S. 324 / Nr. 54 Eisenbahnhaftpflicht (d)

BGE 69 II 324

54. Urteil der II. Zivilabteilung vom 23. September 1943 i. S. Schweiz.
Bundesbahnen gegen Merki.

Regeste:
Eisenbahnhaftpflicht.
1. Zu frühes Ein- bezw. Ausfahrenlassen von Zügen: Verschulden der Bahn oder
objektive Gefahrenhöhung?
2. Das Uebersteigen eines stehenden Zuges, um einen andern Zug bezw. den
Ausgang zu gewinnen, bildet Selbstverschulden des dabei verunfallten
Reisenden. Optische Täuschung als Schuldbefreiungsgrund. (Art. 1 EHG).
Responsabilité civile des entreprises de chemins de fer.
1. Le fait de permettre trop tôt l'entrée ou la sortie d'un train
constitue-t-il une faute de l'entreprise ou l'aggravation du risque inhérent à
l'exploitation?
2. Celui qui franchit un train arrêté pour en gagner un autre ou la sortie de
la gare commet, en cas d'accident, une faute concurrente. Illusion d'optique
invoquée comme motif libératoire. (Art. l LRC).
Responsabilità civile delle imprese di strade ferrate.
1. Il fatto di permettere troppo presto l'entrata o l'uscita d'un treno
costituisce una colpa dell'impresa o l'aggravamento del pericolo inerente
all'esercizio ferroviario?

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2. A chi sale su un treno fermo per raggiungerne un altro o l'uscita della
stazione è imputabile in caso d'infortunio, una colpa concomitante. Illusione
ottica invocata come motivo liberatorio (art. 1 LRCF).

A. - Der Bahnhof Langenthal besitzt keine Unterführungen. Zwischen dem
unmittelbar vor dem Stationsgebäude liegenden Bahnsteig I und einem zweiten,
für die Züge nach Huttwil bestimmten Bahnsteig II befinden sich drei Geleise:
das dem Bahnsteig I zunächst liegende Geleise 1 für die Züge Richtung Bern,
das mittlere Geleise 2 für die Züge Richtung Olten, und das am Bahnsteig II
liegende Geleise 3 für die Züge Richtung Huttwil. Auf einem jenseits des
Bahnsteigs II liegenden Geleise 4 kommen die Züge von Huttwil an.
Am Samstag den 26. Mai 1940, unter der Herrschaft des Kriegsfahrplans, traf
Frau Dr. Merki von Huttwil herkommend um 20.57 (statt um 20.53 Uhr) auf dem
Geleise 4 ein, um mit dem laut Fahrplan um 20.57 ankommenden und um 21.00 Uhr
abfahrenden Zug nach Olten weiterzufahren. Da dieser Zug noch nicht
eingefahren war, begab sie sich vom Bahnsteig II auf den Bahnsteig I hinüber.
Im Bahnhof herrschte ein aussergewöhnliches Gedränge von Militärurlaubern und
deren Angehörigen sowie Sonntagsausflüglern; es regnete und war bereits
dunkel.
Um 21.05 Uhr (statt fahrplanmässig um 20.54 Uhr) fuhr auf Geleise 1 der Zug
(Nr. 5090) Olten-Bern ein. Kurz darauf kam, ebenfalls mit einiger Verspätung,
der 20.57 fällig gewesene Gegenzug Bern-Olten (Nr. 5081) an. Der
Abfertigungsbeamte hatte ihn zuerst vor dem Einfahrtssignal angehalten, dann
aber nach kurzem Warten auf seinem Geleise 2 einfahren lassen, in der Meinung,
der inzwischen zur Abfahrt freigegebene Zug nach Bern werde bis zum Anhalten
des Oltener Zuges abgefahren sein. Diese Annahme erwies sich indessen als
unrichtig; zufolge des Aufladens ungewöhnlich vieler Fahrräder stand der
Berner Zug noch auf Geleise 1 still, als der

