S. 99 / Nr. 18 Familienrecht (d)

BGE 78 II 99

18. Urteil der Il. Zivilabteilung vom 20. Mai 1952 i. S. Eheleute Keller.

Regeste:
Ehescheidung, Prozessfähigkeit.
Die Scheidungsklage eines Urteilsunfähigen ist unwirksam. Anforderungen an die
Urteilsfähigkeit. Wer durch Wahnideen zur Klage bestimmt wird, ist
urteilsunfähig, auch wenn er die Bedeutung einer Scheidung im allgemeinen zu
erkennen vermag.
Divorce. Capacité d'ester en justice.
L'action en divorce intentée par une personne incapable de discernement est
sans effet. Exigences relatives à la capacité de discernement. Celui qui s'est
décidé à intenter une action sous l'empire d'idées délirantes est incapable de
discernement même s'il est en mesure de se rendre compte d'une façon générale
de la signification d'un divorce.
Divorzio, capacità di stare in lite.
L'azione di divorzio promossa da un incapace di discernimento è senz'effetto.
Requisiti della capacità di discernimento. Chi, in preda di idee deliranti, si
è deciso a promuovere un azione è incapace di discernimento, anche se è in
grado di comprendere in generale il significato d'un divorzio.

Nachdem eine erste Scheidungsklage des wegen Geisteskrankheit entmündigten
Klägers am 23. Oktober 1940/15. Januar 1941 abgewiesen und eine zweite
Scheidungsklage

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am 18. Dezember 1947 mangels Prozessfähigkeit des Klägers von der Hand
gewiesen worden war, klagte dieser Ende 1950 neuerdings auf Scheidung. Sein
Vormund nahm am Prozesse teil. Das Bezirksgericht Zürich wies die Klage ab.
Die Frage der Prozessfähigkeit des Klägers liess es dabei offen. Das
Obergericht des Kantons Zürich, an das der Kläger appellierte, liess ihn durch
Prof. Wyrsch psychiatrisch begutachten. Zur Abklärung der Frage, ob er
prozessfähig sei, stellte es dem Experten die Frage, ob jener in seinem
gegenwärtigen Geisteszustand in der Lage sei, die Bedeutung der Scheidung der
Ehe zu erkennen und zu beurteilen. Der Experte, der feststellte, dass der
Kläger einen schizophrenen Prozess mit Bildung von Wahnideen durchgemacht habe
und gegenwärtig zwar beruhigt, aber nicht geheilt sei, beantwortete diese
Frage wie folgt:
«Der Kläger ist in seinen gegenwärtigen Geisteszustand in der Lage, die
Bedeutung auch der Scheidung einer Ehe zu erkennen und zu beurteilen. Nur muss
gesagt werden, dass die Gründe, weswegen er eine Scheidung verlangt,
wahnhafter Art sind, und das es von seinem Standpunkt aus bedeutet, diese
Gründe seien zutreffend gewesen, wenn eine Scheidung ausgesprochen wird.»
Das Obergericht schloss aus dem Gutachten, der Kläger sei prozessfähig, sprach
am 13. Februar 1952 auf Grund von Art. 142 ZGB die Scheidung aus und ordnete
die Nebenfolgen.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die Berufung an das Bundesgericht erklärt
mit dein Antrag auf Abweisung der Klage... In der Berufungsantwort wird
Abweisung der Berufung, eventuell Rückweisung an die Vorinstanz beantragt.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung
1.- (Prozessuales).
2.- Das Recht, beim Zutreffen der gesetzlichen Voraussetzungen die Scheidung
zu verlangen, steht den Ehegatten um ihrer Persönlichkeit willen zu. Ein
entmündigter Ehegatte, der urteilsfähig ist, kann daher gemäss Art.

