S. 321 / Nr. 48 Familienrecht (d)

BGE 72 II 321

48. Urteil der II. Zivilabteilung vom 5. Dezember 1946 i. S. Williner gegen
Williner-Jau.


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Regeste:
Ehescheidung. Örtliche Zuständigkeit für Scheidungsklage und vorsorgliche
Massnahmen bei selbständigen Gerichtsständen beider Ehegatten (Art. 144 , 145
ZGB): für die Priorität der Rechtshängigkeit darf ein Vorsprung nicht gelten,
der nur dank gesetzwidriger Abkürzung des Verfahrens (Übergehung des
obligatorischen Aussöhnungsversuchs) erreicht wurde.
Divorce. Compétence ratione loci pour statuer sur une action en divorce et une
demande de mesures provisoires (art. 144 et 145 CC) en cas de for indépendant
de chacun des époux: pour déterminer la demande introduite en premier lieu, on
ne peut tenir compte de l'avantage qu'une des parties s'est assuré en
abrégeant illégalement la procédure (suppression de la tentative de
conciliation).
Divorzio. Competenza ratione loci per statuire su una domanda di divorzio e
una domanda provvisionale (art. 144 e 145 CC) quando ciascun coniuge ha un
foro indipendente. Per stabilire quale è la domanda introdotta per la prima,
non si può tenere conto del vantaggio che l'una delle parti si é assicurato
abbreviando illegalmente la procedura (soppressione dell'esperimento di
conciliazione).

A. ­ Die seit 15. Mai 1945 verheiratete, inzwischen schwanger gewordene
Ehefrau verliess am 13. Oktober desselben Jahres mit Zustimmung ihres
Ehemannes den ehelichen Wohnsitz in Visp und begab sich zu ihren Eltern nach
Bern, wo sie am 2. Mai 1946 das Kind Anneli gebar. Am 24. Juli 1946 stellte
sie beim Richteramt I Bern das (vom 16. Juli datierte) Gesuch um Erlass
vorsorglicher Massnahmen nach Art. 169 ff
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 169 - 1 Ein Ehegatte kann nur mit der ausdrücklichen Zustimmung des andern einen Mietvertrag kündigen, das Haus oder die Wohnung der Familie veräussern oder durch andere Rechtsgeschäfte die Rechte an den Wohnräumen der Familie beschränken.
1    Ein Ehegatte kann nur mit der ausdrücklichen Zustimmung des andern einen Mietvertrag kündigen, das Haus oder die Wohnung der Familie veräussern oder durch andere Rechtsgeschäfte die Rechte an den Wohnräumen der Familie beschränken.
2    Kann der Ehegatte diese Zustimmung nicht einholen oder wird sie ihm ohne triftigen Grund verweigert, so kann er das Gericht anrufen.
. ZGB, indem sie unter Berufung auf
drei Arztzeugnisse geltend machte, dass durch das Zusammenleben mit dem
Ehemanne ihre Gesundheit ernstlich gefährdet würde.
Der Ehemann liess sich hierauf vom Richteramt Bern vorerst die Frist zur
Vernehmlassung auf das Gesuch

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erstrecken. Vor deren Erstattung erwirkte er jedoch am 23. August in Visp die
Vorladung der Ehefrau vor den dortigen Gemeinderichter zum Aussöhnungsversuch
in Sachen Ehescheidung auf den 9. September, und ersuchte gleichzeitig unter
Hinweis auf diese «Eintagung» den Instruktionsrichter des Bezirks Visp um
Erlass vorsorglicher Massnahmen nach Art. 145 ZGB, worauf dieser die Parteien
auf den 30. August zu einer Verhandlung vorlud.
Die Ehefrau beantwortete dieses Vorgehen des Mannes damit, dass ihr Anwalt am
28. August beim Richteramt in Bern die Scheidungsklage einreichte und
gleichzeitig um Erlass vorsorglicher Massnahmen nach Art. 145 ZGB ersuchte. Im
Begleitbrief an den Gerichtspräsidenten wies der Anwalt darauf hin, dass ein
Aussöhnungsversuch nicht stattgefunden habe, und bat ihn, die Klage trotzdem
zuzustellen; der Ehemann versuche nämlich, die mit dem Gesuch der Frau vom
16./24. Juli in Bern begründete Hängigkeit des Verfahrens durch seine Schritte
vom 23. August in Visp zu durchkreuzen. Gestützt auf diese Klageeinreichung
erliess der Gerichtspräsident von Bern am 10. September 1946 für die Dauer des
Scheidungsprozesses die verlangten vorsorglichen Massnahmen (getrennter
Wohnsitz, Zuteilung des Kindes an die Mutter, Unterhalt von Frau und Kind).
Nach dem Scheitern des Vermittlungsversuchs vom 9. September reichte der
Ehemann am 14. September in Visp Trennungsklage ein, worauf der
Instruktionsrichter von Visp am gleichen Tage auf Grund des Rechtsbots vom 23.
August seinerseits vorsorgliche Massnahmen erliess, indem er den Parteien das
getrennte Leben bewilligte und das vier Monate alte Kind für die Dauer des
Prozesses dem Vater zuteilte.
B.­Gegen die Verfügungen der Richter von Bern und von Visp legten der Ehemann
bezw. die Ehefrau die vorliegenden Nichtigkeitsbeschwerden ein mit dem Antrag
auf Aufhebung derselben mangels örtlicher Zuständigkeit des von der
Gegenpartei angerufenen Richters.

