S. 110 / Nr. 26 Stimmrecht, kantonale Wahlen und Abstimmungen (d)

BGE 74 I 110

26. Auszug aus dem Urteil vom 13, Mai 1948 i. S. Schenker gegen Kantonsrat des
Kantons Solothurn.

Regeste:
1. Art. 88 OG. Jeder Stimmberechtigte ist legitimiert, sieh darüber zu
beschweren, dass ein Erlass, der nach der kantonalen Verfassung der
Volksabstimmung unterliegt, dieser entzogen worden ist (Erw. 1).
2. Art. 67 Abs. 2 der solothurnischen KV. Darf die gesetzgebende Gewalt die
Rechtsetzungsbefugnis delegieren? Schliesst eine Verfassungsbestimmung, die
für die Regelung einer Materie den Weg der Gesetzgebung vorschreibt, die
Delegation aus? (Erw. 2 und 3).
3. Art. 17 Ziff. I und 2 der solothurnischen KV. Dem Finanzreferendum sind nur
Aufwendungen unterstellt, die vom Kantonsrat ohne gesetzliche Ermächtigung
beschlossen werden. Prüfungsbefugnis des Bundesgerichtes, wenn eine Verletzung
der in die Form des Gesetzes gekleideten Delegationsnorm geltend gemacht wird
(Erw. 4 und 5).
1. Art. 88 OJ. Tout électeur a qualité pour se plaindre de ce qu'un acte
législatif qui, d'après la constitution cantonale, est soumis à la votation
populaire, y est soustrait (consid. 1).
2. Art. 67 al. 2 de 1a Cst. soleuroise. Le pouvoir législatif peut-il déléguer
son droit de légiférer? Une disposition constitutionnelle qui prévoit que
certaines matières seront régies par la loi s'oppose-t-elle à la délégation?
(consid. 2 et 3).

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3. Art. 17 ch. I et 2 de la Cst. soleuroise. Ne sont soumises au referendum
que les dépenses que le Grand Conseil décide sans y être autorisé par une loi.
Pouvoir de contrôle du Tribunal fédéral lorsque le recourant relève la
violation d'une règle de délégation édictée en la forme d'une loi (consid. 4
et 6).
1. Art. 88 OGF. Ogni elettore ha veste per insorgere contro la mancanza della
clausola referendaria in un atto legislativo che, giusta la costituzione
cantonale, soggiace alla votazione popolare (consid. 1).
2. Art. 67 cp. 2 della costituzione solettese. Il potere legislativo può
delegare il suo diritto di legiferare 7 Una norma costituzionale, che prevede
che certe materie siano disciplinate dalla legge, si oppone alla delegazione ~
(consid. 2 e 3).
3. Art. 17, cifre I e 2 della costituzione solettese. Sono soggette al
referendum soltanto le spese che il Gran Consiglio decide senz'esserne
autorizzato da una legge. Sindacato del Tribunale federale, allorche il
ricorrente invoca la violazione d'una norma di delegazione promulgata in forma
di logge (consid. 4 e 6).

A. ­ Die Verfassung des Kantons Solothurn (KV) enthält in den Art. 17 und 67
folgende Bestimmungen:
Art. 17 «Der Volksabstimmung unterliegen folgende Erlasse des Kantonsrates:
1) Alle Verfassungsänderungen, Gesetze und deren authentische Interpretation,
sowie Staatsverträge gesetzgeberischer Natur;
2) Kantonsratsbeschlüsse, welche für den gleichen Gegenstand eine neue
einmalige Gesamtausgabe von mehr als 100,000.­ Franken oder eine neue jährlich
wiederkehrende Ausgabe von mehr als 16,000.­ Franken zur Folge haben;
3)...... 4)......»
Art. 67 Abs. 2: «Die Besoldung der Staatsbeamten, mit Ausnahme derjenigen der
Kantonalbank, wird durch die Gesetzgebung bestimmt, unter Berücksichtigung der
Grösse, der Verantwortlichkeit und Dienstleistung der Beamten o.
Am 23. November 1941 wurde vom solothurnischen Volke ein Gesetz über das
Staatspersonal (StPG) angenommen, dessen § 46 folgendermassen lautet:
«Bei Schwankungen der Lebenshaltungskosten von mindestens 10 % gegenüber dem
Stande bei Annahme dieses Gesetzes ist der Kantonsrat ermächtigt, einen
Lohnabbau oder Teuerungszulagen zu beschliessen. Er hat dabei den
Familienverhältnissen besonders Rechnung zu tragen».

