S. 219 / Nr. 36 Erbrecht (d)

BGE 74 II 219

36. Urteil der II. Zivilabteilung vom 20. Oktober 1948 i. S. Stöckli gegen
Stöckli.


Seite: 219
Regeste:
Bäuerliches Erbrecht, Art. 621 Abs. 1 ZGB.
1. Im Prozesse um die Zuweisung müssen von Bundesrechts wegen auch alle nicht
Anspruch erhebenden Miterben zum Worte kommen; in welcher prozessualen Form,
ist Frage des kantonalen Prozessrechts.
2. Mangels eines Ortsgebrauchs hat die Behörde unter Berücksichtigung der
persönlichen Verhältnisse der Erben zu entscheiden: Umstände, die als solche
gewürdigt werden können.
Droit successoral paysan, art. 621 al. 1 CC.
1. En vertu de droit fédéral tous les cohéritiers doivent être entendus au
cours du procès sur l'attribution du domaine y compris ceux qui n'ont pas
demandé à l'exploiter. La procédure cantonale fixera les formes dans
lesquelles cette audition aura lieu.
2. A défaut d'un usage local, l'autorité devra statuer eu égard à la situation
personelle des héritiers; circonstances qui peuvent être prises en
considération à cet égard.
Diritto successorio rurale (art. 621 cp. 1 CC)
1. In virtù del diritto federale tutti i coeredi debbono essere uditi nel
corso del processo per l'attribuzione dell'azienda agricola, compresi quelli
che non l'hanno chiesta. La procedura cantonale stabilirà in quali forme avrà
luogo quest'audizione.
2. In mancanza d'un uso locale, l'autorità dovrà decidere tenendo conto della
situazione personale dogli eredi; circostanze che possono essere prese in
considerazione a questo riguardo.

Zum Nachlass des am 3. Februar 1946 verstorbenen Johann Martin Stöckli in
Tägerig gehört u. a. ein landwirtschaftliches Gewerbe im Halte von ca. 16 ½
Jucharten mit Vieh und Fahrhabe, dessen Ertragswert durch die zuständige
Instanz auf Fr. 37 860.­ geschätzt wurde. Die Erben Stöckli sind darüber
einig, dass das Gewerbe einem von ihnen zu diesem Werte zuzuteilen ist. Beide
Söhne erheben darauf Anspruch. Das Bezirksgericht Bremgarten hat es dem Kläger
Josef Stöckli (geb. 1903), das Obergericht dem Beklagten und Widerkläger
Martin Stöckli (geb. 1897) zugewiesen. Die vier Schwestern nahmen Partei für
Martin, während der Vertreter der minderjährigen Miterbin Renate Huber sich
auf die Seite des Klägers Josef stellte. Mit der vorliegenden Berufung hält
Josef Stöckli an seinem Klagebegehren auf Zuweisung des Heimwesens an

Seite: 220
ihn fest, die Beklagten beantragen die Bestätigung des angefochtenen Urteils.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. ­ Der Berufungskläger macht geltend, die kantonalen Instanzen hätten die
Widerklage des Martin Stöckli nicht anhandnehmen dürfen. In dieser seien die
Miterbinnen als Widerbeklagte ins Recht gefasst worden. Daraus, dass beide
Gerichte sie zu Unrecht trotzdem als Widerkläger behandelt hätten, folge
nicht, dass sich das obergerichtliche Urteil auch gegen die Miterbinnen
richten könne; vielmehr liege bezüglich des Widerklageanspruchs kein für alle
Beteiligten verbindlicher Entscheid vor.
Irgendeine Verletzung von Bundesrecht liegt jedoch darin nicht. Die Schwestern
der streitenden Brüder haben sich von Anfang an auf Seite des Martin gestellt.
Persönlich am Prozesse interessiert sind sie nicht. Sie mussten aber unter
allen Umständen an demselben beteiligt sein, da sie nicht zum voraus dem
Gericht die Erklärung abgegeben hatten, das zwischen den Brüdern ergehende
Urteil ohne weiteres gegen sich gelten lassen zu wollen. Ihre Beteiligung am
Prozess hätte in der Form erfolgen können, dass sie sich als
Nebenintervenientinnen dem Beklagten angeschlossen hätten, worauf dieser seine
Widerklage nur gegen den Kläger zu richten gehabt hätte. Mangels formellen
Anschlusses der Miterbinnen an den Beklagten handelte dieser richtig, sie als
Widerbeklagte anzuschreiben. Dadurch, dass die Schwestern die Widerklage
anerkannt haben, ist die Sache für sie erledigt. Wenn die kantonalen Instanzen
dieses Procedere für zulässig erachteten, ist jedenfalls von Bundesrechts
wegen dagegen nichts einzuwenden. Notwendig war vom materiellrechtlichen
Gesichtspunkt aus nur, dass alle Erben im Prozesse zum Worte kamen; in welcher
prozessualen Form es geschah, ist ohne Belang.
2. ­ In Ermangelung eines Ortsgebrauchs im Sinne von Art. 621 Abs. 1 ZGB hat
die Vorinstanz mit Recht das