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C. Der Gerichtspräsident von Bern und der Instruktionsrichter von Visp
beantragen je Abweisung der gegen ihre Verfügung gerichteten Beschwerde.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. ­ Die Nichtigkeitsbeschwerde des Art. 68
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 169 - 1 Ein Ehegatte kann nur mit der ausdrücklichen Zustimmung des andern einen Mietvertrag kündigen, das Haus oder die Wohnung der Familie veräussern oder durch andere Rechtsgeschäfte die Rechte an den Wohnräumen der Familie beschränken.
1    Ein Ehegatte kann nur mit der ausdrücklichen Zustimmung des andern einen Mietvertrag kündigen, das Haus oder die Wohnung der Familie veräussern oder durch andere Rechtsgeschäfte die Rechte an den Wohnräumen der Familie beschränken.
2    Kann der Ehegatte diese Zustimmung nicht einholen oder wird sie ihm ohne triftigen Grund verweigert, so kann er das Gericht anrufen.
OG ist sowohl gegen die Verfügung
des Gerichtspräsidenten I von Bern als gegen die des Instruktionsrichters von
Visp zulässig, da beide Verfügungen, jene nach Art. 299
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 299 Anordnung einer Vertretung des Kindes - 1 Das Gericht ordnet wenn nötig die Vertretung des Kindes an und bezeichnet als Beiständin oder Beistand eine in fürsorgerischen und rechtlichen Fragen erfahrene Person.
1    Das Gericht ordnet wenn nötig die Vertretung des Kindes an und bezeichnet als Beiständin oder Beistand eine in fürsorgerischen und rechtlichen Fragen erfahrene Person.
2    Es prüft die Anordnung der Vertretung insbesondere, wenn:
a  die Eltern unterschiedliche Anträge stellen bezüglich:
a1  der Zuteilung der elterlichen Sorge,
a2  der Zuteilung der Obhut,
a3  wichtiger Fragen des persönlichen Verkehrs,
a4  der Aufteilung der Betreuung,
a5  des Unterhaltsbeitrages;
b  die Kindesschutzbehörde oder ein Elternteil eine Vertretung beantragen;
c  es aufgrund der Anhörung der Eltern oder des Kindes oder aus anderen Gründen:146
c1  erhebliche Zweifel an der Angemessenheit der gemeinsamen Anträge der Eltern bezüglich der Fragen nach Buchstabe a hat, oder
c2  den Erlass von Kindesschutzmassnahmen erwägt.
3    Stellt das urteilsfähige Kind Antrag auf eine Vertretung, so ist diese anzuordnen. Das Kind kann die Nichtanordnung mit Beschwerde anfechten.
der bernischen, diese
nach Art. 345
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 345 Schadenersatz und Umwandlung in Geld - 1 Die obsiegende Partei kann verlangen:
1    Die obsiegende Partei kann verlangen:
a  Schadenersatz, wenn die unterlegene Partei den gerichtlichen Anordnungen nicht nachkommt;
b  die Umwandlung der geschuldeten Leistung in eine Geldleistung.
2    Das Vollstreckungsgericht setzt den entsprechenden Betrag fest.
der Walliser ZPO, letztinstanzliche Entscheide und als
vorsorgliche Massregeln nach Art. 145 ZGB keine Endurteile im Sinne des Art.
48
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 345 Schadenersatz und Umwandlung in Geld - 1 Die obsiegende Partei kann verlangen:
1    Die obsiegende Partei kann verlangen:
a  Schadenersatz, wenn die unterlegene Partei den gerichtlichen Anordnungen nicht nachkommt;
b  die Umwandlung der geschuldeten Leistung in eine Geldleistung.
2    Das Vollstreckungsgericht setzt den entsprechenden Betrag fest.
OG (BGE 72 II 56), aber auch keine nach Art. 49
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 345 Schadenersatz und Umwandlung in Geld - 1 Die obsiegende Partei kann verlangen:
1    Die obsiegende Partei kann verlangen:
a  Schadenersatz, wenn die unterlegene Partei den gerichtlichen Anordnungen nicht nachkommt;
b  die Umwandlung der geschuldeten Leistung in eine Geldleistung.
2    Das Vollstreckungsgericht setzt den entsprechenden Betrag fest.
OG berufungsfähige Vor-
oder Zwischenurteile sind.
2.­Die Zuständigkeit des Scheidungsrichters zu vorsorglichen Massnahmen im
Sinne von Art. 145 ZGB wird erst durch den Eintritt der Rechtshängigkeit der
Scheidungs- (bezw. Trennungs-) klage begründet (BGE 64 II 176, 184). In den
Fällen, wo jedem Ehegatten zur Erhebung der Scheidungsklage nach Art. 144 ZGB
ein eigener Gerichtsstand zur Verfügung steht, weil die Ehefrau zum getrennten
Wohnsitz berechtigt ist und einen solchen an einem vom ehelichen Domizil
verschiedenen Ort auch tatsächlich begründet hat, wird der aus der
Klageerhebung an beiden Gerichtsständen entstehende positive Kompetenzkonflikt
durch den von der Praxis eingeführten bundesrechtlichen Gerichtsstand des
Sachzusammenhanges in Verbindung mit dem Grundsatz der Priorität gelöst: der
zuerst angerufene Scheidungsrichter ist auch für die Scheidungsklage der
andern Partei ausschliesslich zuständig (BGE 64 II 182 ff.). Dabei beurteilt
sich die Frage, in welchem Zeitpunkt die Rechtshängigkeit eintritt,
insbesondere ob die Einleitung eines Aussöhnungsverfahrens diese bewirke,
nicht nach einem bundesrechtlichen Begriff der Klageerhebung, sondern für jede
der beiden Klagen nach dem kantonalen Prozessrecht, dem sie untersteht (a.a.O.
177, 185).