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B. - Am 29. November 1947 beschloss der Kantonsrat des Kantons Solothurn die
Ausrichtung von Teuerungszulagen an das Staatspersonal für das Jahr 1948.
C. - Mit staatsrechtlichem Rekurs vom 27. Dezember 1947 stellt Eduard
Schenker, Kaufmann in Schönenwerd, den Antrag: «Es sei ... der Beschluss des
Kantonsrates des Kantons Solothurn vom 29. November 1947 betr.
Teuerungszulagen an das Staatspersonal als willkürlich, verfassungs- und
gesetzesverletzend aufzuheben». Zur Begründung dieses Antrages wird u.a.
ausgeführt:
Da die Teuerungszulagen für den Kanton Solothurn eine jährliche Gesamtausgabe
von weit über Fr. 100,000.­ mit sich bringen (für 1948 im Minimum Fr.
3,870,985.­), so verstosse § 46 StPG gegen Art. 17 Ziff. 2 KV. § 46 StPG
verletze aber auch den Art. 67 KV. Dieser stelle den Grundsatz auf, dass die
Besoldung der Staatsbeamten durch die Gesetzgebung bestimmt werde, womit
gesagt sei, dass alle im Gesetz niedergelegten Besoldungsansätze nur durch
Gesetzesrevision geändert werden dürfen und eine Kompetenzdelegation
unzulässig sei.
D. - Der Regierungsrat des Kantons Solothurn beantragt die Abweisung des
Rekurses und führt zur Begründung dieses Antrages u.a. aus:
a) Das in Art. 17 Ziff. 2 KV vorgesehene Finanzreferendum greife
vernünftigerweise nur dort Platz, wo das Volk nicht schon in anderer Weise
implicite über Ausgaben entschieden habe. Ob eine Ausgabe gemacht werden solle
oder nicht, könne von der Beantwortung durch das Volk nur abhängig gemacht
werden, wenn und solange die Möglichkeit bestehe, diese Ausgabe noch zu
unterlassen. Das dem obligatorischen Gesetzesreferendum unterstellte Gesetz
über das Staatspersonal (StPG) habe aber in § 46 die Ausrichtung von
Teuerungszulagen an das Staatspersonal rechtlich präjudiziert, wobei
allerdings dem Kantonsrat ein gewisses freies Ermessen eingeräumt worden sei.
Dem Bürger könne daher ein zweiter, möglicherweise mit dem ersten in
Widerspruch stehender

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Entscheid über diese von ihm bereits genehmigte Vorlage nicht mehr zustehen.
Bedeutungslos sei, dass bei Erlass des § 46 StPG dessen finanzielle
Konsequenzen nicht zahlenmässig bekannt gewesen seien. Bei den wenigsten
Gesetzen lasse sich diese Konsequenz genau und dauernd errechnen. Ein
Rahmengesetz sei sicherlich nicht verfassungswidrig, sondern oft einzig
geeignet, den wechselnden Verhältnissen Rechnung zu tragen. § 46 StPG hätte
überhaupt keinen Sinn, wenn er nicht dem Kantonsrat die Kompetenz gegeben
hätte, über seine ordentliche verfassungsmässige Kompetenz hinauszugehen.
b) Völlig unbegründet sei die vom Rekurrenten aufgestellte Behauptung, dass §
46 StPG auch den Art. 67 KV verletze. Das Gesetz über das Staatspersonal habe
die Besoldungsansätze gesetzlich festgelegt und zu diesem Zwecke in § 40
Besoldungsklassen aufgestellt, in welche der Kantonsrat die Ämter eingereiht
habe. Die Ausrichtung von Teuerungszulagen ändere an diesen Besoldungen
grundsätzlich nichts, sondern passe sie nur an die bestehende Teuerung an. Das
Recht auf Gewährung von Teuerungzulagen entspreche einer allgemeinen
schweizerischen Rechtsauffassung. Die Ausrichtung erfolge in vielen Fällen
sogar ohne eine ausdrückliche Ermächtigung.
Aus den Erwägungen:
1. ­ Der Rekurrent verlangt mit dem vorliegenden Rekurse, dass der
Kantonsratsbeschluss vom 29. November 1947 betreffend a Teuerungszulagen an
das Staatspersonal für das Jahr 1948» aufgehoben werde, da dieser Beschluss in
Missachtung der Rechte erlassen worden sei, die gemäss Art. 17 Ziff. 1 und 2
und Art. 67 Abs. 2 KV dem Volke beim Erlass der Gesetze und bei Festsetzung
gewisser Staatsausgaben zustehen. Die Legitimation zu diesem Rekurse kann dem
Rekurrenten als stimmberechtigtem Einwohner des Kantons Solothurn nicht
abgesprochen werden; denn nach der bundesgerichtlichen Praxis ist jeder
Stimmberechtigte legitimiert, sich darüber zu

