S. 376 / Nr. 64 Obligationenrecht (d)

BGE 78 II 376

64. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 18. November 1952 i. S.
Bosco A.G. gegen Keller.

Regeste:
Art. 400
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 400 - 1 Der Beauftragte ist schuldig, auf Verlangen jederzeit über seine Geschäftsführung Rechenschaft abzulegen und alles, was ihm infolge derselben aus irgendeinem Grunde zugekommen ist, zu erstatten.
1    Der Beauftragte ist schuldig, auf Verlangen jederzeit über seine Geschäftsführung Rechenschaft abzulegen und alles, was ihm infolge derselben aus irgendeinem Grunde zugekommen ist, zu erstatten.
2    Gelder, mit deren Ablieferung er sich im Rückstande befindet, hat er zu verzinsen.
OR.
Der Beauftragte ist nicht berechtigt, die Erstattung überlassener Unterlagen
von vorangehender Entlastung durch den Auftraggeber abhängig zu machen.

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Art. 400 CO.
Le mandataire n'est pas autorisé à subordonner la restitution des pièces
justificatives qui lui ont été confiées à la condition que le mandant lui
donne d'abord décharge de son mandat.
Art. 400 CO.
Il mandatario non è autorizzato a far dipendere la restituzione dei documenti
giustificativi affidatigli alla condizione che il mandante gli dia dapprima
scarico del suo mandato.

Tatbestand:
Im April 1950 wurde Charles Keller von der Bosco A.-G. mit der Besorgung der
Buchhaltung betraut. Nach Beendigung des Auftragsverhältnisses im Mai 1951
weigerte sich Keller, die überlassenen Unterlagen ohne vorherige Prüfung der
Buchführung und Décharge-Erteilung zu erstatten. Deswegen kam es zwischen den
Parteien zum Prozess, in welchem die Bosco A.-G. die Herausgabe sämtlicher
Bücher, Belege und Korrespondenzen verlangte.
Die Gerichte des Kantons Schwyz, das Kantonsgericht mit Urteil vom 7. Juli
1952, wiesen die Klage ab, unter Vorbehalt der parteierklärung des Beklagten,
er sei «bereit, die Geschäftsbücher, Geschäftsbelege, Korrespondenzen usw. an
die Klägerin herauszugeben, sofern diese ihm nach erfolgter Prüfung der
Buchhaltung und nach Richtigbefund Entlastung erteilt».
Auf Berufung der Klägerin hin wird vom Bundesgericht der angefochtene
Entscheid aufgehoben und die Klage geschützt.
Aus den Erwägungen:
2.- Die in der Sache anwendbaren Bestimmungen über den Auftrag (Art. 394 ff
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 394 - 1 Durch die Annahme eines Auftrages verpflichtet sich der Beauftragte, die ihm übertragenen Geschäfte oder Dienste vertragsgemäss zu besorgen.
1    Durch die Annahme eines Auftrages verpflichtet sich der Beauftragte, die ihm übertragenen Geschäfte oder Dienste vertragsgemäss zu besorgen.
2    Verträge über Arbeitsleistung, die keiner besondern Vertragsart dieses Gesetzes unterstellt sind, stehen unter den Vorschriften über den Auftrag.
3    Eine Vergütung ist zu leisten, wenn sie verabredet oder üblich ist.