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Die beiden vorliegend in Frage stehenden Prozessordnungen der Kantone Wallis
und Bern stimmen nun darin überein, dass sie für die Scheidungs- (bezw.
Trennungs-) Klage ein obligatorisches Aussöhnungsverfahren vorsehen (Wallis
Art. 127
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 127 Überweisung bei zusammenhängenden Verfahren - 1 Sind bei verschiedenen Gerichten Klagen rechtshängig, die miteinander in einem sachlichen Zusammenhang stehen, so kann ein später angerufenes Gericht die bei ihm rechtshängige Klage an das zuerst angerufene Gericht überweisen, wenn dieses mit der Übernahme einverstanden ist.
1    Sind bei verschiedenen Gerichten Klagen rechtshängig, die miteinander in einem sachlichen Zusammenhang stehen, so kann ein später angerufenes Gericht die bei ihm rechtshängige Klage an das zuerst angerufene Gericht überweisen, wenn dieses mit der Übernahme einverstanden ist.
2    Die Überweisung ist mit Beschwerde anfechtbar.
, Bern Art. 144 f
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 144 Erstreckung - 1 Gesetzliche Fristen können nicht erstreckt werden.
1    Gesetzliche Fristen können nicht erstreckt werden.
2    Gerichtliche Fristen können aus zureichenden Gründen erstreckt werden, wenn das Gericht vor Fristablauf darum ersucht wird.
. ZPO), dass aber die Rechtshängigkeit nicht schon
mit der Anrufung des Aussöhnungsversuchs, sondern erst durch die Einreichung
der eigentlichen Klage beim Instruktionsrichter begründet wird (Wallis Art.
86, 137; Bern Art. 160
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 160 Mitwirkungspflicht - 1 Die Parteien und Dritte sind zur Mitwirkung bei der Beweiserhebung verpflichtet. Insbesondere haben sie:
1    Die Parteien und Dritte sind zur Mitwirkung bei der Beweiserhebung verpflichtet. Insbesondere haben sie:
a  als Partei, als Zeugin oder als Zeuge wahrheitsgemäss auszusagen;
b  Urkunden herauszugeben; ausgenommen sind Unterlagen aus dem Verkehr einer Partei oder einer Drittperson mit einer Anwältin oder einem Anwalt, die oder der zur berufsmässigen Vertretung berechtigt ist, oder mit einer Patentanwältin oder einem Patentanwalt im Sinne von Artikel 2 des Patentanwaltsgesetzes vom 20. März 200964;
c  einen Augenschein an Person oder Eigentum durch Sachverständige zu dulden.
2    Über die Mitwirkungspflicht einer minderjährigen Person entscheidet das Gericht nach seinem Ermessen.65 Es berücksichtigt dabei das Kindeswohl.
3    Dritte, die zur Mitwirkung verpflichtet sind, haben Anspruch auf eine angemessene Entschädigung.
ZPO, LEUCH, Komm. Art. 144 N. 1, Art. 160 N. 1).
Die Klageeinleitung in diesem Sinne erfolgte in Bern am 28. August, in Visp am
14. September 1946. Die Ehefrau verschaffte sich jedoch diesen zeitlichen
Vorsprung dadurch, dass sie den Gerichtspräsidenten veranlassen konnte, die
Klage ohne vorausgegangenen Aussöhnungsversuch entgegenzunehmen. Indem der
Richter dazu Hand bot, obwohl der Anwalt der Klägerin ihn auf den Mangel
hinwies, verletzte er die Vorschriften der bernischen ZPO. Ein Fall der
Entbindung vom Aussöhnungsversuch wegen drohenden Rechtsverlusts infolge
Zeitknappheit gemäss Art. 144
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 144 Erstreckung - 1 Gesetzliche Fristen können nicht erstreckt werden.
1    Gesetzliche Fristen können nicht erstreckt werden.
2    Gerichtliche Fristen können aus zureichenden Gründen erstreckt werden, wenn das Gericht vor Fristablauf darum ersucht wird.
ZPO lag nicht vor; die Möglichkeit, dass bei
vorschriftsgemässer Abhaltung des Aussöhnungsversuchs die Priorität des
Scheidungsgerichtsstandes dem Kanton Wallis zufallen könnte, stellt natürlich
keinen Rechtsverlust im Sinne jener Bestimmung dar. Die Vorschrift von Art.
145 Abs. 2
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 145 Stillstand der Fristen - 1 Gesetzliche und gerichtliche Fristen stehen still:
1    Gesetzliche und gerichtliche Fristen stehen still:
a  vom siebten Tag vor Ostern bis und mit dem siebten Tag nach Ostern;
b  vom 15. Juli bis und mit dem 15. August;
c  vom 18. Dezember bis und mit dem 2. Januar.
2    Dieser Fristenstillstand gilt nicht für:
a  das Schlichtungsverfahren;
b  das summarische Verfahren.
3    Die Parteien sind auf die Ausnahmen nach Absatz 2 hinzuweisen.
4    Vorbehalten bleiben die Bestimmungen des SchKG62 über die Betreibungsferien und den Rechtsstillstand.
ZPO, wonach «ein Aussöhnungsversuch nicht mehr erforderlich ist,
wenn der Instruktionsrichter trotz Fehlens eines solchen die Zustellung der
Klage verfügt hat», will dem Richter nicht etwa weitere Möglichkeiten der
Entbindung vom Aussöhnungsversuch geben, sondern nur in den Fällen, in denen
der Mangel eines solchen von ihm übersehen worden ist, die nachträgliche
Rückweisung der Klage ausschliessen (LEUCH, zu Art. 145 N. 6). Von einem
Übersehen des Mangels kann angesichts des brieflichen Hinweises des Anwalts
der Ehefrau weder bei diesem noch beim Gerichtspräsidenten die Rede sein.
Letzterer hätte mithin die Klage nicht entgegennehmen