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beschweren, dass ein Erlass, der nach der kantonalen Verfassung der
Volksabstimmung unterliegt, dieser entzogen worden ist (BGE 71 I S. 311 f und
dort zitierte frühere Entscheide).
2.- Nach der in der Doktrin herrschenden Auffassung, der sich die
bundesgerichtliche Praxis von jeher angeschlossen hat, steht es der
gesetzgebenden Gewalt ­ sofern ihr dies nicht etwa ausdrücklich durch eine
Verfassungsbestimmung untersagt ist ­ frei, die Befugnis zur Rechtsetzung,
wenn auch nicht allgemein, so doch für eine bestimmte Materie, an ein anderes
Staatsorgan weiterzugeben (zu «delegieren») und dieses zu ermächtigen, durch
Rechtsverordnung an Stelle des Gesetzgebers Recht zu schaffen (BGE 32 I 112;
41 I 502; 48 I 542, 67 I 27; die in BGE 32 I 112 zitierte Literatur; RUCK,
Schweiz. Verwaltungsrecht, 2. Auflage S. 62; teilweise abweichend: GIACOMETTI,
Das Staatsrecht der Schweizerischen Kantone, S. 492 ff.).
3.- Die solothurnische Kantonsverfassung enthält keine Vorschrift, die die
Überweisung der laut Art. 17 Ziff. 1 und Art. 31 Ziff. 1 KV dem Volk in
Verbindung mit dem Kantonsrat zustehenden Gesetzgebungskompetenz an ein
anderes Staatsorgan oder ­ was gleichbedeutend ist ­ an den Kantonsrat unter
Ausschluss der in Art. 17 Ziff. 1 KV vorgesehenen Mitwirkung des Volkes
verbieten würde. Für die Festsetzung der Beamtenbesoldungen lässt sich ein
solches Verbot auch nicht, wie der Rekurrent annimmt, aus Art. 67 Abs. 2 KV
ableiten. Bei der Auslegung kantonaler Verfassungsvorschriften, die für die
Regelung einer Materie den Weg der «Gesetzgebung» vorsehen, muss das Wort
«Gesetz» nicht notwendig im formellen (engern) Sinne verstanden werden,
sondern darf ­ sofern nicht sichere Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die
Vorschrift das Gebiet des Gesetzes von demjenigen der Verordnung abgrenzen
will ­ im materiellen (weitern) Sinne genommen werden. Danach ist es
gleichbedeutend mit Rechtsnorm, d. h. es umfasst

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jeden von einem staatsrechtlich dazu zuständigen Organ erlassenen allgemein
verbindlichen Rechtssatz ­ im Gegensatz zu einer blossen obrigkeitlichen
Anweisung oder einer Anordnung im Einzelfall ­ (RÜEGG, Die Verordnung nach
zürcherischem Staatsrecht, S. 111 ff.; BGE 67 I 27; nicht publizierter
Entscheid des Bundesgerichtes i. S. Schönenberger vom 27. Oktober 1939, S.
12/13), wie dies das Bundesgericht für den in verschiedenen
Kantonsverfassungen aufgestellten Grundsatz «nulla poena sine lege» immer
angenommen hat (BGE 57 I 273 f mit Zitaten; nicht publizierter Entscheid des
Bundesgerichts i. S. Fischer vom 26. Februar 1937, S. 12). Es fehlt nun aber
jeder Anhaltspunkt dafür, dass Art. 67 Abs. 2 der solothurnischen KV unter
«Gesetz» nur das Gesetz im formellen (engern) Sinne versteht. Das
Bundesgericht hat es denn auch als zulässig erklärt, dass bei der Auslegung
von Art. 62 Abs. 1 der solothurnischen KV, welcher «Bestimmungen über direkte
Besteuerung und indirekte Abgaben» als «Sache der Gesetzgebung» bezeichnet,
der Ausdruck «Gesetz» einfach «im Sinne des Rechtssatzes, der von einer
staatsrechtlich dazu zuständigen Behörde erlassenen, allgemein verbindlichen
Norm, im Gegensatz zu blossen obrigkeitlichen Anweisungen und Verfügungen im
Einzelfall» verstanden wird (nicht publizierte Entscheide des Bundesgerichts
i. S. Bachtler vom 16. September 1938, S. 16 und i. S. Gertsch vom 19. Februar
1943, S. 7). Dem Worte «Gesetzgebung» in Art. 67 Abs. 2 KV kann aber keine
andere Bedeutung zukommen als dem Worte «Gesetzgebung» in Art. 62 Abs. 1 KV.
4.- Das der Volksabstimmung unterstellte, solothurnische Gesetz über das
Staatspersonal vom 23. November 1941 (StPG) hat daher dadurch, dass es in § 46
den Kantonsrat ermächtigte, bei Schwankungen der Lebenshaltungskosten von
mindestens 10 % gegenüber dem Stand bei Annahme des Gesetzes einen Lohnabbau
oder Teuerungszulagen zu beschliessen und hiebei den Familienverhältnissen
besonders Rechnung zu tragen, die in Art.

