S. 272 / Nr. 63 Obligationenrecht (d)

BGE 71 II 272

63. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. Dezember 1946 i.S.
Hussnigg gegen Plica A.-G. und Rohrfabrik Rüschlikon A.-G.

Regeste:
Aktiengesellschaft.
Die rechtliche Selbständigkeit der sog. Einmann- oder Tochtergesellschaft
gegenüber dem einzigen Aktionär, der Muttergesellschaft, muss in Bezug auf die
rechtlichen Beziehungen des einzigen Aktionärs zu Dritten unbeachtet bleiben,
wenn das der Grundsatz von Treu und Glauben im Verkehr erfordert. Gleich
verhält es sich, wenn zwar eine Mehrheit von Aktionären vorhanden ist, einer
von diesen aber allein das Verfügungsrecht über die Aktiengesellschaft hat und
hievon auch Gebrauch macht.
Société anonyme.
Société dont toutes les actions sont en mains d'un seul actionnaire ou d'une
autre société. Le fait que cette société est juridiquement indépendante de la
personne qui détient les actions ne saurait, dans les rapports de cette
personne avec des tiers, prévaloir contre les règles de la bonne foi en
affaires. Il en est de même lorsqu'il existe une pluralité d'actionnaires mais
qu'en fait, seul l'un d'eux a le pouvoir de disposer de la société et en fait
usage.
Società anonima.
Società, le cui azioni sono tutte in mano d'un solo azionista o d'un'altra
società. Il fatto che questa società è giuridicamente indipendente dalla
persona che detiene le azioni non esclude, nei rapporti di questa persona coi
terzi, l'applicazione delle norme della buona fede negli affari. Cosi è pure
quando esistono più azionisti, ma solo uno di essi ha, di fatto, il diritto di
disporre della società e fa uso di questo diritto.

A. ­ Am 20. April 1938 verkaufte der Kläger Ing. Hussnigg dem Robert Naville
das Schweizerpatent Nr. 161059 betreffend ein Verfahren und eine Vorrichtung

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zur Herstellung schraubenförmig gerillter Schläuche in fortlaufendem
Arbeitsgang. Im Vertrag war die Übertragung des Patentes «auf den Käufer oder
auf eine von demselben namhaft gemachte Person» vorgesehen. Es wurde in
Wirklichkeit auf die Beklagte Nr. 1, die am 15. November 1938 gegründete
Rarona A.-G. übertragen, die später die Firma Plica A.-G. annahm.
Lizenznehmerin wurde die Beklagte Nr. 2, die Kopex A.-G., die am 30. November
1938 gegründet wurde und seither ihre Firma in Rohrfabrik Rüschlikon A.-G.
abgeändert hat. Naville war Aktionär in beiden Gesellschaften.
Aus dem Vertrag vom 20. April 1938 sind folgende Bestimmungen hervorzuheben:
«4. Der Verkäufer verpflichtet sich, dem Käufer alle weiter von ihm gefundenen
Verbesserungen oder Erfindungen, ob patentfähig oder nicht, auf dem den
Gegenstand des Vertrages bildenden Gebiete jeweils sofort und kostenfrei zu
überlassen. Im gleichen Sinne hat auch der Käufer dem Verkäufer seine
gesammelten Erfahrungen, Verbesserungen und Erfindungen bekannt zu geben resp.
für alle Staaten ausserhalb der Schweiz kostenlos zu überlassen».
«6. Der Käufer verpflichtet sich, ausserhalb der Schweiz keinerlei Erzeugnisse
des den Gegenstand des Vertrages bildenden Patentes zu verkaufen oder
wissentlich an Dritte für die Ausfuhr aus der Schweiz zu liefern. Desgleichen
wird der Verkäufer alle anderen Patentkäufer oder Lizenznehmer in anderen
Ländern verpflichten, weder Lieferungen nach der Schweiz durchzuführen noch
wissentlich für die Einführung in die Schweiz zu verkaufen.»
Naville verkaufte am 11: Juni 1941 sämtliche 200 Aktien der Rarona A.-G. an
die Treuhandvereinigung Fides.
B. ­ Am 5. Januar 1944 hat Ing. Hussnigg beim Handelsgericht des Kantons
Zürich gegen die Plica A.-G. und die Rohrfabrik Rüschlikon A.-G. eine Klage
eingereicht, mit der er geltend machte, dass auch die Beklagten die in Ziff. 4
und 6 des Vertrages vom 20. April 1938 von Naville übernommenen
Verpflichtungen zu erfüllen hätten, weil sie mit Naville zur Zeit der
Patentübertragung und der Lizenznahme wirtschaftlich identisch gewesen seien.
Das Handelsgericht schützte diesen Standpunkt.
Die dagegen von den Beklagten erklärte Berufung ist vom Bundesgericht
abgewiesen worden.