Seite: 221
entscheidende Kriterium für die Zuteilung in den «persönlichen Verhältnissen»
der beiden Ansprecher gesucht. In Würdigung dieser Verhältnisse stellt sie auf
Grund des durchgeführten Beweisverfahrens fest, dass beide Brüder schon bisher
in der Landwirtschaft und beide zur Hauptsache auf dem väterlichen Heimwesen
tätig waren und sich in gleicher Weise für die Übernahme desselben eignen. Der
Kläger betätigt sich nebenbei in einem Kieswerk, der Beklagte als Förster und
Bannwart. Für die Zuteilung an den letztern war für die Vorinstanz
ausschlaggebend, dass diese Lösung eher dem Wunsche des Erblassers, sicher
aber den Wünschen der Mehrzahl der Erben entspreche, und dass der Kläger mit
seinem unbeherrschten, gewalttätigen Charakter den Schwestern die Rückkehr auf
das väterliche Heimwesen verunmöglichen würde; auch müsse angenommen werden,
dass seine Grobheit sich in brutaler Behandlung des Viehs geäussert habe.
Der Berufungskläger behauptet, die Annahme gleicher Eignung beider Bewerber
zur Übernahme des Gewerbes widerspreche den Akten, und die Vorinstanz habe bei
Prüfung dieser Frage entscheidende Faktoren ausser Acht gelassen.
a) Als aktenwidrig (bezw. als offensichtlich auf Versehen beruhend, Art. 63
Abs. 2 , 55 Abs. 1 lit. b rev. OG) sucht der Kläger die Annahme gleicher
Eignung beider Ansprecher mit dem Hinwels auf einzelne Bemerkungen von Zeugen
nachzuweisen. Allein abgesehen davon, dass mit vereinzelten Zeugenaussagen,
denen gegenteilig lautende gegenüberstehen, eine einheitliche Beweiswürdigung
nicht umgestürzt werden kann, ist schwer einzusehen, wie ein kleines Heimwesen
von ca. 16 ½ Jucharten durch einen Mann, der immer als Landwirt tätig war und
als solcher anerkannt ist, nicht sollte geführt werden können. Vor allem lässt
sich diese Annahme nicht einfach mit dem Hinweis auf das Zeugnis des Traugott
Huber begründen, der namens seiner minderjährigen Tochter für den Kläger
Partei ergriffen hat und dessen Aussagen die Vorinstanz

