S. 75 / Nr. 12 Familienrecht (d)

BGE 70 II 75

12. Urteil der II. Zivilabteilung vom 23. März 1944 i. S. Rohrer gegen
Sachseln.


Seite: 75
Regeste:
Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche. Die Anhörung des zu
Entmündigenden darf nicht verweigert werden, bevor sich das Gutachten von
Sachverständigen über deren Zulässigkeit ausgesprochen hat. Art. 374 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 374 - 1 Wer als Ehegatte, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner mit einer Person, die urteilsunfähig wird, einen gemeinsamen Haushalt führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet, hat von Gesetzes wegen ein Vertretungsrecht, wenn weder ein Vorsorgeauftrag noch eine entsprechende Beistandschaft besteht.
1    Wer als Ehegatte, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner mit einer Person, die urteilsunfähig wird, einen gemeinsamen Haushalt führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet, hat von Gesetzes wegen ein Vertretungsrecht, wenn weder ein Vorsorgeauftrag noch eine entsprechende Beistandschaft besteht.
2    Das Vertretungsrecht umfasst:
1  alle Rechtshandlungen, die zur Deckung des Unterhaltsbedarfs üblicherweise erforderlich sind;
2  die ordentliche Verwaltung des Einkommens und der übrigen Vermögenswerte; und
3  nötigenfalls die Befugnis, die Post zu öffnen und zu erledigen.
3    Für Rechtshandlungen im Rahmen der ausserordentlichen Vermögensverwaltung muss der Ehegatte, die eingetragene Partnerin oder der eingetragene Partner die Zustimmung der Erwachsenenschutzbehörde einholen.

ZGB.
Interdiction pour cause de maladie mentale ou de faiblesse d'esprit.
L'audition du malade ne doit pas être refusée avant que le rapport d'expertise
se soit prononcé sur son admissibilité. Art. 374 al. 2 CC.
Interdizione per infermità o debolezza di mente. L'audizione delI'interdicendo
non può essere rifiutata prima che la perizia si sia pronunciata sulla sua
ammissibilità. Art. 374 cp. 2 CC.

A. - Am 29. Dezember 1943 stellte der Bürgergemeinderat Sachseln die Brüder
Werner, Nikolaus und Ignaz Rohrer, von Sachseln, in Alpnach-Stad, wegen
Geistesschwäche gemäss Art. 369
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 369 - 1 Wird die auftraggebende Person wieder urteilsfähig, so verliert der Vorsorgeauftrag seine Wirksamkeit von Gesetzes wegen.
1    Wird die auftraggebende Person wieder urteilsfähig, so verliert der Vorsorgeauftrag seine Wirksamkeit von Gesetzes wegen.
2    Werden dadurch die Interessen der auftraggebenden Person gefährdet, so ist die beauftragte Person verpflichtet, so lange für die Fortführung der ihr übertragenen Aufgaben zu sorgen, bis die auftraggebende Person ihre Interessen selber wahren kann.
3    Aus Geschäften, welche die beauftragte Person vornimmt, bevor sie vom Erlöschen ihres Auftrags erfährt, wird die auftraggebende Person verpflichtet, wie wenn der Auftrag noch bestehen würde.
ZGB unter Vormundschaft. Der Beschluss stützte
sich im wesentlichen auf das Gutachten eines Arztes, worin die Genannten als
schwachsinnig bezeichnet werden. Der Gemeinderat fügte bei, dass die
Bevormundung auch wegen Misswirtschaft im Sinne des Art. 370
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 370 - 1 Eine urteilsfähige Person kann in einer Patientenverfügung festlegen, welchen medizinischen Massnahmen sie im Fall ihrer Urteilsunfähigkeit zustimmt oder nicht zustimmt.
1    Eine urteilsfähige Person kann in einer Patientenverfügung festlegen, welchen medizinischen Massnahmen sie im Fall ihrer Urteilsunfähigkeit zustimmt oder nicht zustimmt.
2    Sie kann auch eine natürliche Person bezeichnen, die im Fall ihrer Urteilsunfähigkeit mit der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt die medizinischen Massnahmen besprechen und in ihrem Namen entscheiden soll. Sie kann dieser Person Weisungen erteilen.
3    Sie kann für den Fall, dass die bezeichnete Person für die Aufgaben nicht geeignet ist, den Auftrag nicht annimmt oder ihn kündigt, Ersatzverfügungen treffen.
ZGB möglich wäre.
Die Brüder Rohrer waren vor der Entmündigung nicht angehört worden. Das
Gutachten hatte sich über die Zulässigkeit einer solchen Anhörung nicht
ausgesprochen.
B. - Auf Rekurs der Entmündigten hin bestätigte der Regierungsrat des Kantons
Obwalden am 22. Januar 1944 die Bevormundung wegen Geistesschwäche. Die
Auffassung der Rekurrenten, dass sie vor der Entmündigung hätten angehört
werden müssen, lehnte er unter Hinweis auf ihre Erregbarkeit und
Gefährlichkeit ab.
C. - Gegen diesen Entscheid richtet sich die vorliegende zivilrechtliche
Beschwerde der Entmündigten. Sie halten am Einwand fest, dass sich das
Gutachten über die Zulässigkeit ihrer vorgängigen Anhörung nicht geäussert
habe. Ausserdem bestreiten sie, schwachsinnig zu sein.

