S. 117 / Nr. 26 Strassenverkehr (d)

BGE 77 IV 117

26. Urteil des Kassationshofes vom 31. März 1951 i. S. Staatsanwaltschaft des
Kantons Luzern gegen Schiavini.

Regeste:
Art. 49 Abs. 2 und 3 MFV. Wie sind Motorfahrzeuge aufzustellen, dass sie den
Verkehr nicht stören können? Wann steht ein Motorfahrzeug an einer
Strassenkreuzung oder -einmündung?
Art. 49 al. 2 et 3 RA. Comment placer les véhicules automobiles pour qu'ils ne
gênent pas la circulation? Quand'in véhicule est-il arrêté à une croisée ou à
un débouché?
Art. 49 CP. 2 e 3 RLA. Come collocare gli autoveicoli affinchè non intralcino
la circolazione? Quando un veicolo sosta ad un inerocio o ad un imbocco della
strada?

A. - Am Nachmittag des 17. April 1950 liess Hamlet Schiavini in Luzern am
westlichen Rande der Robert-Zünd-Strasse unmittelbar südlich des
Fussgängerstreifens, der am Rande des Bahnhofplatzes die genannte Strasse vom
Bahnhof gegen das Kunsthaus hin überquert, ein Personenautomobil stehen, um
sein Postfach leeren zu gehen. An der östlichen Seite der Strasse und
ebenfalls unmittelbar südlich des Fussgängerstreifens waren zwei Lastwagen
parkiert. Zwischen ihnen und dem Wagen des Schiavini blieben 5,6 m frei. Auf
dem Bahnhofplatz befindet sich westlich der Einmündung der Robert-Zünd-Strasse
ein Parkplatz, der zu jener Zeit besetzt war. Südlich des Parkplatzes,
zwischen diesem und dem vor dem Bahnhof durch führenden Fussgängersteig,
bleibt Raum für die Durchfahrt. Der normale Verkehr auf dem Bahnhofplatz
wickelt sich jedoch nördlich des Parkplatzes ab, d. h. etwa 10 m vom
Fussgängersteig entfernt. Von dort

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her kam der von Westen in die Robert-Zünd-Strasse einbiegende Radfahrer
Günther Simeoni. Er stiess zwischen dem Fahrzeug des Schiavini und den östlich
davon parkierten Lastwagen, 3,4 m südlich des Fussgängerstreifens, mit einem
aus der Robert-Zünd-Strasse gegen den Bahnhofplatz fahrenden, von Jean
Schreier geführten Personenautomobil zusammen.
B. - Simeoni wurde bestraft. Gegen Schiavini stellte der Amtsstatthalter von
Luzern-Stadt den Antrag auf Bestrafung wegen Übertretung des Art. 49 MFV. Das
Amtsgericht Luzern-Stadt sprach indessen Schiavini am 25. Januar 1951 frei. Es
führte aus, der Umstand, dass der Beschuldigte seinen Wagen an der fraglichen
Stelle stehen liess, sei nicht geeignet gewesen, den öffentlichen Verkehr zu
stören; jedenfalls habe er den Verkehr nicht erheblich beeinträchtigen können.
Im Raum zwischen dem Fahrzeug des Beschuldigten und den beiden Lastwagen
hätten noch leicht zwei Automobile kreuzen können. Auch habe der Wagen des
Beschuldigten die Sicht nicht, jedenfalls nicht erheblich beeinträchtigt, wenn
berücksichtigt werde, dass die normale Fahrbahn des Bahnhofplatzes etwa 10 m
nördlich des Fussgängersteiges verlaufe. Simeoni habe die Rechtsbiegung viel
zu rasch befahren, und zwar «schief zur Fahrrichtung», wodurch er auf die
linke Seite der Robert-Zünd-Strasse geraten sei. Schiavini habe sein Fahrzeug
auch nicht im Sinne des Art. 49 Abs. 3 MFV an einer Strasseneinmündung
aufgestellt. Da die normale Fahrbahn des Bahnhofplatzes etwa 10 m nördlich des
Fussgängersteiges verlaufe, habe sich die eigentliche Strassenkreuzung geraume
Distanz von der Stelle entfernt befunden, wo der Wagen des Beschuldigten
stand. Dazu komme, dass damals bereits mit dem Aufstellen der Messestände
begonnen worden sei und daher auf dem Bahnhofplatz missliche
Verkehrsverhältnisse bestanden hätten. Überdies sei fraglich, ob Schiavini
sein Fahrzeug überhaupt «aufgestellt» habe, sei er doch bloss sein Postfach im
Bahnhof leeren gegangen.