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in Erwägung:
Das Institut der Aktiengesellschaft wird wie andere Rechtsinstitute oft
zweckwidrig verwendet. Insbesondere kommt es vor, dass eine natürliche oder
juristische Einzelperson zum Betriebe einer Unternehmung eine rechtlich von
ihr getrennte Aktiengesellschaft gründet, um sich so den Vorteil der
beschränkten Haftung zu sichern oder aus besondern Gründen nach aussen nicht
als Betriebsinhaberin erscheinen zu müssen. Es handelt sich dabei vor allem um
die Gründung von sog. Einmann- oder Tochtergesellschaften ­ durch Beiziehung
der nötigen Strohmänner für den Gründungsakt ­ (vgl. SIEGWART, Die
zweckwidrige Verwendung von Rechtsinstituten, Freiburger Rektoratsrede 1935,
S. 10 ff., Komm. z. OR, Aktiengesellschaft, Einleitung N. 10 ff., Art. 625, N.
20 /21; WIELAND, Handelsrecht II § 123, S. 372 ff., § 124 S. 385 ff.). Wenn
auch dadurch zivilrechtlich eine besondere juristische Person geschaffen wird,
so stellt diese wirtschaftlich doch kein selbständiges Gebilde dar, sondern
ein blosses Instrument, das vollständig in der Hand seines Schöpfers, seinem
Willen dienstbar bleibt. Dieser ist wirtschaftlich mit der von ihm
geschaffenen juristischen Person identisch. Deshalb ist in einem solchen Fall
anzunehmen, dass deren rechtliche Selbständigkeit nach bestimmten Richtungen
unbeachtet bleiben müsse, so in Bezug auf die rechtlichen Beziehungen des
Gründers, des einzigen Aktionärs (der Muttergesellschaft) zu Dritten, wenn das
der Grundsatz von Treu und Glauben im Verkehr erfordert. Insbesondere gilt im
allgemeinen die Tätigkeit, der Geschäftsbetrieb der Einmann- oder
Tochtergesellschaft für den einzigen Aktionär, die Muttergesellschaft nicht
als fremder; an ein für diese geltendes Konkurrenzverbot muss sich regelmässig
auch die Einmann- oder Tochtergesellschaft halten (vgl. EGGER, Komm. z. ZGB,
2. Aufl., Art. 52 N. 6; SIEGWART, Komm. z. OR Art. 625, N. 21 ff., bes. N. 30;
WIELAND a.a.O. S. 380 ff., 394 f.). Wenn die Beklagten zur Zeit der
Patentübertragung und der Lizenzerteilung sog.

