S. 262 / Nr. 56 Verfahren (d)

BGE 76 IV 262

56. Entscheid der Anklagekammer vom 16. Oktober 1950 i. S. Generalprokurator
des Kantons Bern gegen Procura pubblica sottocenerina.

Regeste:
Art. 350 Ziff. 1 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 350 - 1 Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
1    Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
2    Es ist zuständig für die Informationsvermittlung zwischen den Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen einerseits sowie den Nationalen Zentralbüros anderer Staaten und dem Generalsekretariat von INTERPOL andererseits.
StGB. Ob eine Tat mit schwerere: Strafe bedroht ist
als eine andere, beurteilt sich in erster Linie nach dem angedrohten
Höchstmass und erst in zweiter Linie nach der angedrohten Mindeststrafe.
Art. 350 ch. 1 al. 1 CP. Pour décider si une infraction est passible d'une
peine plus grave qu'une autre, il faut d'abord tenir compte du maximum légal
le minimum n'intervient qu'en second lieu.
Art. 350 cifra i cp. 1 CP. Per decidere quale di due reati è punibile con la
pena più grave occorre tener conto anzitutto del massimo legale il minimo
interviene solamente in secondo luogo.

A. - Am 31. März 1950 wurde Pierre Bienvenue bei der Staatsanwaltschaft in
Lugano angezeigt, der Luise Baumann in dieser Stadt am 23. März 1950 einen
Geldbeutel mit Fr. 35.- gestohlen zu haben. Später wurde Bienvenue im Kanton
Bern angezeigt wegen eines am 8. September 1950 in Bern verübten Diebstahls an
einem Fahrrad im Werte von Fr. 550.-, ferner wegen Radfahrens ohne Licht

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und endlich wegen eines in der Nacht vom 9./10. September 1950 in Kandersteg
verübten Raubversuches, den er aus eigenem Antrieb nicht zu Ende geführt habe.
B. - Am 30. September 1950 ersuchte der Generalprokurator des Kantons Bern die
Staatsanwaltschaft des Sottoeneri, zu der Gerichtsstandsfrage Stellung zu
nehmen. Er vertrat die Auffassung, dass Bienvenue im Kanton Tessin zu
verfolgen und zu beurteilen sei, weil Diebstahl mit schwererer Strafe bedroht
sei als Raubversuch und die erste Untersuchung im Kanton Tessin angehoben
worden sei.
Der Staatsanwalt des Sottoceneri antwortete am 4. Oktober 1950, dass die im
Kanton Tessin verübte Tat wegen des geringen Wertes der Sache nicht als
Diebstahl, sondern als Entwendung (Art. 138
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 138 - 1. Wer sich eine ihm anvertraute fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern,
1    Wer sich eine ihm anvertraute fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern,
2    Wer die Tat als Mitglied einer Behörde, als Beamter, Vormund, Beistand, berufsmässiger Vermögensverwalter oder bei Ausübung eines Berufes, Gewerbes oder Handelsgeschäftes, zu der er durch eine Behörde ermächtigt ist, begeht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe196 bestraft.
StGB) zu würdigen sei, so dass von
einer Bestrafung Umgang genommen werden könne; er verzichte deshalb auf die
Verfolgung des Bienvenue wegen dieser Tat.
C. - Mit Eingabe vom 7. Oktober 1950 beantragt der Generalprokurator des
Kantons Bern der Anklagekammer des Bundesgerichts, der Kanton Tessin sei zur
Verfolgung und Beurteilung des Bienvenue berechtigt und verpflichtet zu
erklären. Er hält unter Berufung auf BGE 75 IV 94 daran fest, dass Raubversuch
mit geringerer Strafe bedroht sei als Diebstahl, und macht weiter geltend,
dass Fr. 35.- keinen geringen Wert hätten und der Verzicht des Staatsanwaltes
des Sottoceneri auf die Strafverfolgung für die Gerichtsstandsbestimmung nach
Art. 350 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 350 - 1 Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
1    Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
2    Es ist zuständig für die Informationsvermittlung zwischen den Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen einerseits sowie den Nationalen Zentralbüros anderer Staaten und dem Generalsekretariat von INTERPOL andererseits.
StGB unerheblich sei.
Die Anklagekammer zieht in Erwägung:
Wird jemand wegen mehrerer, an verschiedenen Orten verübter strafbarer
Handlungen verfolgt, so sind die Behörden des Ortes, wo die mit der schwersten
Strafe bedrohte Tat verübt worden ist, auch für die Verfolgung und die
Beurteilung der andern Taten zuständig (Art. 350 Ziff. 1 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 350 - 1 Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
1    Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
2    Es ist zuständig für die Informationsvermittlung zwischen den Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen einerseits sowie den Nationalen Zentralbüros anderer Staaten und dem Generalsekretariat von INTERPOL andererseits.
StGB). Diese
Bestimmung will die Zuständigkeit der

