S. 395 / Nr. 68 Motorfahrzeugverkehr (d)

BGE 79 II 395

68. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 27. Oktober 1953 i. S. Räz
gegen L'Assicuratrice Italiana.


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Regeste:
Art. 37 Abs. 3 und 42 MFG.
Leichtfertige Eingehung eines erkennbaren Risikos als Mitverschulden des
Geschädigten. Anforderungen an den Kausalzusammenhang.
Zum Genugtuungsanspruch des mitschuldigen Verletzten.
Art. 37 al. 3 et 42 LA.
Faute concomitante du lésé qui, à la légère, s'expose à un risque
reconnaissable. Conditions que doit remplir le rapport de causalité.
De la réparation morale lorsque le lésé a commis une faute concurrente.
Art. 37, cp. 3 e 42 LA.
Colpa concomitante del leso che alla leggera si espone ad un rischio
riconoscibile. Condizioni che deve soddisfare il nesso di causalità.
Della riparazione del torto morale, quando al leso è addebitabile una colpa
concomitante.

A. - Am 20. April 1950, kurz vor Mitternacht, verunfallte der Kläger Räz auf
der Mutschellenstrasse als Mitfahrer des vom Eigentümer selber gesteuerten
Motorrades des Hans Lüthy . Dieser war haftpflichtversichert bei der
Beklagten, welche die Ersatzpflicht als solche für den vom Kläger erlittenen
Schaden anerkannte und Fr. 5957.25 bezahlte, jedoch erhobene Mehrforderungen
ablehnte.
B. - Daraufhin belangte der Kläger die Beklagte für weiteren Schadenersatz in
der Höhe von Fr. 5120.10 nebst 5% Zins seit 25. Januar 1951 und für eine
Genugtuungssumme von Fr. 2000.-. Während das Bezirksgericht Bremgarten einen
Anspruch von Fr. 4296.20 schützte, sprach das Obergericht des Kantons Aargau
mit Urteil vom 19. Februar 1953 Fr. 1657.70 als Schadenersatz und

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Fr. 500.- als Genugtuung zu, je verzinslich ab 25. Januar 1951.
C. - Der Kläger legte Berufung an das Bundesgericht ein. Er beantragt
Gutheissung der Klage für Fr. 5196.10. Die Beklagte schloss sich der Berufung
an mit dem Begehren um Abweisung der Klage für den Fr. 811.65 übersteigenden
Betrag.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung
1.- Das Obergericht ermittelte einen Gesamt schaden von Fr. 10153.35. Damit
finden sich die Parteien ab. Umstritten bleiben der Mitverschuldensabzug und
die Genugtuungsleistung.
2.- Nach Auffassung des Klägers war sein Verhalten vor dein Unfall weder
schuldhaft noch überhaupt geeignet, eine teilweise Haftungsbefreiung der
Beklagten herbeizuführen.
a) Im letzteren Punkte stützt die Vorinstanz ihren Entscheid auf Art. 37 Abs.
3 MFG. Die Berufung macht geltend, mit dem in dieser Bestimmung genannten
«Verschulden des Geschädigten» sei ein «unfallkausales» gemeint, und ein
solches belaste den Kläger nach verbindlicher Feststellung des Obergerichtes
gerade nicht.
Art. 37 MFG gestaltet in seiner Gesamtheit die Haftpflicht des Halters.
Richtig ist, dass Abs. 3 von der Mitwirkung eines Verschuldens des
Geschädigten, des Dritten, des Halters oder fehlerhaft er Beschaffenheit des
Motorfahrzeugs - am Unfall spricht. Anderseits ist in Abs. 2 die Rede von der
Verursachung - bei Schuldlosigkeit des Halters durch Verschulden des
Geschädigten oder Dritten oder durch höhere Gewalt - des Schadens. Käme es auf
diese gegensätzliche Ausdrucksweise an, so müssten innerhalb der nämlichen
Haftpflichtordnung je nach den vorausgesetzten persönlichen und sachlichen
Gegebenheiten unterschiedliche Anforderungen an den Kausalzusammenhang
gestellt werden. Das kann nicht der Wille des Gesetzes sein. Eine Antwort auf
die vom Kläger

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aufgeworfene Frage lässt sich daher nicht aus dem Wort laut des Abs. 3
folgern.
Auszugehen ist vom Leitgedanken des Art. 37 MFG. Er ist niedergelegt in Abs.
1, welcher dem Halter die Kausalhaftung für den durch den Betrieb eines
Motorfahrzeugs verursachten Schaden überbindet. Die weiteren Absätze sehen
lediglich Milderungen des Grundsatzes vor, wo dessen starre Handhabung
unbillige Ergebnisse zeitigen würde. Hiefür bezeichnend sind namentlich die in
Abs. 2 und 3 enthaltenen Weisungen an den Richter, die Ersatzpflicht bzw. die
Entschädigung «unter Würdigung aller Umstände» festzusetzen. Abs. 1 verlangt
die ursächliche Verbindung zwischen der bedingenden Tatsache und dem
Schadenserfolg. Die Einfügung des Verschuldensmomentes in den nachgehenden
Absätzen dient der Abschwächung der Kausalhaftung. Zweck der Abs. 2 und 3 im
einzelnen ist, die Haftungsverhältnisse ohne und mit Verschulden des Halters
abzugrenzen. Aber nichts deutet darauf, dass zugleich für den Fall des Abs. 3
und mit völlig unmotivierter Beschränkung auf ihn eine abweichende Normierung
der Kausalität beabsichtigt wäre. Das widerspräche, weil auf eine Verschärfung
zum Nachteil des Halters hinauslaufend, dem erwähnten Billigkeitscharakter der
Vorschrift und darf ohne zwingenden Anhalt umso weniger vermutet werden, als
damit die allgemeine Regelung des OR geändert würde, welche Art. 41 MFG für
die Bestimmung von Art und Umfang des Schadenersatzes als anwendbar erklärt.
Folgerichtig muss auch bei Art. 37 Abs. 3 MFG der Kausalzusammenhang zwischen
der Handlungsweise des Geschädigten und seinem Schaden genügen. Er ist hier
gegeben. Denn hätte der Kläger die Einladung Lüthys zur Mit fahrt nach
Bremgarten nicht angenommen, so wäre er nicht in den Unfall verwickelt und
verletzt worden.
b) Alsdann ist zu erörtern, ob die Handlungsweise des Klägers ein
rechtserhebliches Verschulden einschliesse. Die Berufung verneint es, weil der
Kläger die Fahrt nur

