Urteilskopf

85 II 286

46. Urteil der I. Zivilabteilung vom 13. Oktober 1959 i.S. A.-G. für Wohnungsbau gegen Fochesato und Zug, Justizkommision.
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Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 287

BGE 85 II 286 S. 287

A.- Josef Fochesato war Mieter einer Wohnung in einer der A.-G. für Wohnungsbau, Zürich, gehörenden Liegenschaft in Cham. Die Vermieterin kündigte am 11. Dezember 1958 den Mietvertrag unter Einhaltung der vertraglich vereinbarten Kündigungsfrist von 3 Monaten auf Ende März 1959. Der Mieter bestätigte den Empfang der Kündigung, erklärte aber gleichzeitig, dass er diese nicht annehme. Da er auf dieser Einstellung beharrte, stellte die Vermieterin am 27. Februar 1959 beim Kantonsgerichts-Präsidium Zug das Begehren um Erlass eines Befehls an den Mieter, die Wohnung bis zum 1. April 1959 zu räumen.
B.- Der Kantonsgerichtspräsident von Zug wies das Begehren am 7. März 1959 ab, weil die Vermieterin es unterlassen hatte, gemäss § 147 Zuger ZPO den Rechtsvorschlag des Mieters gegen die Kündigung durch den Richter beseitigen zu lassen. Die Verfahrenskosten von Fr. 10.- wurden der Gesuchstellerin auferlegt. Die von der Vermieterin gegen diesen Entscheid erhobene Beschwerde wurde von der Justizkommission des Kantons Zug mit Urteil vom 6. April 1959 unter Auferlegung der Kosten von Fr. 43.- an die Beschwerdeführerin abgewiesen. Inzwischen hatte der Mieter die Wohnung am 1. April 1959 geräumt.
C.- Gegen das Urteil der Justizkommission reichte die Vermieterin beim Bundesgericht Nichtigkeitsbeschwerde gemäss Art. 68 Abs. 1 lit. a OG ein mit den Anträgen: "1. Der angefochtene Entscheid sei aufzuheben.
2. Es sei festzustellen, dass das von der Klägerin am 27. Februar 1959 beim Kantonsgerichtspräsidium Zug gestellte
BGE 85 II 286 S. 288

Begehren um Ausweisung des Beklagten per 1. April 1959 ..... begründet war. 3. Die Kosten des Verfahrens vor den kantonalen Instanzen und vor Bundesgericht seien dem Beklagten aufzuerlegen, und er sei zu verpflichten, die Klägerin für prozessuale Umtriebe angemessen zu entschädigen." Die Beschwerdebegründung geht dahin, dass § 147 Zuger ZPO bundesrechtswidrig sei, soweit sich die Bestimmung auf eine private (nicht durch das Weibelamt erfolgende) Zustellung der Kündigung eines Miet- oder Pachtverhältnisses beziehe.
D.- Die Justizkommission des Kantons Zug hat unter Hinweis auf die Begründung ihres Entscheides auf Vernehmlassung verzichtet. Der Beschwerdegegner Fochesato hat keine Antwort eingereicht.
Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Die durch Art. 68 OG aufgestellten Voraussetzungen für das Eintreten auf eine Nichtigkeitsbeschwerde sind an sich erfüllt. a) Die Klägerin behauptet, die Vorinstanz habe anstelle der Vorschriften des Bundeszivilrechts über den Mietvertrag kantonales Prozessrecht, nämlich § 147 Zuger ZPO, angewendet. Damit wird der Nichtigkeitsgrund des Art. 68 Abs. 1 lit. a OG geltend gemacht. b) Der angefochtene Entscheid betrifft eine Zivilsache. Eine solche liegt nach ständiger Rechtsprechung schon dann vor, wenn das dem Streit zugrunde liegende Rechtsverhältnis dem Zivilrecht angehört (BGE 83 II 185 lit. b,BGE 72 II 309Erw. 2 und dort erwähnte Entscheide). Das ist hier der Fall, da das Rechtsverhältnis, welches dem Streit zugrunde liegt, einen Mietvertrag betrifft. c) Einer Nichtigkeitsbeschwerde nach Art. 68 OG steht nicht im Wege, dass es sich bei dem angefochtenen Entscheid nicht um einen Sachentscheid handelt, sondern um einen Entscheid über ein Begehren um Erlass einer vorläufigen Verfügung, die im summarischen Verfahren zu
BGE 85 II 286 S. 289

