rechte der Kurden. Der bewaffnete Konflikt zwischen der PKK und der türkischen Armee forderte bisher rund 40 000 Todesopfer, darunter viele Zivilisten. Am 16. Februar 1998 nahm der türkische Geheimdienst den Führer der PKK, Abdullah Öcalan, in Kenia gefangen und brachte ihn in die Türkei. Daraufhin erklärte die PKK einen einseitigen Waffenstillstand. Ungefähr 5 000 PKK-Kämpfer zogen sich in der Folge in den Nordirak zurück; die Zahl der bewaffneten Zusammenstösse nahm stark ab.

9.3.2 Ab 2004, nach Aufhebung der Waffenruhe durch die PKK, nahmen Anschläge und punktuelle Auseinandersetzungen zwischen den staatlichen Sicherheitsorganen und den bewaffneten Einheiten der PKK, auch Hêzên Parastina Gel (Volksverteidigungskräfte, HPG) genannt, wieder zu.

9.3.3 Obwohl die PKK 2006 erneut einen einseitigen Waffenstillstand verkündete, wurden weiterhin Anschläge auf Sicherheitskräfte sowie Attentate in grossen Städten und gegen touristische Ziele in der Türkei verübt, was die Situation bis 2007 weiter verschärfte. Die türkische Armee erhielt vom Parlament eine Vollmacht für grenzüberschreitende Militäraktionen in den Nordirak. In der Türkei konzentrierten sich die Kämpfe mit der PKK in der Folge auf die Grenzprovinzen Sirnak, Hakkari und Van sowie auf schwer zugängliche Berggebiete der Provinzen Bingöl, Tunceli und Diyarbakir; in diesen Gebieten fanden im Verlauf des Jahres 2008 grössere Militäraktionen statt. Ende Februar 2008 marschierte die türkische Armee für kurze Zeit mit rund 10 000 Soldaten in den Nordirak ein, mit dem (nicht erreichten) Ziel, der PKK einen Rückzug in diese Region zu verunmöglichen.

9.3.4 Im März 2009 rief die PKK einen neuen Waffenstillstand aus, worauf sich die Sicherheitslage wieder etwas beruhigte. Trotzdem kam es im Grenzgebiet zum Irak weiterhin zu Auseinandersetzungen, insbesondere Angriffen der türkischen Artillerie und Luftwaffe auf PKK-Stellungen im Nordteil des Iraks.

9.3.5 Im Mai 2010 kündigte die Türkei die Schaffung von befristeten Sicherheitszonen entlang der Grenze zum Iran und zum Irak an, nachdem in dieser Region grössere Zwischenfälle zwischen Armee und Separatisten zu verzeichnen gewesen waren. Im Frühsommer 2010 widerrief die PKK die einseitig verkündete Waffenruhe, was einen erneuten Anstieg der Konflikte zwischen der PKK und der Armee nach sich zog. Ende August 2010 verkündete die PKK wiederum eine bis zu den Parlamentswahlen im Juni 2011 befristete Waffenruhe, an die sich allerdings zahlreiche Untergruppen der kurdischen Guerilla nicht hielten.

9.3.6 Im März 2011 beendete die PKK ihren Waffenstillstand vorzeitig. Im August 2011 verübten kurdische Rebellen im Grenzgebiet der Provinz Hakkari einen Anschlag auf einen Konvoi der türkischen Armee, wobei zwölf Soldaten getötet wurden. Die Attacke löste erneut einen Grossangriff der Armee auf vermutete Stellungen der PKK im Nordirak aus. Auch im September 2011 kam es - in der Provinz Tunceli und im Grenzgebiet zum Irak - zu Zusammenstössen zwischen der PKK und türkischen Soldaten respektive Polizisten.

9.4 Die schweizerischen Asylbehörden trugen der Sicherheitslage während der Bürgerkriegszeit Rechnung, indem der Vollzug von Wegweisungen abgewiesener Asylsuchender in gewisse Provinzen Ostanatoliens als generell unzumutbar qualifiziert wurde (vgl. Entscheidungen und Mitteilungen der [damaligen] Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK] 1998 Nr. 2 S. 17f. mit weiteren Hinweisen); diese Beurteilung wurde in regelmässigen Abständen den Veränderungen der Sicherheitslage angepasst (vgl. etwa EMARK 1997 Nr. 2 S. 13ff., EMARK 1999 Nr. 9 S. 57ff., EMARK 2000 Nr. 13 S. 99ff.).

