S. 132 / Nr. 22 Motorfahrzeugverkehr (d)

BGE 72 II 132

22. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 12. Februar 1946 i. S.
Wiederkehr gegen Diggelmann und Konsorten.

Regeste:
1. Die Abstandsregel in Art. 25 Abs. 1 Satz 3 MFG gilt für Radfahrer, wie für
Motorfahrzeuge, auch beim Kreuzen und Überholen von Fussgängern.
2. Zinsfuss für die Rentenkapitalisierung; Änderung der Praxis durch
Herabsetzung auf 3½%.
1. Les cyclistes et les conducteurs de véhicules à moteur sont aussi tenus
d'observer une distance appropriée quand ils croisent ou dépassent des piétons
(art. 25 al. 1, 3e phrase, LA).

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1. Taux de l'intérêt pour la capitalisation de rentes; réduction du taux à 3½%
(changement de jurisprudence).
1. I ciclisti e i conducenti di autoveicoli sono pure obbligati a tenersi a
distanza adeguata nell'incrociare e nel sorpassare dei pedoni (art. 25 cp. 1,
terza frase, LCAV).
2. Saggio dell'interesse per la capitalizzazione di rendite; riduzione del
tasso al 3½% (cambiamento di giurisprudenza).

2.- b) ... Im Verzicht auf genügenden Abstand beim Kreuzen liegt ein Verstoss
gegen Art. 25 Abs. 1 Satz 3 MFG. Dass diese Vorschrift auf Grund von Art. 30
MFG auch für Radfahrer gilt, wird vom Beklagten nicht bestritten. Er erachtet
sie aber vorliegend als gegenstandslos, weil die Abstandsregel sinngemäss nur
auf das Verhältnis von Fahrzeug zu Fahrzeug, nicht auf dasjenige zwischen
Fahrzeug und Fussgänger anwendbar sei. Eine so einschränkende Auslegung ist
irrig. Als dem Abs. 1 von Art. 25 MFG der dritte Satz angefügt wurde, dachte
man ganz besonders auch an das Kreuzen und Überholen von Fussgängern durch
Motorfahrzeuge (vgl. das Votum Reichling im Nationalrat, Sten. Bull. 1931 S.
81). Es ist nicht einzusehen, weshalb die Bestimmung für Radfahrer einen
engeren Sinn haben sollte. Vielmehr ist sie auch hier in hohem Masse sachlich
gerechtfertigt. Zu Unrecht wendet der Beklagte ein, es beweise alsdann jede im
übrigen unverschuldete Kollision zumindest eine Verletzung der Abstandsregel.
Denn in jedem einzelnen Fall ist anhand der gesamten Umstände zu untersuchen,
ob der Abstand hinreichend war oder nicht.
4. -
c) Umstritten ist schliesslich der Zinsfuss für die Kapitalisierung der
Versorgerrente. Beide Vorinstanzen haben, dem Antrage der Kläger folgend, zu
3½% kapitalisiert. Veranlassung dazu gab ihnen die derzeitige Geldmarktlage,
namentlich der Umstand, dass zufolge grosser Liquidität der Mittel für nicht
spekulative Anlagen eine Verzinsung von höchstens 3½% erhältlich ist. Das
Obergericht

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verwies ausserdem auf staatliche und private Bestrebungen zur Niederhaltung
des Zinsfusses.
Es ist eine augenfällige Tatsache, dass der bisher übliche
Kapitalisierungs-Zinsfuss von 4% an den wirklichen Verhältnissen gemessen zu
hoch ist. Das allein würde allerdings eine Änderung noch nicht rechtfertigen.
Denn weil die kapitalisierte Rente den wirtschaftlichen Ausgleich für eine
längere Zeitspanne schaffen muss, ist massgebend weniger die momentane
Geldmarktlage als deren mutmassliche Entwicklung (BGE 65 II 256 f.). Um über
letztere Klarheit zu gewinnen hat das Bundesgericht eine fachliche
Meinungsäusserung eingeholt. Diese bestätigt die grundsätzliche Richtigkeit
der vorinstanzlichen Entscheidung. Ein vorgelegter Bericht fasst seine
Betrachtungen über die in der Nachkriegszeit vorherrschenden Einflüsse auf die
Zinsfussbewegung dahin zusammen, «dass sich starke Kräfte aus der Wirtschaft
und aus dem staatlichen und halbstaatlichen Sektor abzeichnen, die gegen eine
wesentliche Erhöhung des Zinsfusses tendieren, aber ebensosehr auf eine
möglichste Stabilisierung auf einem mässigen Niveau hinwirken». Soweit
voraussehbar darf also eine mehr oder weniger konstante Situation erwartet
werden. Damit ist die Voraussetzung für eine Anpassung des
Kapitalisierungssatzes gegeben. Immerhin kann es sich nicht darum handeln, dem
in den letzten Jahren beobachteten Absinken des Zinsfusses bis an die unterste
Grenze zu folgen. Der Rentenkapitalisierung ist ein Durchschnittswert zu
Grunde zu legen (BGE 65 II 257), der mit 3½% richtig gewählt erscheint (vgl.
den entsprechenden Vorschlag von Piccard im Vorwort zur Interimsausgabe 1945
seiner Lebenserwartungs-Barwert- und Rententafeln).