S. 282 / Nr. 65 Prozessrecht (d)

BGE 71 II 282

65. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 6. November 1945 i.S.
Märki gegen Nüscheler.

Regeste:
Einrede der abgeurteilten Sache.
Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichtes. Identität des Streitgegenstandes.
Bedeutung der Erwägungen für die Rechtskraft des Urteils.
Exception de chose jugée.
Etendue de la compétence du Tribunal fédéral. Identité de l'objet du litige.
Importance des motifs pour la force obligatoire du jugement.
Eccezione della cosa giudicata.
Limiti della competenza del Tribunale federale. Identità dell'oggetto
litigioso. Importanza dei motivi per la forza obbligatoria del giudizio.

Aus dem Tatbestand:
Märki und Nüscheler waren Teilhaber einer Kollektivgesellschaft, die in
Konkurs kam und mit einem Verlust von Fr. 140000.­ abschloss. Märki belangte
Nüscheler auf Bezahlung von Fr. 35000.­ mit der Behauptung, er habe diesen
Betrag über den auf ihn entfallenden Hälfteanteil am Verlust der Gesellschaft
hinaus bezahlt. Das Kantonsgericht Graubünden kam zum Schlusse, der Kläger
habe den Beweis für die von ihm behaupteten Zahlungen

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nicht erbracht und wies die Klage ab. Ob dem Kläger das geltendgemachte
Rückgriffsrecht auf den Beklagten zustünde, wenn er die behaupteten Zahlungen
tatsächlich geleistet hätte, prüfte das Gericht nicht.
In der Folge erhob Märki neuerdings Klage gegen Nüscheler auf Erstattung des
auf diesen entfallenden Anteils am Verlust der Kollektivgesellschaft, den der
Kläger, wie er nunmehr beweisen könne, gedeckt habe. Das Kantonsgericht
Graubünden hiess jedoch die vom Beklagten gegenüber dieser zweiten Klage
erhobene Einrede der abgeurteilten Sache gut. Das Bundesgericht erklärt die
Einrede als unbegründet, aus folgenden
Erwägungen:
Da bei Begründetheit der Einrede der abgeurteilten Sache die Berufung ohne
weiteres abgewiesen werden müsste, ist in erster Linie diese Frage zu prüfen.
Nach der feststehenden Rechtsprechung des Bundesgerichtes ist die Einrede der
abgeurteilten Sache insoweit materiellrechtlicher Natur, als die Identität der
Parteien und die Identität der geltendgemachten Ansprüche in Frage stehen. In
diesem Umfang ist daher auch die Möglichkeit der Überprüfung durch das
Bundesgericht gegeben, wenn der Anspruch, dem die Einrede entgegengehalten
wird, vom eidgenössischen Recht beherrscht wird (BGE 66 II 56 und dort
erwähnte Entscheide).
Die Identität der Parteien in den beiden von der Vorinstanz behandelten
Prozessen steht ausser Zweifel.
Nicht beigepflichtet werden kann dagegen der Vorinstanz, dass auch Gleichheit
des Streitgegenstandes vorliege.
Die Vorinstanz nimmt an, durch das rechtskräftig gewordene Urteil im
Vorprozess sei über den klägerischen Regressanspruch endgültig im Sinne der
Abweisung entschieden worden, obwohl in den Erwägungen ausgeführt werde, der
Anspruch könne erst überprüft werden, wenn der Kläger Zahlungen für die den
Beklagten treffende