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auf Drängen Lüthys mitgemacht, sich als Vorsichtsmassnahmen die Einhaltung
einer Höchstgeschwindigkeit sowie den Verzicht auf Überholen ausbedungen und
die Angetrunkenheit Lüthys nicht bemerkt habe.
Die Mutschellenstrasse ist zwar gut ausgebaut, aber gefährlich wegen ihrer
vielen Kurven. Laut tatbeständlicher Angabe der Vorinstanz herrschte in der
Nacht vom 20./21. April 1950 schlechte Sicht. Von einer abendlichen Ausfahrt
nach Uster zurückgekehrt, wo sie Wein und Kaffee mit Schnaps zu sich genommen
hatten, waren die Beteiligten zu vorgerückter Stunde im Restaurant
Mutschellen» eingekehrt, um erneut Wein zu trinken. Wohl stellt die Vorinstanz
bindend fest, dass dem Kläger die an sich erwiesene Angetrunkenheit Lüthys
nicht auffiel. Doch ist es gemeinhin bekannt, dass Alkoholeinflüsse selbst
dann, wenn sie keine sichtbare Trunkenheit auslösen, die zur sicheren Lenkung
eines Motorfahrzeugs nötigen Eigenschaften beeinträchtigen. Das allein schon
hätte den Kläger abhalten sollen, zumal er mit einer gewissen Ermüdung Lüthys
rechnen musste, wusste er doch, dass dieser bereits am Nachmittag seinen
Meister im Auto nach Zürich geführt hatte. Wenn er trotzdem und ungeachtet der
ungünstigen äusseren Verhältnisse an der - einzig zum Besuche einer anderen
Wirtschaft unternommenen und darum durchaus überflüssigen Fahrt nach
Bremgarten sich beteiligte, so setzte er sich leichtfertig einem erkennbaren
Risiko aus. Diesem war mit dem Mittel einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 60
km/Std. unter den obwaltenden Umständen und auf einer Talfahrt offenkundig
nicht zu begegnen. Dass sich der Kläger erst auf Zureden Lüthys zu dessen
Begleitung herbeiliess, entlastet ihn auch nicht. Er hat nichtsdestoweniger
seinen Entschluss freiwillig gefasst.
c) Somit ist ein Abzug an der dem Kläger geschuldeten Entschädigung
gerechtfertigt. Die Vorinstanz bestimmte ihn auf y4.
(Bundesgerichtliche Bestätigung in dieser Höhe.)

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3.- Gemäss Art. 42 MFG «kann» der Richter, sofern den Halter ein Verschulden
trifft, «unter Würdigung der besonderen Umstände, namentlich in Fällen von
Arglist oder grober Fahrlässigkeit», dem Verletzten eine Genugtuungssumme
zusprechen. Die Mehrheit der Vorinstanz machte von dieser Befugnis Gebrauch.
Das Berufungsbegehren um Verdoppelung des bewilligten Betrages steht unter der
Voraussetzung der Schuldlosigkeit des Klägers, welche nach dem Gesagten
entfällt. Die Anschlussberufung widersetzt sich jeglicher Genugtuungsleistung.
Das von der Beklagten zu vertretende Verschulden Lüthys ist allerdings grob.
Aber es ist zuzugeben, dass dort, wo auch der Geschädigte schuldig wurde, bei
der Zuerkennung geldwerter Genugtuung einige Zurückhaltung geboten ist. Der
Kläger hat weder bleibende Gesundheitsschädigungen davongetragen noch schweres
seelisches Leid erfahren. Dass er seiner Verletzungen wegen längere Zeit
pflegebedürftig war, Schmerzen erdulden und sonstige Unannehmlichkeiten
hinnehmen musste, hat er weitgehend der eigenen Fahrlässigkeit zuzuschreiben.
Mit der Minderheit des Obergerichtes ist ihm daher Genugtuung in Form einer
Geldsumme zu verweigern.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.- Die Hauptberufung wird abgewiesen.
2.- In teilweiser Gutheissung der Anschlussberufung wird Disp. Ziff. 1 des
angefochtenen Urteils dahin abgeändert, dass die Beklagte verpflichtet ist,
dem Kläger Fr. 1657.70 nebst 5% Zins ab 25. Januar 1951 zu bezahlen.
Soweit auf mehr oder anderes gerichtet wird die Anschlussberufung abgewiesen
und der kantonale Entscheid bestätigt.