S. 205 / Nr. 55 Strafgesetzbuch (d)

BGE 70 IV 205

55. Urteil des Kassationshofes vom 24. November 1944 i.S. Stähelin gegen
Generalprokurator des Kantons Bern.

Regeste:
Art. 188
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 188 - Wer mit einer minderjährigen Person von mindestens 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
StGB.
Die Nötigung zu einer unzüchtigen Handlung kann auch durch Ausnützung von
Verblüffung und Schrecken begangen werden (Erw. 1 Abs. l).
Die angegriffene Person muss zum Widerstand vollständig unfähig sein (Erw. 1
Abs. 2).
Subjektiver Tatbestand (Erw. 2).
Vollendung und Versuch (Erw. 3).
Art. 188 CP.
On peut aussi commettre l'attentat à la pudeur avec violence en décontenançant
et en effrayant sa victime (consid. 1 al. 1).
La personne attaquée doit être mise tout à fait hors d'état de résister
(consid. 1 al. 2).
Conditions subjectives (consid. 2).
Délit consommé et tentative (consid. 3).
Art. 188 CP.
Si può commettere un attentato di libidine violento anche sbalordendo e
spaventando la vittima (consid. 1 cp. 1).
La persona aggredita dev'essere posta completamente nell'impossibilità di
resistere (consid. l cp. 2).
Condizioni soggettive (consid. 2).
Delitto consumato e tentativo (consid. 3).

A. - Adolf Stähelin stellte sich am 25. Januar 1944 Frau G. auf der Strasse
unter falschem Namen vor. Er gab

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an, er führe in Bern ein Kleidergeschäft und beabsichtige, in Steffisburg ein
Zweiggeschäft zu eröffnen. Um für dieses zu werben, liefere er an Frauen, die
er kenne, unentgeltlich ein Kleid. Er bot Frau G. ein solches an, und sie
stimmte zu, dass er ihr die Masse nehme. Am Nachmittag des folgenden Tages
begab er sich unter diesem Vorwand in ihre Wohnung. Er forderte sie auf, ihren
Rock auszuziehen, mit der Begründung, seine Arbeiterinnen verlangten äusserst
gewissenhaft aufgenommene Masse. Plötzlich entblösste er sein
Geschlechtsglied, hielt Frau G. fest, betastete ihre Brüste und griff ihr
unter die Kleider an den Geschlechtsteil. Sie war nicht imstande, sich seiner
Handlungen zu erwehren, da sie ob seinem Verhalten verblüfft und erschrocken
war und er Gewalt anwendete. Sein Begehren, dass sie ihm den Geschlechtsteil
reibe, lehnte sie ab, ebenso sein Angebot, sie zu bezahlen, wenn sie ihm den
Beischlaf gestatte.
B. - Am 8. September 1944 erklärte das Obergericht des Kantons Bern Stähelin
der Nötigung zu einer unzüchtigen Handlung (Art. 188
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 188 - Wer mit einer minderjährigen Person von mindestens 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
StGB) schuldig,
verurteilte ihn zu drei Monaten Gefängnis, unter Anrechnung von fünfzehn Tagen
Untersuchungshaft, und stellte ihn auf drei Jahre in der bürgerlichen
Ehrenfähigkeit ein.
C. - Der Verurteilte hat die Nichtigkeitsbeschwerde erklärt. Er macht geltend,
nach Art. 188
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 188 - Wer mit einer minderjährigen Person von mindestens 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
StGB sei nur strafbar, wer das Opfer durch Überwindung eines
Widerstandes zum Widerstand unfähig macht; die Ausnützung eines passiven
Verhaltens, möge es auch durch List oder dergleichen hervorgerufen worden
sein, genüge nicht. Daher falle die Tat des Beschwerdeführers nicht unter das
Gesetz. Dieses verlange übrigens, dass das Opfer zum Widerstand vollständig
unfähig sei. Auch diese Voraussetzung sei hier bei objektiver Abwägung des
Beweisergebnisses und bei Berücksichtigung der zu Gunsten des
Beschwerdeführers bestehenden Zweifel nicht erfüllt. Der Beschwerdeführer habe
ferner nicht wissen können, dass sein Ansinnen auf Ablehnung stossen werde.
Jedenfalls

