Urteilskopf

89 I 20

4. Auszug aus dem Urteil vom 13. März 1963 i.S. Schneider gegen Thommen, Gemeinderat Dulliken und Regierungsrat des Kantons Solothurn.
Regeste (de):

Regeste (fr):

Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 21

BGE 89 I 20 S. 21

A.- Der Beschwerdeführer Emil Schneider ist Eigentümer eines Einfamilienhauses an der Neumattstrasse in Dulliken (SO), an der noch weitere solche Häuser stehen. Das Gebiet, durch das diese Strasse führt, liegt abseits vom Dorfkern Dulliken und grenzt im Norden an die Hauptstrasse Olten-Aarau. Am 25. September 1956 erliess die Gemeinde Dulliken ein Baureglement (BRegl), dem der Regierungsrat des Kantons Solothurn am 23. Oktober 1956 die nach § 1 des kantonalen Baugesetzes vom 10. Juni 1906 (BG) erforderliche Genehmigung erteilte. Nach diesem Baureglement gehört das genannte Gebiet zur Zone III (Wohnzone der offenen Bebauung mit 4-5 Vollgeschossen). Im Februar 1962 ersuchte Architekt Walter Thommen die Baukommission Dulliken um die Bewilligung, auf dem unmittelbar westlich der Liegenschaften am Neumattweg gelegenen Grundstück vier 5-geschossige Wohnblöcke zu erstellen. Gegen dieses Bauprojekt erhoben Emil Schneider und vier weitere Nachbarn Einsprache. Am 30. April 1962 beschloss die Gemeindeversammlung von Dulliken, dem Baureglement einen § 39a beizufügen, welcher die im kantonalen Normalbaureglement enthaltenen Bestimmungen über die Ausnützungsziffer für die Gemeinde verbindlich erklärte. Der Regierungsrat fand indes, der Text von § 39a sei unklar, und beschloss deshalb am 15. Juni 1962, diese Ergänzung des Baureglements nicht zu genehmigen. Inzwischen hatte Thommen sein Bauprojekt abgeändert

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und die Geschosszahl der vier geplanten Wohnblöcke von 5 auf 4 herabgesetzt. Der Gemeinderat beschloss am 8. August 1962, das Baugesuch gleichwohl abzuweisen, da das Dorfbild durch die geplanten Bauten verunstaltet werde (§ 56 BRegl). Anderseits wies er auch die Einsprache Schneiders ab, da dem Bauvorhaben die in der Gemeindeversammlung vom 30. April 1962 beschlossene Ausnützungsziffer nicht entgegengehalten werden könne. Diesen Beschluss des Gemeinderates fochten sowohl Thommen als auch Schneider beim Regierungsrat an, dieser mit dem Antrag, Thommen sei zu verhalten, bei der Überbauung eine Ausnützungsziffer von 0,75 zu beachten.
B.- Mit Beschluss vom 19. Oktober 1962 wies der Regierungsrat die Beschwerde Schneiders ab, hiess dagegen die Beschwerde Thommens gut und wies den Gemeinderat an, diesem die nachgesuchte Baubewilligung auszuhändigen. In der Begründung führte er aus a) zur Beschwerde Schneider: Da der Regierungsrat die von der Gemeinde am 30. April 1962 beschlossene Einführung einer Ausnützungsziffer nicht genehmigt habe, bestehe in Dulliken bis heute keine Ziffer und könne daher ein Bauherr nicht verhalten werden, eine bestimmte Ausnützungsziffer einzuhalten. Ebensowenig könne Thommen gezwungen werden, nur 3-geschossig zu bauen, denn das Baugrundstück liege in der Zone III, in der 4-5 Geschosse zulässig seien. b) zur Beschwerde Thommen: Die Annahme des Gemeinderates, dass durch die geplanten Bauten das Ortsbild verunstaltet werde, sei, wie ein Augenschein gezeigt habe, unhaltbar (wird näher ausgeführt).
C.- Inzwischen hatte die Gemeindeversammlung von Dulliken am 20. August 1962 ein neues Baureglement erlassen, nach welchem in der Zone III wiederum Bauten mit 4-5 Geschossen zulässig sind (§ 19), jedoch die Ausnützungsziffer (Verhältnis der Fläche sämtlicher Geschosse zur Grundstückfläche) höchstens 0,75 betragen darf (§ 38).
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D.- Mit der staatsrechtlichen Beschwerde beantragt Emil Schneider, den Beschluss des Regierungsrates des Kantons Solothurn vom 19. Oktober 1962 aufzuheben. Er beruft sich auf Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV und macht u.a. geltend: Nach der ständigen Praxis des Bundesgerichts (BGE 87 I 507) wie auch des Regierungsrates (Grundsätzliche Entscheide 1961 S. 28) sei ein Baugesuch nicht nach der zur Zeit der Einreichung desselben, sondern nach dem zur Zeit der endgültigen Beurteilung geltenden Rechte zu beurteilen. Der Regierungsrat habe diesen Grundsatz verletzt und willkürlich altes Recht angewendet, indem er die von der Gemeindeversammlung vom 30. April bzw. 20. August 1962 beschlossene Ausnützungsziffer nicht zur Anwendung gebracht habe. Da der Regierungsrat den Beschluss vom 30. April 1962 lediglich aus formellen Gründen nicht genehmigt habe, sei die beschlossene Ausnützungsziffer von 0,75 für die Zone III "materiell unangetastet" geblieben und hätte berücksichtigt werden sollen, zumal das Baugesuch auch am 20. August 1962 noch hängig gewesen sei und eine formelle Baubewilligung bis heute noch nicht erteilt worden sei.
E.- Das von der Gemeindeversammlung von Dulliken am 20. August 1962 erlassene neue Baureglement ist, wie dem Instruktionsrichter auf Anfrage hin mitgeteilt wurde, vom Regierungsrat am 11. Dezember 1962 genehmigt worden und in Kraft getreten.
Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. (Legitimation des Beschwerdeführers; Frage offen gelassen).
2. (Verweigerung des rechtlichen Gehörs; Rüge unbegründet).

