S. 123 / Nr. 20 Prozessrecht (d)

BGE 73 II 123

20. Urteil der II. Zivilabteilung vom 3. Juli 1947 i. S. Lipper gegen Boesch &
Cie. in Liq.

Regeste:
Revision, Art. 137 lit. b OG. Tatsachen, die erst seit dem frühern Prozess
eingetreten sind, fallen nicht in Betracht.
Révision. Art. 137 lettre b OJ. Les faits survenus après le procès ne sont pas
pris en considération.
Revisione. Art. 137, lett. b OGF. I fatti avvenuti dopo il processo non sono
presi in considerazione.

Aus dem Tatbestand:
Lipper belangte die Firma Boesch & Cie. auf Herausgabe von Schuldbriefen
mangels gutgläubigen Pfanderwerbes von einem Gültenhändler, der sie veruntreut
hatte. Das Bundesgericht billigte der Beklagten mit Urteil vom 5. April 1944
guten Glauben beim Pfanderwerbe zu und wies die Klage ab (BGE 70 II 103). Mit
dem vorliegenden Gesuch beantragt Lipper die Revision dieses Urteils und die
Verurteilung der Firma Boesch & Cie. (nunmehr in Liquidation) zur
unbeschwerten Herausgabe der Schuldbriefe. Als Revisionsgrund ruft er Art. 137
lit. b OG an. Es sei als neue Tatsache zu berücksichtigen, dass die
Gesuchsgegnerin in einem gegenwärtig hängigen Prozesse gegen ihn zugegeben
habe, dass ihre Pfandsicherheiten

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seinerzeit entgegen der Annahme des Bundesgerichtes nicht zur Deckung ihrer
Forderungen ausgereicht hätten. Ferner folge aus dem Beweisergebnis im
Strafverfahren gegen Vogel, dass die Gesuchsgegnerin beim Pfanderwerb nicht
habe gutgläubig sein können.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. ­ Laut Ziff. 2 der Erwägungen des Urteils vom 5. April 1944 hat das
Bundesgericht gutgläubigen Pfanderwerb der Gesuchsgegnerin auf Grund
eingehender Würdigung der Verhältnisse angenommen. Das Argument, es sei nicht
bewiesen, dass diese Pfandgläubigerin damals ungedeckte Forderungen gegen den
Verpfänder besass, hatte dabei nur untergeordnete Bedeutung. Gleich verhält es
sich mit der Angabe, die Forderung dieser Pfandgläubigerin gegen Vogel sei in
dessen Konkurs als faustpfandversichert kolloziert worden; damit war nichts
über den Wert der Pfänder gesagt. Wenn nachträglich die Verwertung der Pfänder
weniger ergeben hat als der seinerzeitigen Schätzung durch die Firma Boesch &
Cie. entsprochen hätte ­ dies ist der wesentliche Inhalt der vom Gesuchsteller
angerufenen Vorbringen der Gesuchsgegnerin im gegenwärtig hängigen Prozesse ­,
so ist dies keineswegs eine neue Tatsache, die nach Art. 137 lit. b OG als
Revisionsgrund geltend gemacht werden könnte (ganz abgesehen davon, dass nicht
ersichtlich ist, was aus diesen Vorbringen gegen den guten Glauben der
Gesuchsgegnerin beim Pfanderwerb folgen sollte). Zum Revisionsgrund der neu
aufgefundenen Beweismittel, wie er schon dem frühern OG in Verbindung mit Art.
192 Ziff. 2 BZP bekannt war, hat das neue OG vom 16. Dezember 1943 neu in
Erfahrung gebrachte Tatsachen als weitern Revisionsgrund hinzugefügt. Es folgt
darin neuern kantonalen Prozessordnungen. Wie diese, hat es aber dabei nur
Tatsachen im Auge, die zur Zeit des frühern Prozesses bereits bestanden hatten
und nur deshalb nicht vorgebracht worden waren, weil sie der daran
interessierten Partei damals noch nicht

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bekannt waren. Tatsachen dagegen, die erst seit dem frühern Prozess (d. h.
erst seit dessen Beendigung oder wenigstens seit dem Zeitpunkt, in dem im
damaligen Verfahren Tatsachen noch vorgebracht werden konnten) eingetreten
sind, können nicht als Revisionsgrund in Betracht fallen. Die Revision soll
nicht dazu führen, das rechtskräftige Urteil einer seitherigen Änderung der
Verhältnisse anzupassen. Vielmehr kommt die Revision nach Art. 137 OG nur zu
dem Zweck in Frage, eine Urteilsgrundlage zu berichtigen, die sich als
fehlerhaft erwiesen hat (Botschaft des Bundesrates, Bundesblatt 1943 S. 147).
Gemeint ist: Fehlerhaft nach dem damaligen Sachstand, wie er erst seither der
durch das Urteil beschwerten Partei bekannt geworden ist. Aus diesem
Gesichtspunkt hat das Bundesgericht bereits unter der Herrschaft des alten OG
entschieden, dass als neu aufgefundene Beweismittel nicht solche gelten
können, die nach dem Stande der Naturwissenschaften zur Zeit des frühern
Prozesses noch nicht als taugliche existierten (Blutgruppenbeweis zum
Ausschluss der Vaterschaft, BGE 61 II 361). Die Revision soll eben dem
Gesuchsteller nicht zu einem Urteil verhelfen, wie es allenfalls zu erreichen
wäre, wenn der Prozess erst jetzt, auf Grund des gegenwärtigen Sachstandes, zu
beurteilen wäre. Sie soll ihm nur ermöglichen, unter bestimmten
Voraussetzungen den wahren seinerzeitigen Sachstand nachträglich noch zur
Geltung zu bringen.
2. ­ Auch die Berufung auf das Beweisergebnis im Strafverfahren gegen Vogel
geht fehl. Das Urteil des Kriminalgerichts Luzern ist laut Bescheinigung der
Kanzlei vom 26. Februar 1947 noch nicht ausgefertigt. Das Beweisergebnis lässt
sich also noch nicht in gehöriger Weise dartun. Ausserdem hat Vogel, wie
dieselbe Kanzlei bescheinigt, gegen das Urteil an das Obergericht appelliert.
3. ­ Erweist sich damit das Revisionsgesuch als unbegründet, so erübrigt sich
die Prüfung der von der Gesuchsgegnerin aufgeworfenen Legitimationsfrage.

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Demnach erkennt das Bundesgericht:
Das Revisionsgesuch wird abgewiesen.
Vgl. auch Nr. 14. ­ Voir aussi no 14.