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C. - Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern führt Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, das Urteil gegen Schiavini sei aufzuheben und die Sache zur
Verurteilung des Beschuldigten an das Amtsgericht zurückzuweisen.
Die Beschwerdeführerin macht geltend, es könne nichts darauf ankommen, dass
nördlich des Parkplatzes auf dem Bahnhofplatz sich eine Fahrbahn befinde und
ob der Verkehr dort dichter sei als auf der Fahrbahn südlich des Parkplatzes.
Der Beschuldigte habe seinen Wagen vor der Einmündung der letztgenannten
Fahrbahn aufgestellt und sei daher zu bestrafen. Die Bedeutung der
Nichtigkeitsbeschwerde liege darin, dass das Bestreben der
Motorfahrzeugführer, den Wagen möglichst nahe vor der Türe des Hauses, in das
sie sich begeben, aufzustellen, nicht richterlichen Schutz finden solle.
Schiavini hätte ein Parkfeld auf der östlichen Seite der Robert-Züud-Strasse
benützen können. Sodann werde durch Gutheissung der Nichtigkeitsbeschwerde dem
Amtsgericht Gelegenheit gegeben, einen Augenschein nachzuholen und die
Richtigkeit der Feststellungen zu überprüfen, die sich auf Art. 49 Abs. 2 MFV
bezögen. Auch möge der Kassationshof den Begriff des «Aufstellens» im Sinne
des Art. 49 Abs. 3 MFV umschreiben. Jedes Stehenlassen eines Motorfahrzeuges
zum Zwecke, Besorgungen vorzunehmen, die mit dem Betrieb des Motorfahrzeuges
selber nichts zu tun haben, müsse als Aufstellen betrachtet werden.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.- Nach Art. 49 Abs. 2 MFV sind Motorfahrzeuge so aufzustellen, dass sie den
Verkehr nicht stören können. Diese Bestimmung ist nicht dahin auszulegen, dass
Motorfahrzeuge überall dort nicht aufgestellt werden dürfen, wo sie den
Verkehr für die anderen Strassenbenützer irgendwie erschweren. Das Aufstellen
von Motorfahrzeugen ausserhalb der von der Behörde bezeichneten Parkplätze
wäre sonst in Städten unmöglich, denn jedes auf der Strasse stehende Fahrzeug
engt die Fahrbahn ein und

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behindert irgendwie die Sicht, sei es auch bloss für Fussgänger, die in der
Nähe des Fahrzeuges die Strasse betreten. Den Verkehr kann das aufgestellte
Fahrzeug nur «stören», wenn es für ihn ein erhebliches Hindernis bildet, das
trotz der den anderen Strassenbenützern zuzumutenden Aufmerksamkeit zu
Unfällen Anlass geben kann oder andere in besonderem Masse hindert, ihren Weg
fortzusetzen. Dass das Gesetz nicht kleinlich jede irgendwie geartete
Erschwerung des Verkehrs durch parkierte Fahrzeuge verbieten will, ergibt sich
auch aus der in Art. 49 Abs. 3 MFV enthaltenen beispielsweisen Aufzählung von
Stellen, an denen Motorfahrzeuge nicht aufgestellt werden dürfen.
Im vorliegenden Falle steht fest, dass der Radfahrer Simeoni, wenn er sich
pflichtgemäss verhalten hätte, ohne Gefährdung das Fahrzeug des Schreier hätte
kreuzen können, ja dass zwischen dem Wagen des Schiavini und den am Ostrande
der Robert-Zünd-Strasse stehenden Lastwagen sogar genügend Platz für das
Kreuzen zweier Motorwagen vorhanden war. In dieser Hinsicht hat also das
Fahrzeug des Beschwerdegegners den Verkehr nicht im Sinne des Art. 49 Abs. 2
MFV t stören können . Wie die Vorinstanz feststellt, hat es auch die Sicht von
der Robert-Zünd-Strasse in die Fahrbahn des Bahnhofplatzes nicht oder
jedenfalls nicht erheblich verschlechtert. Unter der Fahrbahn des
Bahnhofplatzes versteht das Amtsgericht den Weg, den die Fahrzeuge dort
normalerweise einschlagen, nämlich die Fahrbahn nördlich des Parkplatzes. Wie
es sich mit der Sicht in den südlich des Parkplatzes gelegenen Raum verhält,
sagt das Amtsgericht nicht. Darauf kommt es jedoch nicht entscheidend an, da
dem Benützer dieses Raumes, der nicht dem normalen Durchgangsverkehr dient,
erhöhte Aufmerksamkeit zugemutet werden darf, wenn er in die
Robert-Zünd-Strasse einmünden oder vor derselben durchfahren will. Da zwischen
dem Wagen des Beschwerdegegners und dem Bahnhofplatz der Fussgängerstreifen
lag, kann die Sicht in den Raum südlich