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17 Ziff. 1 KV enthaltene Vorschrift über die Mitwirkung des Volkes bei Erlass
von Gesetzen nicht verletzt. Lässt sich aber diese Ermächtigung nicht
beanstanden, so besitzt ein in deren Rahmen erlassener Kantonsratsbeschluss
die gleiche verbindliche Kraft wie ein Gesetz im formellen (engern) Sinne.
Hieraus ergibt sich dann notwendig, dass ein solcher Kantonsratsbeschluss,
auch wenn er eine einmalige Gesamtausgabe von mehr als Fr. 100,000.­ oder eine
jährlich wiederkehrende Ausgabe von mehr als Fr. 15,000.­ zur Folge hat, nicht
gemäss Art. 17 Ziff. 2 KV dem Finanzreferendum untersteht. Wie das
Bundesgericht bereits entschieden hat, lässt sich schon daraus, dass diese
Verfassungsvorschrift ­ wie auch Art. 31 Ziff. 5 der zürcherischen KV ­
lediglich von «neuen» Ausgaben spricht, folgern, dass dem Finanzreferendum nur
solche Aufwendungen unterstellt sind, die vom Kantonsrat ohne gesetzliche
Ermächtigung dekretiert werden; denn nur in diesem Falle hat man es mit einer
Ausgabe für einen neuen Zweck zu tun, während bei den aus der Ausführung eines
Gesetzes entstehenden Auslagen diese schon durch das Gesetz selbst
sanktioniert sind. Auch in den vom Bundesgericht früher beurteilten Fällen
handelte es sich nicht um gesetzliche Bestimmungen, aus denen sich die
betreffende Ausgabe nach Bestand und Höhe notwendig als automatische Folge
ergeben hätte, sondern ­ ganz ähnlich wie bei dem heute in Frage stehenden §
46 des solothurnischen Gesetzes über das Staatspersonal vom 23. November 1941
­ lediglich um die in einem Gesetze enthaltene Ermächtigung an die oberste
kantonale Behörde, den Kantonsrat, eine Massnahme mit finanzieller Belastung
für den Staat zu beschliessen und deren Höhe festzusetzen (nicht publizierter
Entscheid des Bundesgerichts i. S. Einwohnergemeinde Lostorf und Konsorten vom
23. Dezember 1931, S. 20/21; BGE 40 I 398 ff; ESCHER, Das Finanzreferendum in
den schweizerischen Kantonen, S. 90 ff., 116 ff.). § 46 StPG hätte überhaupt
keinen Sinn, wenn dadurch nicht ausser der Mitwirkung

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des Volkes gemäss Art. 17 Ziff. 1 KV auch die Mitwirkung des Volkes gemäss
Art. 17 Ziff. 2 KV ausgeschlossen würde.
5. ­ Der Kantonsrat kann daher mit seinem Beschlusse vom 29. November 1947
betreffend «Teuerungszulagen an das Staatspersonal für das Jahr 1948» in die
dem Volke durch Art. 17 Ziff. 1 und 2 KV gewährten Rechte nur eingegriffen
haben, sofern oder soweit dieser Beschluss über den Rahmen der dem Kantonsrat
in § 46 StPG erteilten Ermächtigung hinausgehen sollte. Ob und eventuell in
welchem Umfange dies zutrifft, kann jedoch das Bundesgericht, da es sich
hiebei um die Auslegung einer kantonalen Gesetzesvorschrift handelt, nicht
frei prüfen. Es muss vielmehr die Auslegung der kantonalen Behörden hinnehmen,
soweit sie sich nicht als unhaltbar, willkürlich erweist (BGE 60 I 205; 70 I
8
, E. 3; nicht publizierte Entscheide i. S. Bachtler v. 16. September 1938, S.
18 und S. Gertsch vom 19. Februar 1947, S. 8).