Urteilskopf

87 I 507

80. Auszug aus dem Urteil vom 15. November 1961 i.S. Wohnbau AG gegen Gemeinde Thusis und Grosser Rat des Kantons Graubünden.
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Regeste (fr):

Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 508

BGE 87 I 507 S. 508

Aus dem Tatbestand:

A.- Nach Art. 1 des Baugesetzes (BauG) des Kantons Graubünden vom 6. Mai 1894 sind die Gemeinden berechtigt, Bauordnungen aufzustellen; diese bedürfen der Genehmigung des Kleinen Rates. Die Gemeinde Thusis hat am 8. September 1922 eine Bauordnung (BO) erlassen, die vom Kleinen Rat genehmigt worden ist. Gemäss Art. 11 BO hat die erweiterte Baukommission der Gemeinde einen Überbauungsplan und nach Bedarf Pläne für einzelne Strassen oder Quartiere zu erstellen. Die Pläne sind öffentlich aufzulegen, wobei eine Frist von 30 Tagen zur Erhebung von Einsprachen anzusetzen ist. Nach "Beseitigung" der Einsprachen ist der Plan dem Kleinen Rat zur Genehmigung zu unterbreiten.
B.- Im Zuge der Ausarbeitung eines neuen Bebauungsplans und einer neuen Bauordnung liess die Gemeinde Thusis im Jahre 1958 für das noch nicht erschlossene Gebiet "Hasensprung/Rafria" einen Quartierplan erstellen, der von Mitte November bis Mitte Dezember 1958 aufgelegt wurde. Am 17. Dezember 1958 stimmte die Gemeindeversammlung der Ergänzung des Art. 32 BO durch einen neuen zweiten Absatz zu, wonach im genannten Quartier nur Gebäude errichtet werden dürfen, die ausser dem Kellergeschoss nicht mehr als zwei Stockwerke umfassen.
Der Kleine Rat wies einen Rekurs gegen diesen Gemeindeversammlungsbeschluss ab; er hiess hingegen einen solchen gegen den Quartierplan dahin gut, dass er die Gemeindebehörden verhielt, den Plan in einzelnen Punkten zu ergänzen und ihn hierauf erneut öffentlich aufzulegen. Nachdem das geschehen war, genehmigte der Kleine Rat am 20. Mai 1960 den neuen Art. 32 Abs. 2 BO und den bereinigten Quartierplan "Hasensprung/Rafria".
C.- Schon vor der Auflegung der ersten Fassung des Quartierplans hatte die Wohnbau AG am 23. Oktober 1958 ein Baugesuch für zwei dreigeschossige Mehrfamilienhäuser
BGE 87 I 507 S. 509

am "Hasensprung" eingereicht. Die Baukommission der Gemeinde Thusis lehnte das Gesuch am 29. Dezember 1958 ab, weil es dem Quartierplan und dem neuen Art. 32 Abs. 2 BO widerspreche. Der Kleine Rat hiess einen dagegen erhobenen Rekurs am 19. Juni 1959 gut und wies die Sache zu neuer Behandlung an die Gemeindebehörde zurück. Er führte dazu aus, die Verweigerung der Baubewilligung könne nicht auf die erwähnten Erlasse gestützt werden, weil diese noch nicht genehmigt worden seien und folglich nicht in Kraft ständen. Am 12. Januar 1960 reichte die Wohnbau AG ihr Baugesuch mit leicht veränderten und ergänzten Unterlagen wieder ein. Die Baukommission Thusis behandelte die Rechtsvorkehr als neues Gesuch; sie lehnte dieses am 27. Februar 1960 ab, weil das Projekt gegen den Quartierplan verstosse, indem eines der beiden Häuser in die vorgesehene Strasse hineinragen würde, und weil es zudem den Gemeindeversammlungsbeschluss vom 17. Dezember 1958 verletze, der vom Kleinen Rat im Rekursverfahren bestätigt worden sei. Die Wohnbau AG zog diese Verfügung an den Kleinen Rat weiter, der den Rekurs am 17. Oktober 1960 abwies. Einen Rekurs, den die Wohnbau AG dagegen erhob, hat der Grosse Rat am 2. Juni 1961 als unbegründet erklärt. Er stellte dabei fest, es sei allgemein anerkannt, dass ein Baugesuch nicht nach den Vorschriften zu beurteilen sei, die bei dessen Einreichung in Kraft standen; es komme vielmehr aufzur die Zeit der Beurteilunggeltenden Normen an; diese aber liessen das streitige Bauvorhaben nicht zu.
D.- Die Wohnbau AG ficht diesen Rekursentscheid mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV und der Eigentumsgarantie an. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Erwägungen

Aus den Erwägungen:

4. Die Beschwerdeführerin beanstandet, dass der Grosse Rat den Gemeindeversammlungsbeschluss vom
BGE 87 I 507 S. 510

17. Dezember 1958 auf das schon vor dessen Erlass eingereichte Baugesuch angewendet hat, obwohl keine Übergangsbestimmung dem neuen Art. 32 Abs. 2 BO rückwirkende Kraft verleihe. Diese Einwendung geht von der falschen Voraussetzung aus, neue Bauvorschriften seien auf bereits anhängige Baugesuche nur anwendbar, wenn das Gesetz dies ausdrücklich vorsehe. Soweit die kantonale Gesetzgebung nicht das Gegenteil gebietet (vgl. Art. 71 Abs. 2 des nidwaldischen und teilweise auch Art. 54 des glarnerischen BauG), geht die schweizerische Verwaltungspraxis dahin, ein Baugesuch nach den Normen zu beurteilen, die zur Zeit der endgültigen Entscheidung in Kraft stehen; bei der Beurteilung durch mehrere Instanzen sind demgemäss jene Vorschriften massgeblich, die im Zeitpunkt gültig sind, auf den sich die Feststellungen der letzten Instanz beziehen (vgl. ZR 12 Nr. 231, 47 Nr. 97; MBVR 36 Nr. 236 S. 446, 51 Nr. 52 S. 141 f.; ZBl 1961 S. 131 oben; BJM 1961 S. 163 ff.; ZIMMERLIN, Bauordnung der Stadt Aarau S. 69). Die meisten kantonalen Baugesetze ermächtigen deshalb die Baubewilligungsbehörden, im Falle einer unmittelbar bevorstehenden Änderung der Rechtsgrundlagen die Behandlung eines Baugesuches zurückzustellen, bis der neue Plan oder das revidierte Baurecht in Kraft steht. Ungeachtet dessen, ob solche Verfahrensvorschriften bestehen oder nicht, ist es, wie das Bundesgericht wiederholt erkannt hat, nicht verfassungswidrig, ein unter der Herrschaft des alten Rechts eingereichtes Baugesuch nach dem inzwischen in Kraft getretenen neuen Baurecht zu beurteilen (vgl. Urteile vom 7. Juli 1933 i.S. Götschi, Erw. 2; vom 18. Mai 1934 i.S. Pfenninger, Erw. 2; vom 7. Dezember 1934 i.S. Facchetti, Erw. 5; vom 9. November 1949 i.S. Gysin, Erw. 4; vom 9. November 1949 i.S. Aarbühl AG, Erw. 4, abgedruckt in MBVR 48 Nr. 150 S. 312; vom 15. März 1950 i.S. Hug, Erw. 5, ZBl 1952 S. 270/71; vom 25. April 1956 i.S. Florapark AG, Erw. 2; vom 30. Mai 1956 i.S. Basler Lebensversicherungs-Gesellschaft,

BGE 87 I 507 S. 511

Erw. 2, MBVR 54 Nr. 113 S. 407 ff.; vom 17. Dezember 1958 i.S. Sigrist & Berger, Erw. 6; vgl. auchBGE 79 I 5Erw. 2a). Diese Rechtsprechung steht in Übereinstimmung mit der Lehre (JELLINEK, Verwaltungsrecht, 3. Aufl., S. 143/44; vgl. auch BURCKHARDT, Organisation der Rechtsgemeinschaft, 2. Aufl., S. 97, 108). Die Vorbringen der Beschwerdeführerin geben keinen Anlass, darauf zurückzukommen. Der Grundeigentümer muss stets damit rechnen, dass das Baurecht in dem vom Gesetz dafür vorgesehenen Verfahren geändert wird; er hat grundsätzlich kein wohlerworbenes Recht darauf, dass das bestehende Recht für sein Grundstück in Geltung bleibe (ZBl 1961 S. 131 oben). Die Einreichung des Baugesuches ändert daran nichts. Die Baubewilligung, die damit verlangt wird, ist die Bescheinigung darüber, dass dem Bauvorhaben kein baupolizeiliches Hindernis entgegensteht. Sie hat den Zweck, die Entstehung eines polizeiwidrigen Zustandes zu verhindern (FLEINER, Institutionen, 8. Aufl., S. 406). Da dieser Zustand erst in Zukunft eintritt, muss dessen Rechtmässigkeit auf Grund der dannzumal geltenden Ordnung, also des neuen Rechts, beurteilt werden (vgl. ZR 12 Nr. 231, 47 Nr. 97). Da das neue Recht dergestalt auf einen erst künftig sich verwirrklichenden Sachverhalt und nicht auf bereits bestehende Verhältnisse angewendet wird, liegt keine Rückwirkung vor (vgl. GEIGER, Sind rückwirkende Steuergesetze zulässig? Steuer-Revue 16 S. 51). Sofern die kantonale Gesetzgebung nichts Abweichendes vorschreibt, wird eine Baubewilligung denn auch erst dann unwiderruflich, wenn mit der Ausführung der Bauten begonnen worden ist (BGE 79 I 6lit. b). Der Kleine Rat hat am 20. Mai den neuen Art. 32 Abs. 2 BO und den Quartierplan "Hasensprung/Rafria" genehmigt. Als er am 17. Oktober 1960 auf Rekurs hin über das Baugesuch der Beschwerdeführerin entschied, standen diese Normen mithin bereits in Kraft. Selbst wenn der Grosse Rat nach dem für das zweitinstanzliche
BGE 87 I 507 S. 512