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des Parkplatzes nicht so ungebührlich erschwert worden sein, dass selbst
aufmerksame Strassenbenützer der Gefahr eines Unfalles ausgesetzt gewesen
wären. Der Beschwerdegegner hat somit Art. 49 Abs. 2 MFV nicht übertreten. ob
er sein Fahrzeug an einem anderen Orte hätte stehen lassen können und ob ihm
zuzumuten gewesen wäre, einige Schritte mehr zurückzulegen, um sein Postfach
zu leeren, ist unerheblich.
Da der Kassationshof an die tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichtes
gebunden ist (Art. 277bis Abs. 1 BStP), steht es ihm nicht zu, die
Nichtigkeitsbeschwerde gutzuheissen, um dem Amtsgericht zu ermöglichen, seine
Feststellungen mit Hilfe eines Augenscheins nochmals zu überprüfen; was in
tatsächlicher Beziehung festgestellt ist, hat vor dem Kassationshof als
richtig zu gelten.
2.- Nach Art. 49 Abs. 3 MFV dürfen Motorfahrzeuge unter anderem an
Strassenkreuzungen und -einmündungen nicht aufgestellt werden. Der Grund liegt
darin, dass sie dort die Sicht beeinträchtigen und das Einbiegen von der einen
in die andere Strasse erschweren.
Da das Fahrzeug des Beschwerdegegners über 10 m von der normalen Fahrbahn des
Bahnhofplatzes entfernt gestanden und die Sicht in diese nicht oder jedenfalls
nicht erheblich beeinträchtigt hat, kann nicht gesagt werden, der
Beschwerdegegner habe es an der Einmündung aufgestellt, wenn unter dieser das
Zusammentreffen der Robert-Zünd-Strasse mit der normalen (nördlichen) Fahrbahn
des Bahnhofplatzes verstanden wird. Eine andere Auffassung vertritt auch die
Beschwerdeführerin nicht. Sie macht bloss geltend, schon die Stelle, wo die
weniger benützte südliche Fahrbahn des Bahnhofplatzes mit der Robert-Zünd
-Strasse zusammentrifft, sei eine Einmündung und an dieser habe der
Beschwerdegegner sein Fahrzeug verbotenerweise aufgestellt. Allein der
Beschwerdegegner hat zwischen seinem Fahrzeug und dem erwähnten südlichen Raum
des Bahnhofplatzes den Fussgängerstreifen freigelassen. Wie bereits dargelegt
worden ist,

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genügte das, um andere Strassenbenützer, wenn sie die ihnen zuzumutende
Aufmerksamkeit anwendeten, nicht der Gefahr eines Unfalles auszusetzen. Unter
diesen Umständen kann nicht gesagt werden, das Fahrzeug habe «an» der
erwähnten Einmündung gestanden. Wann ein Fahrzeug an einer Einmündung steht,
lässt sich nicht ein für allemal gültig nach der Zahl der Meter und Zentimeter
bestimmen, die es von ihr trennen. Die örtlichen Verhältnisse und die
Verkehrsverhältnisse sind mitzuberücksichtigen. In einer breiten Strasse darf
ein Fahrzeug näher an eine Einmündung heran gestellt werden als in einer
schmalen, und von einer verkehrsreichen Einmündung hat es weiter abzustehen
als von einer verkehrsarmen. Der Beschwerdegegner hat den Verhältnissen
genügend Rechnung getragen, indem er sein Fahrzeug unmittelbar südlich des
Fussgängerstreifens stehen liess.
3.- Ob er sein Fahrzeug überhaupt im Sinne von Art. 49 Abs. 2 und 3 MFV
«aufgestellt» hat, da er es nur zur Leerung des Postfaches verliess und nach
10 bis 15 Minuten zurückkehrte, braucht nicht entschieden zu werden.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.