S. 44 / Nr. 8 Verfahren (d)

BGE 69 IV 44

8. Entscheid der Anklagekammer vom 19. April 1943 i. S. de Carnap gegen
Generalprokurator des Kantons Bern.

Regeste:
1. Voraussetzungen der Änderung des Gerichtsstandes, wenn im Verfahren neue
Tatsachen bekannt werden (Erw. 2).
2. Art. 263 BStrP (Art. 399 lit. e StGB). Voraussetzungen der Teilung der
Gerichtsbarkeit beim Zusammentreffen strafbarer Handlungen (Erw. 3).
1. Conditions du changement de for lorsque la procédure révèle de nouveaux
faits (consid. 2).
2. Art. 263 PPF (art. 399 litt. e CP). Conditions du partage de la juridiction
en cas de concours d'infractions (consid. 3).
1. Presupposti di un cambiamento di foro, quando nel corso della procedura
emergono nuovi fatti (consid. 2).
2. Art. 263 PPF art. 399 lett. e CP). Presupposti della suddivisione della
competenza in caso di concorso di reati (consid. 3).

A. ­ Henri de Carnap, Bürger von Genf, ist beschuldigt, sich folgender
strafbarer Handlungen schuldig gemacht zu haben:
1. Am 14. Juli 1940 in einer Pension in Vevey:
a) des Diebstahls zum Nachteil von Wwe. A. de Blonay an Fr. 158.­, einem
goldenen Ring im Werte von Fr. 1000.­, einem zweiten goldenen Ring mit
Edelstein und einer goldenen Kette;
b) des Diebstahls zum Nachteil von Yvonne Rochat an einer goldenen Kette,
einem goldenen Ring mit Saphir und einem goldenen Ring mit einem Diamanten;

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c) des Diebstahls zum Nachteil von Dora Schneider an Fr. 1.95;
2. am 19. Januar 1942 in Montreux der Zechprellerei, wobei ein Schaden von Fr.
78.85 entstand;
3. am 23. Januar 1942 in Lausanne der Zechprellerei, wobei ein Schaden von Fr.
8.­ entstand;
4. am 12./13. Februar 1942 im Kanton Neuenburg des Verweisungsbruchs;
5. am 13. Februar 1942 in Neuenburg der Zechprellerei, wobei ein Schaden von
Fr. 8.60 entstand;
6. am 20. Februar 1942 in Baden der Zechprellerei, wobei ein Schaden von Fr.
6.50 entstand;
7. am 20. Februar 1942 in einem Hotel in Baden:
a) des Diebstahls an einem Geldbeutel mit Fr. 22.­ Inhalt zum Nachteil der
Elisa Kälin;
b) des Diebstahls an Fr. 40.­, einem goldenen Ring im Werte von Fr. 120.­und
einer Brosche im Werte von Fr. 12.­;
8. vom 23. bis 26. Februar 1942 im Kanton Freiburg des Verweisungsbruchs;
9. am 26. Februar 1942 in einem Hotel in Freiburg des Diebstahls an Fr. 50.50;
10. am 26. Februar 1942 in Freiburg der Zechprellerei, wobei ein Schaden von
Fr. 9.­ entstand;
11. am 1. März 1942 in Bern der Zechprellerei, wobei ein Schaden von Fr. 2.­
entstand;
12. am 1. März 1942 in Bern in einer Pension eines Diebstahls an Fr. 200.­;
13. am 2. März 1942 in Bern eines Diebstahls an Fr. 110.- und an einer
Lebensmittelkarte;
14. im Jahre 1942 im Kanton Bern wiederholt des Verweisungsbruchs.
B. ­ Die Kantone einigten sich auf den Gerichtsstand Bern. Die drei Diebstähle
vom 14. Juli 1940 wurden de Carnap damals noch nicht zur Last gelegt. Ein
Gesuch des Beschuldigten, mit Rücksicht auf die in Montreux und Lausanne
begangenen Zechprellereien die Behörden des