Nachdem die türkische Regierung den Ausnahmezustand in den Ostprovinzen sukzessiv aufgehoben hatte - zuletzt Ende November 2002 für die Provinzen Diyarbakir und Sirnak -, kehrte die (damalige) Schweizerische Asylrekurskommission (ARK) nach einer einlässlichen Analyse der Sicherheitslage im Verlauf des Jahres 2003 von ihrer Praxis der generellen Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs für bestimmte Provinzen ab (vgl. EMARK 2004 Nr. 8 S. 54ff.).

Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Praxis mit Aufnahme seiner Tätigkeit im Januar 2007 übernommen, wobei die Situation namentlich in den Südostprovinzen der Türkei aufmerksam weiter beobachtet wurde.

9.5

9.5.1 Nach mehreren bewaffneten Angriffen der PKK auf Militäreinrichtungen eskalierten die Kämpfe zwischen der kurdischen Guerilla und der türkischen Armee ab Frühling 2012 in gewissen Gebieten. Verschiedene Medien berichten seither für gewisse Landstriche Südostanatoliens von kriegsähnlichen Zuständen. Gemäss einer Statistik der türkischen Streitkräfte soll die Armee dort zwischen Februar und August dieses Jahres « fast 1 000 < Militäroperationen > » gegen die PKK ausgeführt haben, wobei mehr als 300 PKK-Kämpfer getötet worden sein sollen (vgl. hierzu: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Der kurdische Krieg der Türkei, 11.9.2012; < http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/pkk-der-kurdische-krieg-der-tuerkei-11886351.html > [besucht am 19.12.2012]). Der Generalstab in Ankara ist innenpolitisch unter Druck, weil der Blutzoll auf Seiten der Armee ebenfalls hoch ist, was auch mit schlecht gesicherten Aussenposten der Armee im irakisch-türkischen Grenzgebiet und mit schlecht ausgebildeten respektive ausgerüsteten Einheiten in Verbindung gebracht wird.

9.5.2 Die Armee war offenkundig darum bemüht, Leib und Leben der Zivilbevölkerung zu schonen, so dass - abgesehen von einem Luftangriff auf Schmuggler, der in der Provinz Sirnak Ende Dezember 2011 35 Todesopfer forderte - in letzter Zeit auffallend wenige zivile Todesopfer nach Armeeaktionen zu beklagen waren. Die Zivilbevölkerung leidet trotzdem unter der schlechten Sicherheitslage: Siedlungen und Weiler wurden evakuiert, Wälder und Weinberge gingen in Flammen auf; Letzteres auch, weil die Armee beim Kampf gegen die Guerilla im unwegsamen, gebirgigen Gelände oftmals Artillerie und Luftwaffe einsetzt.

Die PKK hat ihren Kampf im Südosten der Türkei auch auf zivile Ziele ausgedehnt: Schulen werden angezündet, Lehrer und Schüler entführt und Infrastrukturprojekte gestört, beispielsweise durch Angriffe auf Baustellen oder durch Zerstörung der Fahrzeuge, die Baumaterial oder Nahrungsmittel dorthin transportieren.

9.5.3 Die Sicherheitslage präsentiert sich in gewissen Gebieten Ostanatoliens markant schlechter als in den letzten Jahren:

9.5.3.1 Gemäss einer Aufrechnung des Menschenrechtsvereins IHD sind während der ersten neun Monate des Jahres 2012 200 Angehörige der Sicherheitskräfte in Gefechten gefallen, 385 sind verletzt worden; für die PKK werden 193 Tote und 9 Verletzte angegeben. In dieser Zeit sollen 35 Zivilisten ums Leben gekommen und 165 verletzt worden sein. In der Berichtsperiode habe die PKK 104 Personen entführt; zudem sollen 12 Dörfer evakuiert und zerstört worden sein (vgl. Firat News Agency, IHD: 26939 rights violations in first nine months; < http://en.firatajans. com/index.php?rupel=article&nuceID=5325 > [besucht am 19.12.2012]).