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19 Abs. 2 ZGB ohne Zustimmung des Vormunds auf Scheidung klagen. Ein
urteilsunfähiger Ehegatte kann dagegen gemäss Art. 18
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 18 - Wer nicht urteilsfähig ist, vermag unter Vorbehalt der gesetzlichen Ausnahmen durch seine Handlungen keine rechtliche Wirkung herbeizuführen.
ZGB die Scheidung nicht
wirksam verlangen. Der Vormund ist angesichts der höchstpersönlichen Natur des
in Frage stehenden Rechts nicht befugt, anstelle seines Mündels die Scheidung
zu betreiben, ob dieser urteilsfähig sei oder nicht. Die Scheidungsklage eines
Urteilsunfähigen ist demnach sowohl im Falle, dass er selber klagt, als auch
im Falle, dass sein Vormund es für ihn tut, als unwirksam zu betrachten (vgl.
BGE 68 II 145 ff., 77 II 9 ff.). Die vorliegende Scheidungsklage ist deshalb
nur dann materiell zu beurteilen, wenn der Kläger im Sinne von Art. 16
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 16 - Urteilsfähig im Sinne dieses Gesetzes ist jede Person, der nicht wegen ihres Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln.
ZGB als
urteilsfähig gelten kann, d. h. wenn ihm nicht aus einem der in Art. 16
angegebenen Gründe, namentlich etwa infolge von Geisteskrankheit, die
Fähigkeit mangelt, mit Bezug auf diese Angelegenheit (vgl. BGE 44 II 449)
vernunftgemäss zu handeln.
3.- In BGE 77 II 7 ff. ist entschieden worden, der Scheidungsbeklagte könne
unter Umständen selbständig Abweisung der Klage beantragen und gegebenenfalls
ein sie gutheissendes Urteil weiterziehen, auch wenn er in dieser Sache nur in
beschränktem Masse urteilsfähig sei (S. 12/13). Die Frage, wie es sich
verhalte, wenn ein nicht voll urteilsfähiger Gatte die Klage nicht bestreiten,
das sie gutheissende Urteil nicht anfechten oder gar selber klagen will, wurde
in jenem Entscheide offen gelassen, da sie sich damals nicht stellte. Es ist
jedoch klar, dass die Anforderungen an die Urteilsfähigkeit beim Ehegatten,
der die Scheidung verlangen will, nicht in gleicher Weise gemildert werden
dürfen wie bei demjenigen, der sich der vom andern Teils verlangten Scheidung
widersetzen will. Während der Entschluss, an der Ehe festzuhalten, schon dann
Berücksichtigung verdient, wenn der Beklagte ihn wegen seines nicht normalen
Geisteszustandes nur mangelhaft zu motivieren vermag, darf der Entschluss, die
Scheidung zu verlangen und damit den bestehenden Zustand

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zu ändern und eine grundsätzlich auf Lebenszeit eingegangene Gemeinschaft
aufzuheben, schon im Interesse des Klägers selber nur dann beachtet werden,
wenn dieser die volle Urteilsfähigkeit im Sinne von Art. 16
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 16 - Urteilsfähig im Sinne dieses Gesetzes ist jede Person, der nicht wegen ihres Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln.
ZGB besitzt.
4.- Aus der Feststellung des Experten, dass der Kläger in der Lage sei, die
Bedeutung der Scheidung einer Ehe (also die Bedeutung der Ehescheidung im
allgemeinen) zu erkennen und zu beurteilen, ergibt sich entgegen der
Auffassung der Vorinstanz noch keineswegs, dass er die zur Führung des
vorliegenden Prozesses nötige Urteilsfähigkeit besitze und daher in dieser
Beziehung trotz seiner Entmündigung prozessfähig sei. Hiezu wäre vielmehr
erforderlich, dass er imstande wäre, über die Frage der Scheidung seiner
eigenen Ehe, insbesondere auch über das Vorhandensein von Tatsachen, die sie
zu rechtfertigen vermögen, ein vernünftiges Urteil zu bilden und entsprechend
dieser Einsicht zu handeln. Diese Fähigkeit geht ihm nach dem vorliegenden
Gutachten (das entgegen der Darstellung der Vorinstanz nicht sagt, dem Kläger
sei die Prozessfähigkeit zuzuerkennen) unzweifelhaft ab. Wenn der Experte
feststellt, dass die Gründe, aus denen der Kläger die Scheidung verlangt,
wahnhafter Art seien, so heisst das nichts anderes, als dass er eben infolge
seiner Geisteskrankheit sich von seiner eigenen Ehe kein richtiges Bild machen
und nicht vernünftig darüber zu urteilen vermag, ob Gründe für eine Scheidung
vorhanden seien oder nicht. Ausführungen, die die Vorinstanz in anderm
Zusammenhang gemacht hat, lassen deutlich erkennen, dass sie das Gutachten
auch insoweit für schlüssig hält, als es die Vorstellungen des Klägers über
das Verhalten der Beklagten, die ihn zur Scheidungsklage bestimmten, als
wahnhaft bezeichnet. Die Vorinstanz hat sich also die Schlussfolgerungen des
Experten auch in diesem Punkte zu eigen gemacht. Wenn sie die Zeugen nicht
verhört hat, die der Kläger angerufen hatte, um nachzuweisen, dass seine
Beschuldigungen gegen die Beklagte nicht auf Wahnideen,

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sondern auf Tatsachen beruhen, so ohne Zweifel deswegen, weil sie annahm, dass
die Aussagen dieser Zeugen an den aus den übrigen Akten sich ergebenden
Schlüssen nichts ändern könnten. Darin liegt eine vorweggenommene
Beweiswürdigung, gegen die von Bundesrechts wegen nichts einzuwenden ist (vgl.
BGE 77 II 223). Dem Antrag auf Rückweisung zur Einvernahme jener Zeugen ist
daher nicht stattzugeben. Vielmehr ist als verbindlich festgestellt zu
betrachten, dass dem Scheidungsbegehren des Klägers Wahnideen zugrunde liegen.
Deswegen ist nach dem Gesagten seine Prozessfähigkeit zu verneinen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichtes des Kantons
Zürich vom 13. Februar 1952 aufgehoben und auf die Klage nicht eingetreten.