3. In der Sache selbst macht der Beschwerdeführer geltend, der Regierungsrat hätte die vom Beschwerdeführer Thommen nachgesuchte Baubewilligung deshalb verweigern sollen, weil die Ausnützungsziffer des Bauvorhabens mehr als 0,75 betrage. Der Regierungsrat habe
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diese von der Gemeindeversammlung vom 30. April bzw. 20. August 1962 beschlossene Ausnützungsziffer nicht beachtet und damit willkürlich altes Recht angewendet. In dem in diesem Zusammenhang angerufenen Urteil BGE 87 I 507 ff. hat das Bundesgericht in Erw. 4 unter Hinweis auf zahlreiche frühere Urteile ausgeführt, dass es nicht willkürlich sei, ein Baugesuch nicht nach dem zur Zeit seiner Einreichung gültigen, sondern nach dem später in Kraft getretenen und zur Zeit der endgültigen Entscheidung geltenden Baurecht zu beurteilen. Die Frage, ob es umgekehrt zulässig sei, ein unter der Herrschaft des alten Rechts gestelltes Baugesuch noch nach diesem Recht zu beurteilen, wurde in jenem Urteil nicht berührt. Sie müsste vorliegend nur entschieden werden, wenn das zur Zeit der Einreichung des streitigen Baugesuchs geltende Baurecht bis zum Erlass des angefochtenen Entscheids geändert worden wäre. Das ist jedoch nicht der Fall. Als das Baugesuch im Februar 1962 eingereicht wurde, galt in Dulliken das von der Gemeinde am 23. September 1956 erlassene und vom Regierungsrat am 23. Oktober 1956 genehmigte Baureglement (BRegl). Dieses bestimmte nur die Zahl der Geschosse und deren Höhe sowie die Grenz- und Bauabstände (§§ 21 und 31), enthielt aber keine Vorschriften über die prozentuale Ausnützung des Baugrundes, obwohl das kantonale Baugesetz (BG) die Gemeinden seit 1951 ausdrücklich zum Erlass solcher Vorschriften ermächtigte (§ 7 Ziff. 6 BG). Am 30. April 1962, nach Einreichung des streitigen Baugesuchs und offenbar im Hinblick auf dieses, hat die Gemeindeversammlung dann beschlossen, dem BRegl einen § 39a beizufügen, der die im kantonalen Normalbaureglement und in den Richtlinien dazu vorgeschriebenen Ausnützungsziffern (in der in Frage stehenden Wohnzone III eine solche von 0,75) für die Gemeinde verbindlich erklärte. Dieser § 39a ist indes, wie der Regierungsrat zutreffend und ohne jede Willkür annimmt, nie in Kraft getreten. Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 BG unterliegen die Baureglemente der Gemeinden
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der Genehmigung des Regierungsrates und erhalten durch diese allgemein verbindliche Wirkung, was nichts anderes heissen kann, als dass die Genehmigung konstitutiv wirkt und Gültigkeitserfordernis ist. Dass diese Bestimmung des BG nicht nur für die Aufstellung der Baureglemente, sondern auch für deren Abänderung gilt, ist selbstverständlich (vgl. REINHARDT, Die Gemeindeautonomie nach solothurn. Recht S. 68). Bedurfte aber § 39a der Genehmigung des Regierungsrates, so ist er, da diese Genehmigung durch Beschluss vom 5. Juni 1962 verweigert worden ist, nicht geltendes Recht geworden. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Regierungsrat in seinem Beschluss die Genehmigung nur aus formellen Gründen verweigert und die Einführung von Ausnützungsziffern in Dulliken keineswegs abgelehnt, sondern im Gegenteil dringend empfohlen hat. Da die Bestimmungen der Gemeindebaureglemente erst mit der regierungsrätlichen Genehmigung verbindlich werden, schliesst der Mangel der Genehmigung das Inkrafttreten aus, gleichgültig aus welchen Gründen sie verweigert wird. Nach der Verweigerung der Genehmigung von § 39a BRegl hat der Gemeinderat ein vollständig neues Baureglement ausgearbeitet, das in der Gemeindeversammlung vom 20. August 1962 angenommen wurde und in § 83 - offenbar im Hinblick auf § 1 BG - bestimmt, dass es nach Genehmigung durch den Regierungsrat in Kraft tritt. Dieses neue Reglement, das in § 38 für die Wohnzonen Ausnützungsziffern von 0,4 (Zone I) bis 0,75 (Zone III) festsetzt, ist jedoch vom Regierungsrat bis zur Ausfällung des angefochtenen Entscheids am 18. Oktober 1962 nicht genehmigt worden. Die Genehmigung wurde, wie eine Anfrage des Instruktionsrichters bei der Staatskanzlei ergab, erst am 11. Dezember 1962 erteilt. Ist es aber erst an diesem Tage in Kraft getreten, so hat der Regierungsrat dadurch, dass er das streitige Baugesuch am 19. Oktober 1962 auf Grund des BRegl vom 25. September 1956 beurteilte, nicht altes, inzwischen ausser Kraft gesetztes, sondern
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das damals geltende Baurecht angewendet. Damit hat er weder eine Vorschrift des kantonalen Rechts oder einen allgemein feststehenden Rechtsgrundsatz verletzt und sich der Willkür schuldig gemacht, noch hat er sich im Widerspruch zu seinem grundsätzlichen Entscheid 1961 S. 28/29 gesetzt und den Beschwerdeführer rechtsungleich behandelt, denn dort war, anders als hier, das neue Baureglement zwischen der Einreichung des Baugesuchs und der Beurteilung desselben in Kraft getreten. Der Umstand schliesslich, dass der Gemeinderat Dulliken die Weisung des Regierungsrates, dem Beschwerdegegner Thommen die Baubewilligung zu erteilen, bis zur Einreichung der vorliegenden Beschwerde (und infolge der dieser gewährten aufschiebenden Wirkung bis heute) noch nicht erteilt hat, ändert nichts an der Rechtslage, wie sie am 19. Oktober 1962 bestand und für die Beurteilung der staatsrechtlichen Beschwerde massgebend ist. Als unbefriedigend erscheint freilich, dass infolge des angefochtenen Entscheids nun auf dem Grundstück des Beschwerdegegners Thommen mit einer höheren als der inzwischen am 11. Dezember 1962 in Kraft getretenen und für die andern Grundeigentümer der Zone III verbindlichen Ausnützungsziffer von 0,75 gebaut werden darf. Dies hätte der Regierungsrat dadurch vermeiden kÖnnen, dass er das bei ihm durch die Beschwerden Schneiders und Thommens eingeleitete Verfahren bis zur Genehmigung des ihm bereits zu diesem Zweck unterbreiteten Gemeindebaureglements vom 20. August 1962 sistiert und das streitige Baugesuch dann nach diesem neuen Recht beurteilt hätte, was nicht zu beanstanden gewesen wäre (vgl. BGE 87 I 512 Erw. 5). Indessen hat der Beschwerdeführer den Regierungsrat nicht um Sistierung des kantonalen Beschwerdeverfahrens bis zur Genehmigung des neuen Baureglements ersucht, noch macht er mit der staatsrechtlichen Beschwerde geltend, der Regierungsrat wäre von sich aus zu solcher Sistierung verpflichtet gewesen, so dass sich das Bundesgericht mit der Frage nicht zu befassen hat, ob die
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Sistierung nicht nur angezeigt und zulässig, sondern geboten gewesen wäre.
Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzu treten ist.