9.5.3.2 Die International Crisis Group spricht in ihrem Bericht vom 11. September 2012 von 711 Todesopfern in den letzten 14 Monaten, konkret von 222 gefallenen Angehörigen der Sicherheitskräfte, 405 PKK-Kämpfern und 84 Zivilisten. Diese Zahlen seien im Vergleich zu den Opferzahlen der Jahre 2000 bis 2004 deutlich höher (vgl. ICG, a.a.O., S. 1ff.).

9.5.3.3 Eine Analyse der gewaltsamen Zwischenfälle im Osten der Türkei mit PKK-Beteiligung durch den wissenschaftlichen Dienst Länderanalysen des Bundesverwaltungsgerichts ergab folgendes Bild: Die Auswertung einer türkischen und einer kurdischen Zeitung (Today's Zaman, der türkischen Regierungspartei nahestehend [vgl. < http://www. todayszaman.com >] respektive Firat News Agency mit Sitz in den Niederlanden, die von verschiedenen Beobachtern als « PKK-nahe » bezeichnet wird [vgl. < http://www.en.firatajans.com >]), ergab zunächst die erwarteten Unterschiede bei der Beschreibung der Zwischenfälle und der dadurch verursachten Opfer. Die beiden Quellen nennen indessen übereinstimmend häufig zwei Provinzen, die weit überdurchschnittlich von gewaltsamen Zwischenfällen im PKK-Kontext betroffen waren, nämlich die beiden Grenzprovinzen zum Irak Sirnak und Hakkari. In der Berichtszeit Juni bis Oktober 2012 wird für Sirnak von 15 (Today's Zaman) respektive 14 (Firat News) Zwischenfällen mit 25 beziehungsweise 66 Todesopfern berichtet; für Hakkari berichten die beiden Medien in diesem Zeitraum von 63 beziehungsweise 48 Ereignissen, die 344 beziehungsweise 364 Todesopfer gefordert haben sollen.

Diese örtliche Häufung überrascht insofern nicht, als diese beiden gebirgigen Provinzen - als Aufmarschgebiet der türkischen Armee für die Angriffe auf PKK-Stellungen im südlich angrenzenden Nordirak - seit vielen Jahren als hoch militarisierte Zone gelten.

9.6

9.6.1 Unter Würdigung aller Umstände muss der Vollzug von Wegweisungen abgewiesener Asylsuchender in die beiden Provinzen Hakkari und Sirnak heute (wieder) als generell unzumutbar im Sinne von Art. 83 Abs. 4
SR 142.20 Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG) - Ausländer- und Integrationsgesetz
AIG Art. 83 Anordnung der vorläufigen Aufnahme - 1 Ist der Vollzug der Wegweisung nicht möglich, nicht zulässig oder nicht zumutbar, so verfügt das SEM die vorläufige Aufnahme.244
1    Ist der Vollzug der Wegweisung nicht möglich, nicht zulässig oder nicht zumutbar, so verfügt das SEM die vorläufige Aufnahme.244
2    Der Vollzug ist nicht möglich, wenn die Ausländerin oder der Ausländer weder in den Heimat- oder in den Herkunftsstaat noch in einen Drittstaat ausreisen oder dorthin gebracht werden kann.
3    Der Vollzug ist nicht zulässig, wenn völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz einer Weiterreise der Ausländerin oder des Ausländers in den Heimat-, Herkunfts- oder in einen Drittstaat entgegenstehen.
4    Der Vollzug kann für Ausländerinnen oder Ausländer unzumutbar sein, wenn sie in Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt und medizinischer Notlage im Heimat- oder Herkunftsstaat konkret gefährdet sind.
5    Der Bundesrat bezeichnet Heimat- oder Herkunftsstaaten oder Gebiete dieser Staaten, in welche eine Rückkehr zumutbar ist.245 Kommen weggewiesene Ausländerinnen und Ausländer aus einem dieser Staaten oder aus einem Mitgliedstaat der EU oder der EFTA, so ist ein Vollzug der Wegweisung in der Regel zumutbar.246
5bis    Der Bundesrat überprüft den Beschluss nach Absatz 5 periodisch.247
6    Die vorläufige Aufnahme kann von kantonalen Behörden beantragt werden.
7    Die vorläufige Aufnahme nach den Absätzen 2 und 4 wird nicht verfügt, wenn die weggewiesene Person:248
a  zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe im In- oder Ausland verurteilt wurde oder wenn gegen sie eine strafrechtliche Massnahme im Sinne der Artikel 59-61 oder 64 StGB250 angeordnet wurde;
b  erheblich oder wiederholt gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland verstossen hat oder diese gefährdet oder die innere oder die äussere Sicherheit gefährdet; oder
c  die Unmöglichkeit des Vollzugs der Wegweisung durch ihr eigenes Verhalten verursacht hat.
8    Flüchtlinge, bei denen Asylausschlussgründe nach Artikel 53 und 54 AsylG252 vorliegen, werden vorläufig aufgenommen.
9    Die vorläufige Aufnahme wird nicht verfügt oder erlischt, wenn eine Landesverweisung nach Artikel 66a oder 66abis StGB oder Artikel 49a oder 49abis MStG253 oder eine Ausweisung nach Artikel 68 des vorliegenden Gesetzes rechtskräftig geworden ist.254
10    Die kantonalen Behörden können mit vorläufig aufgenommenen Personen Integrationsvereinbarungen abschliessen, wenn ein besonderer Integrationsbedarf nach den Kriterien gemäss Artikel 58a besteht.255
AuG qualifiziert werden.