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Einmanngesellschaften mit Naville als einzigem Aktionär waren, so musste daher
ihre Geschäftstätigkeit vom Gesichtspunkt des Vertrages vom 20. April 1938 wie
Navilles eigene betrachtet werden. Es würde dem Grundsatz von Treu und Glauben
im Verkehr widersprechen, wenn Naville die Verwertung des Schweizerpatentes
Nr. 161059 durch wirtschaftlich mit ihm identische Gesellschaften vornehmen
könnte, ohne dass die von ihm mit dem Patent übernommenen Verpflichtungen zur
Unterlassung des Exportes und zur Mitteilung von Erfahrungen rechtlich auch
als solche jener Gesellschaften zu gelten hätten.
Nun hat allerdings die Vorinstanz angenommen, dass es sich in Wirklichkeit
hier nicht um Einmanngesellschaften gehandelt habe oder handle, sondern dass
neben Naville noch andere Aktionäre da seien oder vorhanden waren. Das
Bundesgericht ist an diese tatsächliche Feststellung, die übrigens nicht
bestritten ist, gebunden. Die Vorinstanz hat sich aber auf den Standpunkt
gestellt, dass jene Tatsache der Annahme nicht entgegenstehe, Naville sei mit
den beiden von ihm ins Leben gerufenen Aktiengesellschaften wirtschaftlich
identisch gewesen. Sie geht davon aus, dass Naville, obwohl er formell nicht
sämtliche Aktien in seiner Hand vereinigte, das Verfügungsrecht über jene
Gesellschaften doch allein gehabt und hievon auch Gebrauch gemacht habe. Wenn
das zutrifft, ist denn auch mit der Vorinstanz anzunehmen, dass
wirtschaftliche Identität zwischen Naville und den beiden Gesellschaften
bestanden habe, obwohl Naville nicht Eigentümer aller Aktien war. Die Annahme
der Vorinstanz, dass Naville allein über die beklagten Aktiengesellschaften
habe verfügen dürfen und verfügt habe, stützt sich auf eine Reihe von
tatsächlichen Feststellungen, u.a. darauf, dass die Verwaltungsratspräsidenten
der Gesellschaften ausschliesslich nach den Anordnungen Navilles als dessen
Beauftragte handelten, dass auch dieser allein als Verkäufer der Aktien an die
Treuhandvereinigung Fides auftrat und die Verwaltungsratspräsidenten nicht
wussten und sich nicht darum kümmerten, ob ausser ihm noch andere Aktionäre,
Eigentümer von

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Aktien, vorhanden waren. Hieraus hat die Vorinstanz ­ ohne es ausdrücklich zu
sagen ­ geschlossen, dass die neben Naville noch vorhandenen Aktionäre ihm
gegenüber verpflichtet gewesen seien, seinem Willen gemäss von ihren
Aktienrechten Gebrauch zu machen, also insofern bloss Strohmänner gewesen
seien. Diese tatsächlichen Feststellungen sind für das Bundesgericht
massgebend. Sie führen ohne weiteres zum Schluss, dass Naville im eigenen
Interesse über die beklagten Gesellschaften verfügen konnte. Diese bestreiten
das, weil nur die Hälfte der Aktien jeder Gesellschaft Naville gehört, dieser
also in Bezug auf die andere Hälfte gegenüber den Verwaltungsratspräsidenten
und der «Fides» als blosser Vertreter von Aktionären, in deren Interesse
gehandelt habe. Sie beantragen daher eine Rückweisung der Sache an die
Vorinstanz zur Einvernahme weiterer Zeugen für ein solches
Vertretungsverhältnis, das sie als Innenverhältnis bezeichnen. Allein diese
Aktenergänzung ist überflüssig. Wenn, wie die Vorinstanz festgestellt hat,
Naville nicht einziger Aktionär der beiden von ihm geschaffenen
Aktiengesellschaften war, so ist klar, dass er gegenüber den
Verwaltungsratspräsidenten und der «Fides» zum Teil ­ ohne das zu erklären ­
rechtlich als Vertreter der übrigen Aktionäre gehandelt hat. Das ist aber
deswegen unerheblich, weil diese nach der verbindlichen Feststellung der
Vorinstanz an seine Weisungen gebunden waren, ihn also trotz des rechtlichen
Vertretungsverhältnisses nach seinem Gutdünken schalten lassen mussten.
Bestand danach wirtschaftliche Identität zwischen Naville und den beklagten
Aktiengesellschaften trotz einer Mehrheit von Aktionären, so steht die
Geschäftstätigkeit dieser Gesellschaften vom Gesichtspunkt des Vertrages vom
20. April 1938 derjenigen Navilles gleich und gelten daher die von diesem in
Ziff. 4 und 6 übernommenen Verpflichtungen auch als solche der Gesellschaften,
m.a.W. es ist hier gleich zu halten wie im Falle der Einmann- und der
Tochtergesellschaft (vgl. auch SIEGWART, a.a.O., Art. 625 N. 21).