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Behörden desjenigen Kantons begründen, in welchem das Schwergewicht der
strafbaren Tätigkeit des Beschuldigten liegt, bestimmt dieses Schwergewicht
aber nicht nach der Strafe, mit welcher der Täter für die einzelne Handlung
bei getrennter Beurteilung belegt werden müsste, oder nach dem Ausmass, in
welchem die einzelne Tat die verwirkte Gesamtstrafe beeinflusst, sondern nach
dem rein formalen Merkmal der auf die einzelne Tat angedrohten Strafe (BGE 69
IV 37
; 71 IV 165; 75 IV 95).
Die Schwere der angedrohten Strafe aber beurteilt sich in erster Linie nach
dem angedrohten Höchstmass. Nur wenn auf den Handlungen, deren Strafdrohung zu
vergleichen ist, die gleiche Höchststrafe steht, gibt die angedrohte
Mindeststrafe den Ausschlag. In diesem Sinne hat die Anklagekammer schon
wiederholt entschieden (z.B. am 19. Juli 1944 i. S. Bern gegen Luzern und
Solothurn). Daher ist im vorliegenden Falle der im Kanton Bern verübte
Raubversuch die mit der schwersten Strafe bedrohte Tat. Für dieses Verbrechen
beträgt die Höchststrafe zwanzig Jahre Zuchthaus (Art. 139 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 139 - 1. Wer jemandem eine fremde bewegliche Sache zur Aneignung wegnimmt, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
1    Wer jemandem eine fremde bewegliche Sache zur Aneignung wegnimmt, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
2    ...197
3    Der Dieb wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft, wenn er:
a  gewerbsmässig stiehlt;
b  den Diebstahl als Mitglied einer Bande ausführt, die sich zur fortgesetzten Verübung von Raub oder Diebstahl zusammengefunden hat;
c  zum Zweck des Diebstahls eine Schusswaffe oder eine andere gefährliche Waffe mit sich führt oder eine Explosion verursacht; oder
d  sonst wie durch die Art, wie er den Diebstahl begeht, seine besondere Gefährlichkeit offenbart.198
4    Der Diebstahl zum Nachteil eines Angehörigen oder Familiengenossen wird nur auf Antrag verfolgt.
, Art. 35
Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 35 - 1 Die Vollzugsbehörde bestimmt dem Verurteilten eine Zahlungsfrist von einem bis zu sechs Monaten.28 Sie kann Ratenzahlung anordnen und auf Gesuch die Fristen verlängern.
1    Die Vollzugsbehörde bestimmt dem Verurteilten eine Zahlungsfrist von einem bis zu sechs Monaten.28 Sie kann Ratenzahlung anordnen und auf Gesuch die Fristen verlängern.
2    Besteht der begründete Verdacht, dass der Verurteilte sich der Vollstreckung der Geldstrafe entziehen wird, so kann die Vollzugsbehörde die sofortige Bezahlung oder eine Sicherheitsleistung verlangen.
3    Bezahlt der Verurteilte die Geldstrafe nicht fristgemäss, so ordnet die Vollzugsbehörde die Betreibung an, wenn davon ein Ergebnis zu erwarten ist.
, Art. 21
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 21 - Wer bei Begehung der Tat nicht weiss und nicht wissen kann, dass er sich rechtswidrig verhält, handelt nicht schuldhaft. War der Irrtum vermeidbar, so mildert das Gericht die Strafe.
StGB); dass bloss ein Versuch vorliegt, und zwar ein solcher,
von dem der Täter aus eigenem Antrieb zurückgetreten ist, berechtigt den
Richter bloss, verpflichtet ihn nicht, von einer Bestrafung Umgang zu nehmen.
Auf Diebstahl anderseits steht nur eine Höchststrafe von fünf Jahren Zuchthaus
(Art. 137 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 137 - 1. Wer sich eine fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird, wenn nicht die besonderen Voraussetzungen der Artikel 138-140 zutreffen, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
1    Wer sich eine fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird, wenn nicht die besonderen Voraussetzungen der Artikel 138-140 zutreffen, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
2    Hat der Täter die Sache gefunden oder ist sie ihm ohne seinen Willen zugekommen,
StGB). Aus BGE 75 IV 94 kann der Kanton Bern nichts für sich
ableiten, da in dem dort beurteilten Falle das versuchte und das vollendete
Verbrechen mit der gleichen Höchststrafe bedroht waren.
Demnach erkennt die Anklagekammer:
Die Behörden des Kantons Bern werden berechtigt und verpflichtet erklärt,
Pierre Bienvenue für alle ihm zur Last gelegten strafbaren Handlungen zu
verfolgen und zu beurteilen.