S. 4 / Nr. 2 Strafgesetzbuch (d)

BGE 71 IV 4

2. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 26. Januar 1945 i.S. Degner
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich.


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Regeste:
Art. 138 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 138 - 1. Wer sich eine ihm anvertraute fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern,
1    Wer sich eine ihm anvertraute fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern,
2    Wer die Tat als Mitglied einer Behörde, als Beamter, Vormund, Beistand, berufsmässiger Vermögensverwalter oder bei Ausübung eines Berufes, Gewerbes oder Handelsgeschäftes, zu der er durch eine Behörde ermächtigt ist, begeht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe196 bestraft.
StGB.
1. Diese Bestimmung ist auch anwendbar, wenn Beweggrund der Tat die
Befriedigung eines geistigen Gelüstes ist.
2. Der geringe Wert der Sache.
Art. 138 al. 1 CP.
1. Cette disposition s'applique aussi lorsque le mobile de l'acte est de
satisfaire une envie de nature intellectuelle.
2. Le peu de valeur de la chose.
Art. 138 cp. 1 CP.
1. Questa disposizione si applica anche allorquando il movente del reato sia
stato quello di sodisfare un bisogno di natura intellettuale.
2. La poca entità della sottrazione.

A. ­ Hermann Degner, ein geistig regsamer Mann, der den Beruf eines
Eisenbetonzeichners gelernt hat, sich jedoch seit 1941 als Schriftsteller
betätigt und seinen Lebensunterhalt durch Besprechung von Büchern bestreitet,
kam in einem Gespräch mit Freunden über Humanismus und Reformation auf Erasmus
von Rotterdam zu sprechen. Dabei stellte er fest, dass seine Bildung auf
diesem Gebiet eine Lücke aufwies. Er nahm sich vor, sie bei nächster
Gelegenheit auszufüllen. Als er am 27. März 1943 in der Buchhandlung der Alice
Augenstein in Winterthur ein Buch von Meissner über Erasmus von Rotterdam sah,
pachte ihn das plötzliche Verlangen, es sich anzueignen, um es zu lesen. Er
unterlag. Der Ladenpreis des Buches betrug Fr. 13.50. Nach mehreren Wochen
verkaufte Degner es für Fr. 4.50 einem Antiquar.
B. ­ Am 29. August 1944 erklärte das Obergericht des Kantons Zürich Degner des
Diebstahls im Sinne des Art. 137 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 137 - 1. Wer sich eine fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird, wenn nicht die besonderen Voraussetzungen der Artikel 138-140 zutreffen, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
1    Wer sich eine fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird, wenn nicht die besonderen Voraussetzungen der Artikel 138-140 zutreffen, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
2    Hat der Täter die Sache gefunden oder ist sie ihm ohne seinen Willen zugekommen,
StGB schuldig und verurteilte ihn zu
einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von einer Woche. Diebstahl statt
Entwendung nahm das Gericht an, weil der Wunsch, eine Bildungslücke
auszufüllen, einen geistes-, nicht einen triebbestimmten Beweggrund habe,
nicht auf eine menschliche Schwäche zurückgehe, also nicht ein Gelüste im
Sinne des Art. 138
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 138 - 1. Wer sich eine ihm anvertraute fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern,
1    Wer sich eine ihm anvertraute fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern,
2    Wer die Tat als Mitglied einer Behörde, als Beamter, Vormund, Beistand, berufsmässiger Vermögensverwalter oder bei Ausübung eines Berufes, Gewerbes oder Handelsgeschäftes, zu der er durch eine Behörde ermächtigt ist, begeht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe196 bestraft.
StGB sei.

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C. ­ Der Verurteilte hat die Nichtigkeitsbeschwerde erklärt mit dem Antrag,
das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zu seiner
Freisprechung, eventuell zur Einstellung des Verfahrens oder zu neuer
Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er macht geltend, seine Tat sei
eine Entwendung; einen Strafantrag aber habe die Geschädigte nicht gestellt.
D. ­ Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich hat auf Gegenbemerkungen
verzichtet.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. ­ Nach Art. 138
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 138 - 1. Wer sich eine ihm anvertraute fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern,
1    Wer sich eine ihm anvertraute fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern,
2    Wer die Tat als Mitglied einer Behörde, als Beamter, Vormund, Beistand, berufsmässiger Vermögensverwalter oder bei Ausübung eines Berufes, Gewerbes oder Handelsgeschäftes, zu der er durch eine Behörde ermächtigt ist, begeht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe196 bestraft.
StGB ist auf Antrag strafbar, wer jemandem eine fremde
bewegliche Sache von geringem Wert aus Not, Leichtsinn oder zur Befriedigung
eines Gelüstes entwendet. Diese Bestimmung hat sich aus dem Begriff des
Mundraubes entwickelt. Als solcher galt in früheren Gesetzen die Entwendung
von «Feld- oder Gartenfrüchten oder anderen Esswaren oder Getränken zur
Befriedigung augenblicklicher Lüsternheit», wenn der Wert des Entwendeten
einen bestimmten Betrag (z.B. fünf Franken) nicht überstieg (so z. B. Zürich
StGB von 1871 § 168 und StGB von 1897 § 174, Solothurn StGB von 1885 § 146).
Mundraub wurde milder bestraft als Diebstahl und vorwiegend nur auf Antrag
verfolgt, denn wer einem augenblicklichen Gelüste nach Essware oder Tranksame
erlag, wurde für weniger strafwürdig gehalten als der Dieb. Es gibt Gesetze,
welche gegenüber Tätern, die anderen Gelüsten erliegen, die gleiche Nachsicht
üben, so das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, das nach § 370 Ziff. 5
nur auf Antrag verfolgt und milder bestraft, «wer Nahrungs- oder Genussmittel
oder andere Gegenstände des hauswirtschaftlichen Verbrauchs in geringer Menge
oder von unbedeutendem Werte zum alsbaldigen Verbrauch entwendet oder
unterschlägt». Als Genussmittel im Sinne dieser Bestimmung gelten z. B.
Rauchwaren, Parfüms, Morphium, als Gegenstande hauswirtschaftlichen Verbrauchs
Heizungsmaterial,