treffen war (Zuger ZPO § 129 ff.) und durch welche dem richterlichen Entscheid im ordentlichen Prozesse nicht vorgegriffen wurde (§ 133). Anders als bei der Berufung, wo gemäss Art. 48 OG nur ein Endentscheid (d.h. ein Entscheid in der Sache) an das Bundesgericht weiterziehbar ist, kann im Wege der Nichtigkeitsbeschwerde nach Art. 68 OG auch eine einstweilige Verfügung beim Bundesgericht angefochten werden (BGE 78 II 91,BGE 74 II 51Erw. 2). Voraussetzung ist nur, dass es sich dabei um einen letztinstanzlichen kantonalen Entscheid handelt. Das trifft hier zu; denn gegen den Entscheid der Justizkommission ist kein ordentliches kantonales Rechtsmittel mehr gegeben.
2. Es stellt sich indessen die Frage, ob die allgemeine, für jedes Rechtsmittel geltende Voraussetzung des Eintretens, nämlich das Vorliegen eines rechtsschutzwürdigen Interesses der Rechtsmittelklägerin an der anbegehrten gerichtlichen Entscheidung gegeben sei. Diese Frage stellt sich, weil der Beschwerdegegner Fochesato die streitige Wohnung am 1. April 1959 geräumt und damit das getan hat, was die Beschwerdeführerin mit ihrem am 27. Februar 1959 vorzeitig anhängig gemachten Ausweisungsbegehren erreichen wollte. Damit war das Ausweisungsbegehren schon vor der Urteilsfällung durch die Vorinstanz materiell gegenstandslos geworden. Vernünftigerweise hätte daher die Beschwerdeführerin ihre bei der Justizkommission hängige Beschwerde zurückziehen oder ihr wenigstens vom Auszug des Mieters und der dadurch bewirkten Gegenstandslosigkeit der Beschwerde Mitteilung machen sollen. Das hätte zur Folge gehabt, dass die Sache als gegenstandslos abgeschrieben worden und die Fällung des Urteils vom 6. April 1959 unterblieben wären. Bei dieser Sachlage hat die Beschwerdeführerin naturgemäss an sich kein Interesse mehr an der Aufhebung des angefochtenen Entscheides; dieser erging ja nur über die Frage, ob ein auf den 1. April 1959 wirksamer Ausweisungsbefehl zu erlassen sei oder nicht. Einer gerichtlichen Entscheidung dieser Frage bedarf es nicht mehr, nachdem
BGE 85 II 286 S. 290

der Mieter die Wohnung auf den genannten Zeitpunkt geräumt hat. Damit besteht kein Interesse der Beschwerdeführerin mehr an der Gutheissung ihres von den Vorinstanzen abgewiesenen Begehrens; das Rechtsbegehren, das vor den Vorinstanzen streitig war, ist gegenstandslos geworden. Infolgedessen fehlt es an einem Rechtsschutzbedürfnis der Beschwerdeführerin. Wie die Zulässigkeit einer Klage, so setzt auch die Zulässigkeit eines Rechtsmittels ein Rechtsschutzbedürfnis voraus; denn alle Rechtsschutzeinrichtungen werden nur zur Wahrung legitimer, d.h. schutzwürdiger Interessen zur Verfügung gestellt (GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht, 2. Aufl. S. 252, 508). Mit Bezug auf das Rechtsbegehren, das Gegenstand der vorinstanzlichen Entscheidung bildete, ist das Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde daher nicht statthaft. Die Rechtsfolge besteht darin, dass auf die Beschwerde nicht einzutreten ist.
3. Das Fehlen eines Interesses der Beschwerdeführerin an der Gutheissung ihres von den kantonalen Instanzen abgewiesenen Begehrens zeigt sich auch darin, dass die Beschwerdeführerin vor Bundesgericht ihr Rechtsbegehren in seiner ursprünglichen Form nicht mehr aufrecht erhält, sondern es abgeändert hat. Sie verlangt nicht mehr den Erlass eines Ausweisungsbefehls, sondern die Feststellung, dass ihr vor den Zuger Instanzen gestelltes Begehren seinerzeit begründet gewesen sei. Allein aus den oben dargelegten Gründen ist ein schutzwürdiges Interesse der Beschwerdeführerin auch an einer solchen Feststellung zu verneinen, selbst wenn sich dieses Feststellungsbegehren als blosse Einschränkung des ursprünglichen Rechtsbegehrens auffassen liesse, was offen bleiben kann. Auch eine Feststellungsklage setzt aber ein schutzwürdiges Feststellungsinteresse voraus, so dass auf das Begehren der Beschwerdeführerin auch in seiner eingeschränkten Form nicht eingetreten werden kann.
4. Die Beschwerdeführerin macht nun allerdings geltend, dass sie auf Grund des Entscheides der Vorinstanz
BGE 85 II 286 S. 291

