S. 65 / Nr. 14 Personenrecht (d)

BGE 72 II 65

14. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 13. Februar 1946 i.S.
A.-G. für die Neue Zürcher Zeitung gegen Migros Genossenschaftsbund,
Genossenschaft Migros und Duttweiler.


Seite: 65
Regeste:
Organhaftung, Art. 55
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 55 - 1 Die Organe sind berufen, dem Willen der juristischen Person Ausdruck zu geben.
1    Die Organe sind berufen, dem Willen der juristischen Person Ausdruck zu geben.
2    Sie verpflichten die juristische Person sowohl durch den Abschluss von Rechtsgeschäften als durch ihr sonstiges Verhalten.
3    Für ihr Verschulden sind die handelnden Personen ausserdem persönlich verantwortlich.
ZGB.
Die verantwortliche Zeitungsredaktion ist Organ der Zeitungsunternehmung, auch
wenn das in deren Statuten nicht ausdrücklich vorgesehen ist.
Responsabilité des organes d'une personne morale, art. 55 CC.
La rédaction responsable d'un journal est un organe de l'entreprise, même si
les statuts ne le prévoient pas expressément.
Responsabilità degli organi d'una persona giuridica (art. 55 CC). La redazione
responsabile d'un giornale è un organo dell'azienda, anche se gli statuti non
lo prevedono espressamente.

Im «Brückenbauer», der Zeitung des Migros-Genossenschafts-Bundes, erschienen
im November 1942 drei Leitartikel, in welchen das Eidgenössische
Kriegsernährungsamt einer ungerechten und speziell gegen das
Migros-Unternehmen gerichteten Handlungsweise bezichtigt wurde. Zu diesen
Vorwürfen nahm die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ) zweimal redaktionell Stellung.
Sodann brachte sie in der gleichen Angelegenheit einen eingesandten Artikel
unter dem Titel «Verletzung der kriegswirtschaftlichen Disziplin». In der
letztgenannten Veröffentlichung erblickten die Kläger eine schwere
Beeinträchtigung ihrer persönlichen Verhältnisse und ihrer geschäftlichen
Interessensphäre. Deshalb belangten sie die A.-G. für die Neue Zürcher Zeitung
auf Schadensersatz und Genugtuung. Die Beklagte bestritt ihre
Passivlegitimation. Das Bundesgericht wies diese Einrede zurück aus folgenden
Erwägungen:
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist Organ der juristischen Person
nicht nur, wer dem obersten

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Verwaltungsausschuss angehört oder in ihm entscheidend mitwirkt, sondern auch,
wer unter dessen Aufsicht die eigentliche Geschäftsführung besorgt (BGE 65 II
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und dortige Verweisungen; vgl. BGE 68 II 289 f., 301).
Diese Voraussetzung ist hinsichtlich der Redaktion der «NZZ» erfüllt. Die
Beklagte verfolgt gemäss § 1 ihrer Statuten den Zweck, ihre Zeitung «als
politisches und volkswirtschaftliches Organ zu verlegen und herauszugeben und
die hierzu erforderlichen oder damit in Verbindung stehenden Dienst- und
Geschäftszweige zu betreiben». An der Realisierung dieses Gesellschaftszweckes
hat die Redaktion als einer der wichtigsten Dienstzweige massgebenden Anteil.
Zwar steht nach § 17 Abs. 1 der Statuten die Vertretung der Beklagten nach
aussen und die verbindliche Unterschrift in deren Namen grundsätzlich dem
Verwaltungskomitee zu. Allein darauf kommt es nach dem eingangs Gesagten nicht
an; jedenfalls dann nicht, wenn die im Mittelpunkt der Tätigkeit einer
juristischen Person liegenden Funktionen in so selbständiger und unabhängiger
Weise von dritten, d. h. nicht der eigentlichen Verwaltung angehörenden
Personen ausgeübt werden, wie das bei der Redaktion der «NZZ» zutrifft. Dieser
Gesichtspunkt ist in BGE 48 II 56, wo es sich auch um die Redaktion der «NZZ»
gehandelt hat, ausser Acht gelassen worden. Dort wurde ausschliesslich auf die
Verwaltungstätigkeit im engeren Sinne abgestellt. Der Entscheid ist durch die
seitherige Praxis überholt. Er kann nicht aufrecht erhalten werden.
Mithin ist die Beklagte im vorliegenden Streitverhältnis vermöge der
Organqualität ihrer Redaktion passiv legitimiert.
Vgl. auch Nr. 23. ­ Voir aussi No 23.