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liege nur ein Versuch, nicht eine vollendete Nötigung zu einer unzüchtigen
Handlung vor.
D. - Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt die Abweisung der
Beschwerde.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.- Nach Art. 188
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 188 - Wer mit einer minderjährigen Person von mindestens 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
StGB ist strafbar, wer eine Person mit Gewalt oder durch
schwere Drohung oder nachdem er sie auf andere Weise zum Widerstand unfähig
gemacht hat, zur Duldung oder zur Vornahme einer unzüchtigen Handlung zwingt.
Diese Bestimmung verlangt weder nach ihrem Wortlaut noch nach ihrem Sinn, dass
der Täter einen Widerstand überwinden müsse. Bestraft wird er nicht, weil er
hartnäckig sein Ziel verfolgt, sondern weil er seinen Willen ohne das
Einverständnis des Opfers, das er zum Widerstand unfähig macht, durchsetzt.
Gelingt es ihm, den Widerstand der Angegriffenen auszuschalten, noch ehe sich
diese zur Wehr setzen kann, so ist er nicht weniger strafwürdig, als wenn er
des Opfers erst nach und nach, unter Überwindung eines Widerstandes, Herr
wird. Die Ausnützung von Verblüffung und Schrecken, die dem Täter erlaubt, mit
geringer körperlicher Anstrengung zum Ziel zu gelangen, wie es nach der
tatsächlichen, den Kassationshof bindenden Feststellung der Vorinstanz hier
der Fall war, taugt daher als Mittel zur Nötigung im Sinne des Art. 188
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 188 - Wer mit einer minderjährigen Person von mindestens 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
StGB.
Diese Bestimmung verlangt, dass die angegriffene Person zum Widerstand
«unfähig», d. h. vollständig unfähig sei; denn wenn sie das nicht ist, muss
die Unterlassung des Widerstandes als Einwilligung in die Tat ausgelegt
werden. Nicht nötig ist indes, dass schon das eine Mittel allein den
Widerstand ganz ausschalte oder breche. Wenn daher die Vorinstanz feststellt,
dass Frau G. aus Verblüffung einen Augenblick «beinahe wehrlos» war, schliesst
das die Anwendung des Gesetzes nicht aus. Den Rest von Widerstand, zu dem sie
trotz Verblüffung und Schrecken fähig war, überwand der Beschwerdeführer durch
Gewalt. Das

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stellt die Vorinstanz fest, indem sie erklärt, Frau G. sei durch Verbindung
von List und Gewalt unfähig gemacht worden, sich der Handlungen des
Beschwerdeführers zu erwehren.
2.- Auch in subjektiver Beziehung ist der Tatbestand der Nötigung zu
unzüchtigen Handlungen erfüllt. Nichts kommt darauf an, ob der
Beschwerdeführer die ablehnende Haltung der Angegriffenen als «eine bloss
gespielte Weigerung» ausgelegt hat, denn er nutzte die Überraschung aus, ohne
abzuwarten, wie Frau G. sich gegenüber seinem Wunsche verhalten werde. Als sie
abwehrte, war das Verbrechen schon begangen. Ihre Verblüffung hat sich der
Beschwerdeführer durch seinen unvermuteten Angriff bewusst und gewollt zunutze
gemacht. Aus der Tatsache, dass ihn Frau G. in die Wohnung kommen liess, kann
er schon deshalb nicht geschlossen haben, sie sei mit seinem Vorhaben
einverstanden, weil er wusste, dass sie seine wahre Absicht nicht kannte;
sonst wäre nicht ersichtlich, weshalb er List und Verblüffung als Mittel
wählte, um (in Verbindung mit Gewalt) zum Ziel zu gelangen.
3.- Die Entblössung des Geschlechtsgliedes, die Betastung der Brüste und der
Griff an den Geschlechtsteil der Frau G. waren unzüchtige Handlungen, denn sie
überschritten die Grenze des geschlechtlichen Anstandes, unbekümmert darum, ob
der Beschwerdeführer die Absicht hatte, noch weiter zu gehen. Das Verbrechen
des Art. 188
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 188 - Wer mit einer minderjährigen Person von mindestens 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
StGB ist vollendet, nicht bloss versucht.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.