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Verlusthälfte nachweise. Denn das Dispositiv des Urteils, das für die Frage
der Identität allein massgebend sei, laute auf Abweisung der Klage, ohne jeden
Vorbehalt und ohne Beifügung der Worte «angebrachtermassen» oder «zur Zeit».
Nun ist allerdings richtig, dass der Inhalt der Entscheidungsgründe an der
Rechtskraft nicht Teil hat; dies bedeutet, dass sich die Rechtskraft nicht auf
die Feststellung von Tatsachen und Rechtsverhältnissen erstreckt, die das
Gericht zur Begründung des Urteils trifft. Dagegen bestimmt sich die
Rechtskraft des Urteils nicht nur nach der Entscheidungsformel. Vielmehr ist
aus der Gesamtheit des Urteils zu entnehmen, was das Gericht entscheiden
wollte und worüber es nach den gestellten Anträgen zu entscheiden hatte. Daher
darf auch bei der Prüfung der Frage der Identität nicht allein auf den
Wortlaut des Dispositivs abgestellt werden, sondern es sind für die Ermittlung
von dessen Tragweite auch die Urteilserwägungen heranzuziehen. Die Einrede der
abgeurteilten Sache ist deshalb nicht schon dann gegeben, wenn die
grundlegende Rechtsfrage, von der die Entscheidung abhängt, dieselbe ist wie
im Vorprozess (BGE 56 II 206). Dem Umstand, dass der Kläger in beiden
Prozessen seinen Anspruch auf das aus dem Gesellschaftsverhältnis sich
ergebende Regressrecht stützt, kommt also für sich allein noch keine
entscheidende Bedeutung zu.
Damit Identität des später geltend gemachten Anspruchs mit dem früheren
vorliegt, ist vielmehr notwendig, dass auch dieselben Tatsachen und rechtlich
relevanten Umstände, mit denen der Anspruch begründet wird, schon im
Vorprozess zum Klagefundament gehörten. So ist nach allgemein herrschender
Ansicht Identität z.B. dann nicht anzunehmen, wenn zwar aus dem nämlichen
Rechtsgrund geklagt wird wie im Vorprozess, aber eine später eingetretene
Tatsache geltend gemacht wird, durch die der Anspruch in seiner nunmehr
eingeklagten Form erst zur Entstehung gelangte, oder durch die ein Hindernis,
das

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seiner Fälligkeit oder Entstehung entgegenstund, beseitigt wurde.
Rechtsbegründende oder rechtsverändernde Tatsachen, die im Vorprozess nicht
Gegenstand der Entscheidung waren, vermögen also, wenn sie später hinzutreten,
die Identität des Streitgegenstandes auszuschliessen. Die Rechtskraft eines
Urteils hat keinen Einfluss auf später eingetretene Tatsachen, durch welche
die im Urteil verneinte Rechtsfolge oder die bisher fehlende
Rechtsschutzfähigkeit nachträglich herbeigeführt wird (so STEIN, Komm. zur
deutschen ZPO, 14. Aufl. Bd. I S. 938 f.; vgl. ferner STRÄULI-HAUSER, Komm.
zur zürcherischen ZPO § 104, Anm. 2 ff., LEUCH, Komm. zur bernischen ZPO, 2.
Aufl. Art. 194 N. 11). Im Sinne dieser Auffassung wurde z.B. die Identität des
Streitgegenstandes verneint, wenn bei einem Kaufvertrag im zweiten Prozess
Erfüllungsbereitschaft vorlag, was im ersten Verfahren noch nicht der Fall war
(BIZR 27 Nr. 45).
Auf Grund dieser Überlegungen ist auch im vorliegenden Fall die Identität des
Streitgegenstandes zu verneinen. Die Vorinstanz wies im ersten Prozess den vom
Kläger erhobenen Regressanspruch ab, weil er nach der Aktenlage noch keine
Leistungen an die den Beklagten treffende Verlusthälfte erbracht hatte. Sie
verneinte damit ein Regressrecht wegen Fehlens einer grundsätzlichen
Voraussetzung, die für die Entstehung eines Anspruches des Klägers erfüllt
sein müsste. Ob bei Vorliegen derselben eine Regresspflicht des Beklagten
gegeben wäre, untersuchte sie dagegen nicht. Seither ist der Anspruch des
Klägers nach seiner Darstellung auf Grund von ihm gemachter Zahlungen
entstanden. Es liegt deshalb ein neuer, materiellrechtlich anders begründeter
Anspruch vor, womit die Identität ausgeschlossen ist.