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dürfen (Art. 161
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 161 Aufklärung - 1 Das Gericht klärt die Parteien und Dritte über die Mitwirkungspflicht, das Verweigerungsrecht und die Säumnisfolgen auf.
1    Das Gericht klärt die Parteien und Dritte über die Mitwirkungspflicht, das Verweigerungsrecht und die Säumnisfolgen auf.
2    Unterlässt es die Aufklärung über das Verweigerungsrecht, so darf es die erhobenen Beweise nicht berücksichtigen, es sei denn, die betroffene Person stimme zu oder die Verweigerung wäre unberechtigt gewesen.
ZPO). Nur mit Hilfe dieser bewussten Umgehung des Gesetzes
vermochte die Ehefrau mit der Klageeinreichung dem Manne, dessen
Aussöhnungsbegehren seit 23. August hängig war, zuvorzukommen.
Der Grundsatz der Priorität der Anrufung des Richters bei konkurrierenden
Gerichtsständen führt in vielen Fällen zu einem bedauerlichen Wettlauf
zwischen den Scheidungsparteien. Das Prinzip ist jedoch zur Vermeidung des
positiven Kompetenzkonflikts unentbehrlich. Aber dessen Anwendung verlangt,
dass es bei der Klageeinreichung ordnungsgemäss zugegangen ist; ein nur dank
gesetzwidriger Abkürzungen des vorgeschriebenen Verfahrensganges erreichter
Vorsprung darf nicht gelten. Dass vorliegend die bewusste Umgehung nicht eine
Bestimmung des Bundesrechts, sondern eine blosse Ordnungsvorschrift des
kantonalen Prozessrechts betrifft, kann in dieser Hinsicht keinen Unterschied
ausmachen. Die Umgehung des vorgeschriebenen Aussöhnungsverfahrens darf umso
weniger toleriert werden, als es anerkanntermassen für das Scheidungsverfahren
von besonderer Bedeutung ist. Die Klageeinreichung der Ehefrau vom 28. August
1946 fällt demnach für die Priorität ausser Betracht, und da die Frage, ob die
Klägerin auch bei korrekter Beobachtung des Verfahrens die Klage noch vor dem
14. September hätte einreichen können, rein hypothetischer Natur ist, so muss
eben die Klageerhebung des Mannes in Visp von jenem Datum als für die
Begründung des Gerichtsstandes entscheidend betrachtet werden.
Die Lösung darin zu suchen, dass im Verhältnis zwischen zwei Kantonen, in
denen der Aussöhnungsversuch obligatorisch ist, überhaupt grundsätzlich auf
die Priorität der Anrufung des Aussöhnungsrichters abgestellt würde, empfiehlt
sich deshalb nicht, weil dadurch neben dem kantonal-prozessrechtlichen Begriff
der Rechtshängigkeit, welche nach ausdrücklicher Vorschrift der beiden hier in
Frage stehenden Kantone erst mit der Einreichung der Klage selbst eintritt,
ein abweichender bundesrechtlicher