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Kantons Waadt zuständig zu erklären, wies die Anklagekammer des Bundesgerichts
am 25. September 1942 ab.
C. ­ Das Amtsgericht von Bern, dem der Beschuldigte zur Beurteilung überwiesen
ist, hat am 4. August 1942 die Hauptverhandlung begonnen und sie am 5. Oktober
und 9. November 1942 fortgesetzt. Im letzten Termin erklärte der Beschuldigte,
er habe im Sommer 1940 in Vevey gestohlen. Im Einverständnis mit den Behörden
des Kantons Waadt übernahm hierauf der Kanton Bern die Verfolgung des
Beschuldigten für die in Vevey begangenen Diebstähle.
D. ­ Durch Gesuch vom 18. März 1943 an die Anklagekammer des Bundesgerichts
bestreitet de Carnap die Zuständigkeit der bernischen Behörden zur Beurteilung
dieser Diebstähle. Er beantragt, die Behörden des Kantons Waadt zuständig zu
erklären.
E. ­ Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt Abweisung des Gesuchs.
Die Anklagekammer hat erwogen:
1. ­ Jeder der in den Kantonen Waadt, Aargau, Freiburg und Bern begangenen
Diebstähle ist mit der gleichen Strafe bedroht: Gefängnis oder Zuchthaus bis
zu fünf Jahren (Art. 137 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 137 - 1. Wer sich eine fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird, wenn nicht die besonderen Voraussetzungen der Artikel 138-140 zutreffen, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
1    Wer sich eine fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird, wenn nicht die besonderen Voraussetzungen der Artikel 138-140 zutreffen, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
2    Hat der Täter die Sache gefunden oder ist sie ihm ohne seinen Willen zugekommen,
StGB), eventuell Gefängnis nicht unter drei
Monaten oder Zuchthaus bis zu zehn Jahren (Art. 137 Ziff. 2
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 137 - 1. Wer sich eine fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird, wenn nicht die besonderen Voraussetzungen der Artikel 138-140 zutreffen, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
1    Wer sich eine fremde bewegliche Sache aneignet, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird, wenn nicht die besonderen Voraussetzungen der Artikel 138-140 zutreffen, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
2    Hat der Täter die Sache gefunden oder ist sie ihm ohne seinen Willen zugekommen,
StGB). Für die
anderen Vergehen (Zechprellerei, Verweisungsbruch) ist die Strafe milder. Im
Kanton Waadt ist die Untersuchung (gegen unbekannten Täter) zuerst angehoben
worden. Wäre rechtzeitig bekannt gewesen, dass de Carnap als Täter der in
Vevey begangenen Diebstähle in Frage kommt, so hätten daher gemäss Art. 350
Ziff. 1 Abs. 2
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 350 - 1 Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
1    Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
2    Es ist zuständig für die Informationsvermittlung zwischen den Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen einerseits sowie den Nationalen Zentralbüros anderer Staaten und dem Generalsekretariat von INTERPOL andererseits.
StGB die waadtländischen Behörden zuständig erklärt werden
müssen.
2. ­ Heute ist es anders. Zwar ist die nachträgliche Änderung des
Gerichtsstandes nicht schon aus grundsätzlichen Erwägungen unzulässig, selbst
dann nicht, wenn, wie hier, der Gerichtsstand schon einmal durch die