OR) sehen eine Entlastung des Beauftragten nach Abschluss seiner Tätigkeit
nicht ausdrücklich vor. Trotzdem wird zumindest bei der Verwaltung fremden
Gutes angenommen, die Entlastung entspreche einem berechtigten Interesse des
Rechnungsführers, der allgemeinen Sitte und dem, was er nach Treu und Glauben
erwarten dürfe (DERNBURG, Bürgerliches

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Recht II/I S. 92 § 40, HOENIGER in der Deutschen Juristenzeitung Bd. 27 S. 146
vgl. VON TUHR, Allgemeiner Teil des Obligationenrechts, S. 572).
Vorliegend geht es offenbar nicht um die Verwaltung fremden Gutes, sondern
ausschliesslich um die Führung einer Buchhaltung. Aber wenn es sich noch
anders verhielte, so würde die Nichterteilung der Entlastung dem Beauftragten
kein retentionsähnliches Zurückbehaltungsrecht vermitteln. Zwar ist auch für
das schweizerische Recht grundsätzlich das sogenannte obligatorische
Retentionsrecht anzuerkennen, vermöge dessen ein Kontrahent selbst ausserhalb
des Geltungsbereiches des Art. 82
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 82 - Wer bei einem zweiseitigen Vertrage den andern zur Erfüllung anhalten will, muss entweder bereits erfüllt haben oder die Erfüllung anbieten, es sei denn, dass er nach dem Inhalte oder der Natur des Vertrages erst später zu erfüllen hat.
OR seine Leistung verweigern kann, bis ihm
die aus dem gleichen rechtlichen Verhältnis geschuldete Gegenleistung gewährt
wird (VON TUHR S. 468). Indessen lässt sich von Gegenleistung in diesem Sinne
bei der Entlastung nicht sprechen, da sie nicht Vertragsgegenstand ist,
sondern lediglich eine der Vertragslösung zum Schutz des gewesenen
Kontrahenten nachgehende Erklärung darstellt. Deshalb kann der Berechtigte
auch nicht Zugumzugleistung fordern, sondern erst hinterher auf Entlastung
klagen (HOENIGER a.a.O.).
Die Vorinstanz findet, jede andere als die von ihr befürwortete
Betrachtungsweise würde auf Seite des Beklagten zu Beweisschwierigkeiten
führen. Das allein genügt aber nicht, um ein Abweichen von der in Art. 400
Abs. 1
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 400 - 1 Der Beauftragte ist schuldig, auf Verlangen jederzeit über seine Geschäftsführung Rechenschaft abzulegen und alles, was ihm infolge derselben aus irgendeinem Grunde zugekommen ist, zu erstatten.
1    Der Beauftragte ist schuldig, auf Verlangen jederzeit über seine Geschäftsführung Rechenschaft abzulegen und alles, was ihm infolge derselben aus irgendeinem Grunde zugekommen ist, zu erstatten.
2    Gelder, mit deren Ablieferung er sich im Rückstande befindet, hat er zu verzinsen.
OR festgelegten Rückgabepflicht zu rechtfertigen. Selbst wo das Gesetz
eine DÉCHARGE-Erteilung eigens vorsieht, wie namentlich im Aktienrecht, kann
der Berechtigte nicht verhindern, dass die für die Entlastung zuständige
Stelle schon vor einem dahingehenden Beschluss über alle benötigten Unterlagen
verfügt. Hier wie dort ist demjenigen, der Anspruch auf Entlastung hat,
höchstens die Befugnis einzuräumen, unter besonderen Umständen, etwa im
Hinblick auf die Gefahr einer Veränderung massgeblicher Dokumente, um Erlass
einer provisorischen Verfügung nachzusuchen, wobei er gleichzeitig die dem

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Auftraggeber gehörenden Bücher oder Belege, die er als Beauftragter besitzt,
gerichtlich zu hinterlegen hätte.
Endlich hält auch die vorinstanzliche Auffassung nicht stand, die Pflicht des
Beauftragten zur Rechnungsablegung enthalte das «korrespondierende Recht»
darauf, wirklich Rechenschaft geben zu können. Denn im vorneherein hätte ein
solches Recht nur Bedeutung in bezug auf eine anschliessende Entlastung. Diese
aber vermag, wie dargelegt, keine Zurückhaltung zu begründen, weil eben jenes
von der Vorinstanz angenommene Recht, wenn es besteht, auch ohne sie
durchgesetzt werden kann.