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Begriff derselben eingeführt würde, was in andern Fällen wieder zu
Komplikationen führen müsste. Übrigens fiele nach diesem Kriterium die
Priorität erst recht dem Gerichtsstande Visp zu, wo der Ehemann die Aussöhnung
am 23. August verlangte, während vor diesem Zeitpunkt in Bern nur
Eheschutzmassnahmen im Sinne von Art. 169
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 169 - 1 Ein Ehegatte kann nur mit der ausdrücklichen Zustimmung des andern einen Mietvertrag kündigen, das Haus oder die Wohnung der Familie veräussern oder durch andere Rechtsgeschäfte die Rechte an den Wohnräumen der Familie beschränken.
1    Ein Ehegatte kann nur mit der ausdrücklichen Zustimmung des andern einen Mietvertrag kündigen, das Haus oder die Wohnung der Familie veräussern oder durch andere Rechtsgeschäfte die Rechte an den Wohnräumen der Familie beschränken.
2    Kann der Ehegatte diese Zustimmung nicht einholen oder wird sie ihm ohne triftigen Grund verweigert, so kann er das Gericht anrufen.
ZGB verlangt wurden.
Ist mithin der Klageerhebung des Ehemannes in Visp die Priorität zuzuerkennen,
so kann dahingestellt bleiben, ob die Ehefrau überhaupt zur Begründung eines
selbständigen Wohnsitzes nach Art. 170
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 170 - 1 Jeder Ehegatte kann vom andern Auskunft über dessen Einkommen, Vermögen und Schulden verlangen.
1    Jeder Ehegatte kann vom andern Auskunft über dessen Einkommen, Vermögen und Schulden verlangen.
2    Auf sein Begehren kann das Gericht den andern Ehegatten oder Dritte verpflichten, die erforderlichen Auskünfte zu erteilen und die notwendigen Urkunden vorzulegen.
3    Vorbehalten bleibt das Berufsgeheimnis der Rechtsanwälte, Notare, Ärzte, Geistlichen und ihrer Hilfspersonen.
ZGB berechtigt war, und wenn ja, ob sie
in Bern einen solchen tatsächlich begründet hatte.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde der Ehefrau wird abgewiesen, diejenige des
Ehemannes gutgeheissen, der Instruktionsrichter von Visp zum Erlass
vorsorglicher Massnahmen im Sinne von Art. 145 ZGB zuständig erklärt und die
Verfügung des Gerichtspräsidenten I von Bern vom 10. September 1946
aufgehoben.