S. 50 / Nr. 13 Verfahren (d)

BGE 74 I 50

13. Auszug aus dem Urteil vom 5. Februar 1948 i. S. Staat Aargau gegen
Gebrüder Wächter.

Regeste:
Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde
Wenn sich der Staat als Korporation auf den Boden des Privatrechts begibt und
andern Rechtssubjekten als gleichgeordnete Partei gegenübertritt, so ist er
berechtigt, Urteile seines eigenen Obergerichtes anzufechten.
Qualité pour former un recours de droit public.
Lorsque l'Etat comme collectivité se place sur le terrain du droit privé et
qu'il entre en rapport avec d'autres sujets de droit sur un pied d'égalité, il
est recevable à attaquer les jugements de ses propres tribunaux.
Veste per interporre un ricorso di diritto pubblico
Quando lo Stato come ente collettivo si mette sul terreno del diritto privato
ed entra in relazione con altri soggetti giuridici su un piede d'uguaglianza,
ha veste per impugnare le sentenze dei suoi tribunali.

Aus dem Tatbestande:
Die Rekursbeklagten sind Inhaber eines ehehaften Wasserwerkes an der Wigger,
für das sie keine

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Wasserrechtszinsen zu entrichten haben. Nach Messungen und Schätzungen eines
durch den Regierungsrat bestellten Experten, die im Jahre 1857 vorgenommen
wurden, anerkannte der Staat eine mittlere Bruttowasserkraft von 28,15 PS als
ehehaft. Als die Rekursbeklagten im Jahre 1929, ohne den Oberwasserkanal zu
verändern, 2 Wasserräder durch ein neues Wasserrad und eine Turbine ersetzten,
nahm der kantonale Wasserrechtsingenieur an, die mittlere Leistungsfähigkeit
der Werkes habe sich um 6,65 PS erhöht. Gestützt hierauf verlangte der
Regierungsrat «für die zusätzlich genutzte Wasserkraft von 6,65 PS» einen
jährlichen Wasserrechtszins von Fr. 42.­. Die Rekursbeklagten erhoben
Einsprache mit der Begründung, dass ihr ehehaftes Wasserrecht die gesamte
durch den Oberwasserkanal zufliessende Wassermenge umfasse. Der Regierungsrat
wies ihr Begehren ab, stellte aber fest, dass er zur streitigen Frage nur als
Partei Stellung nehmen könne, da der privatrechtliche Charakter der ehehaften
Wasserrechte zur Folge habe, dass sie im Falle ihrer angeblichen Verletzung
auf gleiche Weise wie jedes andere Privatrecht auf dem Zivilwege geltend zu
machen seien.
Hierauf reichten die Rekursbeklagten am 12. Mai 1942 beim Bezirksgericht Aarau
eine Klage gegen den Staat Aargau ein, worin sie die gerichtliche Feststellung
verlangten, dass der Staat zu Unrecht «für angeblich zusätzliche
Wasserbenutzung» Wasserrechtszinsen von ihnen erhebe. Das Bezirksgericht Aarau
und das Obergericht des Kantons Aargau hiessen die Klage gut.
Mit staatsrechtlichem Rekurs ersucht der Staat Aargau, das Urteil wegen
Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV aufzuheben. Die Rekursbeklagten beantragen, auf die
Beschwerde nicht einzutreten, ev. diese abzuweisen. Sie machen u. a. geltend,
der Rekurrent rufe das Bundesgericht an, um Wasserrechtszinsen zu erhalten.
Der staatsrechtliche Rekurs könne aber nicht ohne Entartung den fiskalischen
Interessen des Gemeinwesens dienstbar gemacht werden.

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Aus den Erwägungen:
Dem Rekurrenten kann die Legitimation zum vorliegenden staatsrechtlichen
Rekurse nicht abgesprochen werden. Als Inhaber der öffentlichen Gewalt ist
zwar der Staat zum staatsrechtlichen Rekurse nicht legitimiert; denn dieser
Rechtsbehelf ist nach seiner Umschreibung in Verfassung und
Organisationsgesetz bestimmt zum Schutze des Einzelnen, einer physischen oder
juristischen Person, gegen Übergriffe der öffentlichen Gewalt und kann daher
nicht dazu benutzt werden, um umgekehrt Entscheidungen anzufechten, die gegen
den Staat als Träger dieser Gewalt ergangen sind (BGE 48 I S. 108; 60 I S.
231; 66 I S. 74, 261 f.; 72 I S. 21; BIRCHMEIER, Handbuch des Bundesgesetzes
über die Organisation der Bundesrechtspflege, Art. 88, B 5 c, S. 364). Dagegen
muss dem Staate die verfassungsrechtliche Parteifähigkeit dann zuerkannt
werden, wenn er sich als Korporation auf den Boden des Privatrechts begibt und
im gewöhnlichen Rechtsverkehr andern Rechtssubjekten als gleichgeordnete
Partei gegenübertritt (Urteil des Bundesgerichts i. S. Politische Gemeinde
Jona vom 30. April 1945, S. 6; BIRCHMEIER, 1. c., Art. 88, B 5, S. 362;
KIRCHHOFER, Über die Legitimation zum staatsrechtlichen Rekurs, in ZSR n. F.
55 S. 176). In einem solchen Falle kann ein Kanton auch das Urteil seines
eigenen Obergerichts anfechten; er beschwert sich damit nicht über sich
selbst; denn das Gericht ist Organ des Staates als der obersten
Rechtsgemeinschaft, nicht aber des Staates als Privatrechtssubjekt (KIRCHHOFER
in SJZ Bd. 30 S. 240). Im vorliegenden Prozesse ist aber der Rekurrent den
Rekursbeklagten auf dem Boden des Privatrechts als gleichgeordnete Partei
gegenübergetreten. Wohl ging das Klagebegehren der Rekursbeklagten auf
Feststellung, dass der Rekurrent von ihnen keine Konzessionsgebühren (recte:
Wasserrechtszinse) für die angeblich in ihrem ehehaften Wasserwerk zusätzlich
benützte Wasserkraft

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verlangen dürfe, also auf Feststellung, dass eine öffentlichrechtliche Abgabe
nicht geschuldet werde. Doch die Parteien waren darüber einig, dass die
Entscheidung dieser Frage ausschliesslich von der Umschreibung des ehehaften
Wasserrechts der Rekursbeklagten abhängig sei und dass nach aargauischem Recht
ein ehehaftes Wasserrecht dem Privatrecht angehöre, also ein Rechtsverhältnis
darstelle, bei dem sich Staat und Wasserwerkbesitzer als gleichgeordnete
Rechtssubjekte gegenübertreten. Auf den Rekurs ist daher einzutreten.