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Anklagekammer festgesetzt worden ist. Neue Tatsachen können immer
berücksichtigt werden (Entscheid der Anklagekammer vom 1. Februar 1943 in
Sachen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen gegen Gurtner). Nur dann
sollen sie jedoch den Gerichtsstand ändern, wenn triftige Gründe dafür
sprechen (vgl. auch WAIBLINGER, SZSt 57 93).
Hier bestehen keine solchen. Wenn Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 350 - 1 Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
1    Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
2    Es ist zuständig für die Informationsvermittlung zwischen den Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen einerseits sowie den Nationalen Zentralbüros anderer Staaten und dem Generalsekretariat von INTERPOL andererseits.
StGB Gewicht legt
auf den Ort, wo die Untersuchung zuerst angehoben wurde, so nur deshalb, weil,
wenn das Kriterium der Schwere der Strafdrohung versagt, die Untersuchung dort
fortgeführt werden soll, wo sie am längsten anhängig und daher in der Regel
auch schon am weitesten fortgeschritten ist. Dieser Gedanke spricht hier nicht
für die Zuständigkeit der waadtländischen, sondern im Gegenteil für die der
bernischen Behörden. Die am 14. Juli 1940 in der Waadt angehobene Untersuchung
wurde am 23. September 1940 eingestellt, weil der Täter nicht ermittelt werden
konnte. Die bernische Untersuchung, obgleich später angehoben, dauerte nicht
nur länger, sondern rückte auch weiter vor. Die Änderung des Gerichtsstandes
wäre mit dem Grundsatz der Prozessökonomie nicht vereinbar. Dem Schwergewicht
der strafbaren Tätigkeit trägt die Anklagekammer bei der Bestimmung des
Gerichtsstandes nur dann Rechnung, wenn es auffällig zugunsten der
Zuständigkeit eines bestimmten Kantons spricht. Dies ist hier nicht der Fall,
obschon dem Gesuchsteller vorgeworfen wird, im Kanton Waadt wertvollere Sachen
gestohlen zu haben als in den anderen Kantonen.
3. ­ Der Gesuchsteller wünscht eine Teilung der Gerichtsbarkeit zwischen den
Kantonen Bern und Waadt. Sie wäre gestützt auf Art. 263 BStrP (Art. 399 lit. e
StGB) an sich möglich (Entscheid der Anklagekammer vom 17. November 1942 i. S.
Untersuchungsrichteramt Oberhasli gegen Untersuchungs- und Überweisungsbehörde
des Kantons Obwalden). Der primäre Wille des Gesetzes (Art. 68 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 68 - 1 Ist die Veröffentlichung eines Strafurteils im öffentlichen Interesse, im Interesse des Verletzten oder des Antragsberechtigten geboten, so ordnet sie das Gericht auf Kosten des Verurteilten an.
1    Ist die Veröffentlichung eines Strafurteils im öffentlichen Interesse, im Interesse des Verletzten oder des Antragsberechtigten geboten, so ordnet sie das Gericht auf Kosten des Verurteilten an.
2    Ist die Veröffentlichung eines freisprechenden Urteils oder einer Einstellungsverfügung der Strafverfolgungsbehörde im öffentlichen Interesse, im Interesse des Freigesprochenen oder Entlasteten geboten, so ordnet sie das Gericht auf Staatskosten oder auf Kosten des Anzeigers an.
3    Die Veröffentlichung im Interesse des Verletzten, Antragsberechtigten, Freigesprochenen oder Entlasteten erfolgt nur auf deren Antrag.
4    Das Gericht bestimmt Art und Umfang der Veröffentlichung.
, Art.
350
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 350 - 1 Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
1    Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
2    Es ist zuständig für die Informationsvermittlung zwischen den Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen einerseits sowie den Nationalen Zentralbüros anderer Staaten und dem Generalsekretariat von INTERPOL andererseits.
StGB), zusammentreffende Taten

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gemeinsam beurteilen und gesamthaft strafen zu lassen, verlangt jedoch, von
der Möglichkeit der Trennung des Verfahrens zurückhaltend Gebrauch zu machen.
Im vorliegenden Fall sind mit der gemeinsamen Beurteilung keinerlei Nachteile
verbunden und ist die Trennung daher nicht am Platze.
Demnach hat die Anklagekammer erkannt:
Der Gesuchsteller ist für sämtliche Taten durch die bernischen Behörden zu
verfolgen und zu beurteilen.