Gerichtskosten von insgesamt Fr. 53.- zu bezahlen habe. Von dieser Kostenpflicht will sie befreit werden, und ausserdem fordert sie vom Beschwerdegegner eine Prozessentschädigung. Mit Rücksicht auf diese Kostenbelastung glaubt die Beschwerdeführerin, ein rechtsschutzwürdiges Interesse an der nachträglichen Feststellung zu haben, dass ihr seinerzeitiges Begehren um Erlass eines Ausweisungsbefehl gegenüber ihrem Mieter begründet gewesen sei. Diese Auffassung ist abzulehnen. Das Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde hat, gleich wie die Berufung, den Zweck, die Anwendung des Bundesprivatrechts bei der Entscheidung der von der letzten kantonalen Instanz beurteilten materiellen Rechtsbegehren sicherzustellen. Der Kostenspruch der Vorinstanz betrifft einen blossen Nebenpunkt. Dieser ist zwar von der Entscheidung der Hauptfrage nach der Verletzung materiellen Bundesrechts abhängig. Der Entscheid über ihn erfolgt aber ausschliesslich auf Grund des kantonalen Prozessrechts. Er kann deshalb materielles Bundesrecht überhaupt nicht verletzen. In die Verlegung der Kosten des kantonalen Verfahrens kann das Bundesgericht nur ausnahmsweise eingreifen, nämlich nur, wenn das angefochtene Urteil in der Sache selbst abgeändert wird (Art. 157 OG). Dabei wendet das Bundesgericht aber kantonales Recht an. Das ist hinsichtlich der Parteikosten ausdrücklich gesagt in Art. 159 Abs. 6 OG, trifft aber nach der Natur der Sache selbstverständlich auch auf die durch Art. 157 OG geregelten Gerichtskosten zu (BGE 71 II 189). Aus Art. 157 OG ist durch Umkehrschluss zu folgern, dass bei Bestätigung des angefochtenen Entscheids in der Sache selbst eine Änderung des Kostenspruches ausgeschlossen ist (BGE 81 II 543 Erw. 7 und dort erwähnte Entscheide). Ebenso ergibt sich daraus gemäss ständiger Rechtsprechung, dass gegen den Kostenspruch allein die Berufung - und somit auch eine Nichtigkeitsbeschwerde - nicht ergriffen werden kann. Das gleiche muss logischerweise auch dort gelten, wo der kantonale Entscheid in der Sache selbst wegen
BGE 85 II 286 S. 292

Gegenstandslosigkeit beim Bundesgericht nicht mehr angefochten werden kann. Denn hier wie dort würde mit einer Überprüfung des Kostenspruches allein ein an sich gar nicht vom Bundesrecht beherrschter Nebenpunkt zum Hauptgegenstand des Rechtsmittelverfahrens gemacht, was nicht angängig sein kann. Daher kann die Beschwerung einer Partei mit Kosten für sich allein unter dem Gesichtspunkt des Bundesrechts kein rechtsschutzwürdiges Interesse an einer bloss vorfrageweise zu treffenden, materiell gegenstandslosen Sachentscheidung begründen. Die Nichtigkeitsbeschwerde ist daher auch unter dem Gesichtspunkt der Kostenbeschwerung unzulässig.

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Auf die Nichtigkeitsbeschwerde wird nicht eingetreten.