Seite: 222
nicht berücksichtigt. Ebensowenig schliesst der Gesundheitszustand des
Beklagten, auch wenn dieser weniger robuster Natur ist als der Kläger und
zeitweilig Aushilfe nötig haben sollte, die Zuteilung an den erstern aus, da
nicht im Ernste bestritten werden kann, dass seine physische
Leistungsfähigkeit zur ordentlichen Führung des Betriebes genügt. Aber selbst
wenn in dieser Beziehung die Eignung des Klägers besser ist, kann daraus nicht
notwendigerweise die Zuteilung an ihn gefolgert werden. Das Gesetz verlangt
lediglich genügende Eignung; eine besonders qualifizierte Eignung eines
Ansprechers gibt diesem nicht ohne weiteres den Vorzug vor allen andern
ebenfalls genügend geeigneten Bewerbern, sondern kann lediglich als besonderer
Umstand neben andern Verhältnissen in die Wagschale fallen.
b) Unter diesem Titel verweist der Kläger gegenüber dem angefochtenen
Entscheid sodann darauf, dass er sich früher habe selbständig machen wollen,
dann aber auf dem väterlichen Heimwesen geblieben sei, weil der Vater ihn als
Mitarbeiter nicht habe entbehren können. Eine solche Rücksicht des Sohnes auf
väterliche Wünsche und der daherige Verzicht auf Begründung einer eigenen
wirtschaftlichen Existenz ist eine Tatsache, die zweifellos Beachtung
verdient; aber auch sie ist nicht schlechthin ausschlaggebend, sondern neben
andern Umständen abzuwägen. Übrigens wünschte der Kläger für seine
Selbständigmachung die Hilfe des Vaters, sodass dessen Ablehnung ihren Grund
auch in der Verweigerung solcher Hilfe haben konnte.
c) Diese Aktivposten des Klägers werden nach der Auffassung der Vorinstanz nun
aber durch charakterliche Mängel aufgewogen, nämlich sein jähzorniges, leicht
zu Tätlichkeiten neigendes, gegen Mensch und Tier grobes Wesen, mit dem er als
Herr des Hofes den übrigen Geschwistern das Betreten desselben vergällen,
namentlich der ledigen Schwester Marie das Leben darauf verunmöglichen würde,
während dies beim Bruder Martin nicht der

Seite: 223
Fall sein wird. Diese rein persönlichen Gesichtspunkte der Geschwister dürfen
von der Behörde auch in Berücksichtigung gezogen werden. Wenn sie schon das
Heimwesen einem Bruder zum Vorzugspreise überlassen müssen, darf mangels
anderer entscheidender Kriterien billigerweise bei der Zuteilung darauf
gesehen werden, dass die übrigen Geschwister und die Familiengemeinschaft
durch die Änderung so wenig als möglich benachteiligt werden. Dass aber der
Kläger sich zeitweilig recht brutal benommen hat, steht nach der
Tatsachenwürdigung des Obergerichts für das Bundesgericht verbindlich fest.
Selbst wenn ihm Mutter und Schwester gelegentlich Grund zu Unzufriedenheit
gegeben haben sollten, so durfte er als Sohn und Bruder nicht in
unbeherrschter Weise reagieren oder gar seine Wut an Sachen und am Vieh
auslassen, wenn er sich nicht dem Vorwurf der Gewalttätigkeit aussetzen
wollte. Auf Grund der Feststellungen der Vorinstanz muss auch angenommen
werden, dass nicht nur die Geschwister, sondern auch der Vater das Heimwesen
dem Beklagten zuhalten wollten, welcher Wunsch die Behörde in ihrer Würdigung
der übrigen Umstände zu bestärken geeignet war. Sie hätte schliesslich zu
Gunsten des Beklagten auch anführen können, dass dieser einen Sohn hat, der
als späterer Übernehmer des Heimwesens in Betracht kommt, während das
bezüglich der Töchter des Klägers weniger der Fall ist.
Zusammenfassend ist also zu sagen, dass es sich im wesentlichen um eine
Würdigung des Beweisergebnisses und um die Handhabung richterlichen Ermessens
handelt. Soweit das materielle Recht (Art. 620 ff . ZGB) auszulegen und
anzuwenden war, ist die Vorinstanz von den richtigen Rechtsbegriffen und
Gesichtspunkten ausgegangen; von einer Gesetzesverletzung kann keine Rede
sein. Auf das Ermessen des kantonalen Richters einzugehen und dieses durch
eigenes Ermessen zu ersetzen, besteht für das Bundesgericht umso weniger
Anlass, als die Erwägungen des Obergerichts durchaus einleuchten.
Erweist sich somit die Berufung zweifellos als

Seite: 224
unbegründet, ist sie gemäss Art. 60 Abs. 2 OG ohne öffentliche Beratung zu
erledigen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau vom 14. Mai 1948 bestätigt.