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Beleuchtungsmittel, Putz- und Waschmittel usw. Anderen Gesetzen ist auch diese
Auffassung zu eng. Sie privilegieren schlechthin die «geringfügigen Fälle»
oder die «geringfügigen Entwendungen», mit oder ohne beispielsweise Aufzählung
des Mundraubes (z.B. Zug StG von 1876 § 117, 119 lit. b; Luzern PStG von 1915
§ 101). Auch die Entwürfe des schweizerischen Strafgesetzbuches standen von
Anfang an auf dem Boden dieser weitherzigen Auffassung. Der Vorentwurf Stooss
von 1894 bedrohte in Art. 191 mit einer Übertretungsstrafe «wer Gegenstände
von geringem Wert, insbesondere Lebensmittel, aus Not oder Leichtsinn oder zur
Befriedigung eines Gelüstes entwendet». Die Worte «insbesondere Lebensmittel»
als letzte Anspielung auf den Mundraub wurden aber schon sofort fallen
gelassen. Dass man die Wendung «zur Befriedigung eines Gelüstes» weit auslegen
wollte, wurde in der zweiten Expertenkommission durch die Bemerkung
ausgedrückt: «Envie ne doit pas être pris dans un sens trop restreint. IL y a
d'autres envies que celles des femmes enceintes qui peuvent devenir le mobile
d'un larcin» (Protokolle 6 223, Votum GAUTIER). Ein Antrag, der das Verlangen
nach Befriedigung eines Gelüstes überhaupt nicht als Grund der Privilegierung
anerkennen wollte, wurde abgewiesen (Protokolle 7 308). Bei dieser Gelegenheit
wurde betont, dass der Entwurf über die im Reichsstrafgesetzbuch niedergelegte
Auffassung hinausgehe, indem er «von fremden beweglichen Sachen im
allgemeinen» spreche (Votum HAFTER). Entsprechend der Ansicht, dass
grundsätzlich jede fremde bewegliche Sache von geringem Wert Gegenstand der
Entwendung sein könne, kommen als Beweggrand alle Gelüste in Frage, die auf
eine solche Sache gerichtet sind.
Auch die Aneignung eines Buches zur Befriedigung eines geistigen Gelüstes kann
somit eine Entwendung im Sinne des Art. 138
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 138 - 1. Wer sich eine ihm anvertraute fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern,
1    Wer sich eine ihm anvertraute fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern,
2    Wer die Tat als Mitglied einer Behörde, als Beamter, Vormund, Beistand, berufsmässiger Vermögensverwalter oder bei Ausübung eines Berufes, Gewerbes oder Handelsgeschäftes, zu der er durch eine Behörde ermächtigt ist, begeht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe196 bestraft.
StGB sein. Die Unterscheidung
zwischen «geistesbestimmten» und «triebbestimmten» Gelüsten, wie sie die
Vorinstanz macht, taugt nicht. Auch im Gebiete des Geistigen sind Triebe
wirksam. Sie können so

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stark sein wie die materiellen und gegenüber dem Täter die gleiche Nachsicht
rechtfertigen wie diese. Nichts spricht dafür, dass der Gesetzgeber den
Begriff der «Gelüste» auf niedere Triebe beschränken und das unbezähmbare
plötzliche Verlangen nach einer Sache zur Befriedigung eines geistigen
Bedürfnisses ausschliessen wollte. Der Junge, der auf dem Jahrmarkt einen
Kriminalroman entwendet, um ihn begierig zu lesen, macht nichts grundsätzlich
anderes als sein Kamerade, der nebenan Süssigkeiten nascht.
2. ­ Nach der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz war es die Empfindung
mangelhaften Wissens, die im Beschwerdeführer plötzlich das Verlangen weckte,
sich das Buch über Erasmus von Rotterdam anzueignen. Er beging die Tat, um es
zu lesen, die Lücke in seinem Wissen auszufüllen, nicht um es zu verkaufen,
sich finanziell zu bereichern. Dass er dann das Buch nach mehreren Wochen
gegen Geld veräusserte, nachdem sein Gelüste befriedigt war, ist unerbeblich.
Der Verkauf beruhte auf einem neuen Entschluss, war nicht Beweggrund der
Wegnahme.
Auch das weitere Merkmal der Entwendung, der geringe Wert der Sache, ist
erfüllt, da das Buch im Laden nur den nach den heutigen Verhältnissen
geringfügigen Betrag von Fr. 13.50 galt.
Art. 138
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 138 - 1. Wer sich eine ihm anvertraute fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern,
1    Wer sich eine ihm anvertraute fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern,
2    Wer die Tat als Mitglied einer Behörde, als Beamter, Vormund, Beistand, berufsmässiger Vermögensverwalter oder bei Ausübung eines Berufes, Gewerbes oder Handelsgeschäftes, zu der er durch eine Behörde ermächtigt ist, begeht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe196 bestraft.
StGB ist daher anwendbar.