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D. - In seiner Vernehmlassung erachtet der Regierungsrat es für unerheblich,
dass sich das Gutachten über die Zulässigkeit der Anhörung nicht ausspreche;
denn aus Art. 374 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 374 - 1 Wer als Ehegatte, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner mit einer Person, die urteilsunfähig wird, einen gemeinsamen Haushalt führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet, hat von Gesetzes wegen ein Vertretungsrecht, wenn weder ein Vorsorgeauftrag noch eine entsprechende Beistandschaft besteht.
1    Wer als Ehegatte, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner mit einer Person, die urteilsunfähig wird, einen gemeinsamen Haushalt führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet, hat von Gesetzes wegen ein Vertretungsrecht, wenn weder ein Vorsorgeauftrag noch eine entsprechende Beistandschaft besteht.
2    Das Vertretungsrecht umfasst:
1  alle Rechtshandlungen, die zur Deckung des Unterhaltsbedarfs üblicherweise erforderlich sind;
2  die ordentliche Verwaltung des Einkommens und der übrigen Vermögenswerte; und
3  nötigenfalls die Befugnis, die Post zu öffnen und zu erledigen.
3    Für Rechtshandlungen im Rahmen der ausserordentlichen Vermögensverwaltung muss der Ehegatte, die eingetragene Partnerin oder der eingetragene Partner die Zustimmung der Erwachsenenschutzbehörde einholen.
ZGB lasse sich nur eine Sollvorschrift ableiten, den
wegen Geistesschwäche zu Entmündigenden anzuhören, wenn dies tunlich
erscheine.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Nach Art. 374 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 374 - 1 Wer als Ehegatte, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner mit einer Person, die urteilsunfähig wird, einen gemeinsamen Haushalt führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet, hat von Gesetzes wegen ein Vertretungsrecht, wenn weder ein Vorsorgeauftrag noch eine entsprechende Beistandschaft besteht.
1    Wer als Ehegatte, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner mit einer Person, die urteilsunfähig wird, einen gemeinsamen Haushalt führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet, hat von Gesetzes wegen ein Vertretungsrecht, wenn weder ein Vorsorgeauftrag noch eine entsprechende Beistandschaft besteht.
2    Das Vertretungsrecht umfasst:
1  alle Rechtshandlungen, die zur Deckung des Unterhaltsbedarfs üblicherweise erforderlich sind;
2  die ordentliche Verwaltung des Einkommens und der übrigen Vermögenswerte; und
3  nötigenfalls die Befugnis, die Post zu öffnen und zu erledigen.
3    Für Rechtshandlungen im Rahmen der ausserordentlichen Vermögensverwaltung muss der Ehegatte, die eingetragene Partnerin oder der eingetragene Partner die Zustimmung der Erwachsenenschutzbehörde einholen.
ZGB darf die Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder
Geistesschwäche nur nach Einholung eines Gutachtens erfolgen, das sich auch
über die Zulässigkeit einer vorgängigen Anhörung des zu Entmündigenden
auszusprechen hat. Im vorliegenden Falle sind die Interdizenden vor der
Entmündigung nicht angehört worden, ohne dass sich der Sachverständige über
die Zulässigkeit der Anhörung geäussert hatte. Indessen darf die Anhörung nach
dem Gesetz nicht ohne vorherige Befragung des Experten verweigert werden. Die
Vorschrift des Art. 374 Abs. 2 ist zum Schutze des zu Entmündigenden
aufgestellt, daher auch die Frage nach der Zulässigkeit einer Anhörung
desselben dem Experten in jedem Falle zu unterbreiten. Das Bundesrecht
verpflichtet allerdings die Behörde nicht, in allen Fällen zur Anhörung zu
schreiten, wenn der Experte sie als zulässig erklärt. Sie kann unterbleiben,
wenn die Behörde in der ihr zustehenden Beweiswürdigung das Gutachten nicht
für schlüssig erachtet oder die Anhörung nach Lage der Akten (z. B. wegen
völliger Verblödung des Interdizenden) zwecklos erscheint. Das Bundesrecht
hindert die Behörde auch nicht, allfällig ein weiteres Gutachten einzuholen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und die von den Vorinstanzen angeordnete
Bevormundung der Beschwerdeführer aufgehoben.