Dies hat zur Folge, dass bei abgewiesenen Asylsuchenden, die aus Hakkari oder Sirnak stammen, in Zukunft die Existenz einer individuell zumutbaren innerstaatlichen Aufenthaltsalternative zu prüfen sein wird (für die massgebenden Prüfkriterien vgl. weiterhin EMARK 1996 Nr. 2 E. 6.b S. 13ff.).

9.6.2 In den übrigen Regionen Ost und Südostanatoliens, die in letzter Zeit nur von punktuellen Gewaltausbrüchen betroffen waren, ist die Grenze für die Annahme einer Situation allgemeiner Gewalt hingegen klar nicht erreicht. Diese Feststellung gilt auch für die Grenzprovinzen zu Syrien (neben Sirnak: Mardin, Sanliurfa, Gaziantep, Kilis und Hatay), in denen nach der Aufnahme einer grossen Zahl syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge in letzter Zeit teilweise Spannungen und vereinzelte gewaltsame Zwischenfälle zu registrieren waren (vgl. SFH, Türkei: Syrische Flüchtlinge, 13.12.2012, S. 5ff.). Die Entwicklung in dieser Region bleibt aber ebenfalls sorgfältig zu beobachten.

9.7 Der Beschwerdeführer stammt, wie bereits erwähnt, aus der Provinz Adiyaman. Dort leben seine Eltern und ein Bruder; zwei Schwestern haben ihren Wohnsitz in der Nachbarprovinz Gaziantep. Zwei Schwestern halten sich in Deutschland und ein Bruder - mit deutscher Staatsangehörigkeit - in der Schweiz auf (...). Es ist daher davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer mindestens anfänglich bei einer Heimkehr mit Hilfe und Unterstützung seitens dieser Angehörigen rechnen kann.

Sodann hat er gemäss seinen Aussagen nach der Grundschule im Jahr 2009 die Zulassungsprüfung für ein zweijähriges Studium erlangt und es dürfte ihm möglich sein, sich diesbezüglich erneut um eine Immatrikulation an einer Universität in der Türkei zu bemühen. Der Beschwerdeführer ist jung und ohne familiäre Verpflichtungen; er macht keine gesundheitlichen Einschränkungen geltend. Bei dieser Aktenlage ist nicht davon auszugehen, er würde nach einer Rückkehr in eine existenzbedrohende Lage geraten.

Somit erweist sich nach dem Gesagten der Vollzug der Wegweisung des Beschwerdeführers - vor dem Hintergrund der Lage in seiner Heimatregion wie auch in individueller Hinsicht - als zumutbar.