Rekursverfahren geltenden Novenverbot (Art. 55 Abs. 2 der Geschäftsordnung vom 29. Mai 1956) in dieser Verfahrensstufe eingetretene Änderungen der Rechtslage nicht berücksichtigen dürfte (was angesichts seiner Befugnis zu freier Prüfung der Rechtsanwendung nicht anzunehmen ist), konnte er sich demnach ohne Willkür auf das neue Recht stützen.
5. Die Beschwerdeführerin bezeichnet die Anwendung des neuen Art. 32 Abs. 2 BO auch deshalb als willkürlich, weil die Baukommission die Behandlung des Baugesuches in nicht zu verantwortender Weise verzögert habe, um das Inkrafttreten jener Bestimmung abzuwarten, die eigens wegen dieses Bauvorhabens erlassen worden sei. Die Gemeinde Thusis bestreitet sowohl das Vorliegen einer Verzögerung als auch, dass sie die Bauordnung nur im Hinblick auf das Projekt der Beschwerdeführerin geändert habe.
Wie dem sei, kann dahingestellt bleiben. Der Plan (sowie das damit verbundene örtliche Baurecht) hebt sich seinem Inhalte nach dadurch vom Gesetz ab, dass er die ihm unterstellten Tatbestände gerade in ihrer Besonderheit zu erfassen trachtet (IMBODEN, Der Plan als verwaltungsrechtliches Institut, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 18, S. 123). Die Besonderheiten dieser Einzelfälle aber lassen sich nur schwer von vornherein überblicken. Dass ein Plan (samt zugehörigen Bauvorschriften) geschaffen oder geändert werden sollte, zeigt sich daher häufig erst bei der Einreichung eines Baugesuches. Eine Anzahl kantonaler Baugesetze trägt dem Rechnung, indem sie Fristen für die Schaffung oder Änderung des Planes ansetzen oder sonstige Anweisungen für diesen Fall geben (Zürich, § 129 BauG; Bern, Art. 36 BauG; Luzern, Art. 12 städt. BauG; Obwalden, Art. 135 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
EG ZGB; Zug, § 10 städt. BauG; Solothurn, § 19 BauG; Waadt, Art. 83 BauG). Dass ein bestimmtes Bauvorhaben dergestalt zum Ausgangspunkt neuen Baurechts wird, weckt keine Bedenken,
BGE 87 I 507 S. 513

falls die Behandlung des Baugesuches dadurch keine untragbare Verzögerung erleidet (was die erwähnten Fristen sicherzustellen suchen) und falls das neue Baurecht, dem Gebote der Rechtsgleichheit folgend, sich auch in der ihm eigenen Berücksichtigung der Besonderheiten der einzelnen Tatbestände ganz von allgemeinen planerischen Gesichtspunkten leiten lässt (vgl. IMBODEN, a.a.O., S. 142 Ziff. IX), es also nicht in einseitiger Weise darauf ausgeht, die Rechtsstellung des betreffenden Baugesuchstellers zu verbessern oder zu erschweren. Die kantonalen Instanzen trifft weder in der einen noch in der andern Hinsicht ein Vorwurf. Wird berücksichtigt, dass das streitige Baugesuch sich auf ein bisher nicht erschlossenes Gebiet bezieht und dass die Beschwerdeführerin selber sich zu einer Änderung und Ergänzung der Unterlagen veranlasst sah, so liegt zwischen der Einreichung des Gesuches und dessen endgültiger Beurteilung keine übermässig lange Zeitspanne. Dass der Gemeindeversammlungsbeschluss vom 17. Dezember 1958 auf Schaffung des neuen Art. 32 Abs. 2 BO von sachlichen planerischen Gesichtspunkten geprägt ist, hat der Kleine Rat bereits bei der Genehmigung der genannten Norm am 20. Mai 1960 festgestellt. Gleiches gilt mit Bezug auf den Quartierplan "Hasensprung/Rafria". Diese Frage steht hier denn auch nicht mehr zur Erörterung.