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Oltener Zug um 21.08 auf Geleise 2 einfuhr und anhielt, sodass die beiden
Gegenzüge während ganz kurzer Zeit (höchstens eine Minute) nebeneinander
standen. In dieser Zeitspanne überstiegen zahlreiche Reisende die Treppen und
Plattformen des Berner Zuges, und zwar sowohl solche, die mit dem Oltener Zug
angekommen über Bahnsteig I den Bahnhof verlassen, als solche, die von
Bahnsteig I aus den Zug nach Olten nehmen wollten. Unter den letztern befand
sich auch Frau Dr. Merki. Als sie von der Plattform des Berner Zuges in den
1.05 m breiten, mit Reisenden besetzten Zwischenraum zwischen den beiden Zügen
hinunterzusteigen sich anschickte, setzte sich der Zug, auf dem sie sich
befand, nach erhaltenem Abfahrtssignal in Bewegung (zwischen 21.08 und 09).
Nach anfänglichem Zögern sprang sie, die rechte Hand am rechten Haltegriff, in
der linken einen Handkoffer, rechtwinklich oder sogar gegen die Fahrtrichtung
ab. Sie kam zu Fall, ohne Schaden zu nehmen, wurde dann aber beim Versuch,
sich zu erheben, durch den an der Unterseite des Wagens befindlichen
Batteriekasten erfasst und mit den Beinen so auf die Schiene geworfen, dass
die Räder über sie hinwegfuhren, bevor der Zug nach wenigen Metern Laufes
angehalten werden konnte. Im Spital Langenthal musste ihr das linke Bein
oberhalb, das rechte unterhalb des Knies amputiert werden.
B. - Die Verunfallte belangte die SBB auf Bezahlung von Fr. 15230.- nebst 5 %
Zins seit 17. März 1942 sowie einer lebenslänglichen monatlichen Rente von Fr.
719.80 seit dem Unfalltag, ev. einer entsprechenden Kapitalabfindung. - Die
Beklagten lehnten jede Haftpflicht ab.
C. - Das Zivilgericht des Kantons Basel Stadt hiess die Klage in reduziertem
Betrage gut und verurteilte die Beklagten zur Zahlung von Fr. 5815.25 nebst
Zins zu 5 % seit 17. März 1942 und einer monatlichen Rente von Fr. 200.- seit
26. Mai 1940. Das Zivilgericht anerkannte Unfallauslagen der Klägerin und
ihrer Angehörigen in

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der - von den SBB nicht bestrittenen - Höhe von Fr. 5230.45 sowie einen
dauernden Schaden an Erwerbseinbusse, an Kosten für Dienstmädchen,
Inkonvenienzen und Prothesenersatz im Betrage von Fr. 400.- im Monat, nahm
jedoch mit Rücksicht auf das Selbstverschulden der Klägerin eine Herabsetzung
dieser Schadenersatzposten um die Hälfte vor; endlich sprach es der Klägerin
eine Genugtuungssumme von Fr. 3000.- zu.
D. - Gegen dieses Urteil appellierten die Beklagten mit dem Antrag auf
Abweisung der Klage, ev. Herabsetzung der monatlichen Rente auf Fr. 50.-. Mit
Anschlussappellation verlangte die Klägerin Erhöhung der Kapitalentschädigung
auf Fr. 6922.85 nebst Zins und der monatlichen Rente auf Fr. 395.-.
Mit Urteil vom 7. Mai 1943 hat das Appellationsgericht Basel-Stadt die
Appellation der Beklagten abgewiesen und die Anschlussappellation der Klägerin
teilweise gutgeheissen in dem Sinne, dass es den Abzug wegen
Selbstverschuldens auf 25 % ermässigte und demgemäss die Kapitalentschädigung
auf Fr. 6922.85 nebst Zins zu 5 % seit 17. März 1942 und die monatliche Rente
auf:Fr. 300.- festsetzte; den Beklagten wurden die ordentlichen Kosten beider
Instanzen mit Einschluss der Gerichtsgebühren von zusammen Fr. 3750.- sowie
eine Parteientschädigung von Fr. 5000.- auferlegt.
E. - Mit der vorliegenden Berufung beantragen die SBB Abweisung der Klage, ev.
Herabsetzung der zugesprochenen Beträge wegen Selbstverschuldens auf höchstens
1/4 des ausgewiesenen Schadens. Die Klägerin trägt auf Bestätigung des Urteils
an.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Verkehrsverhältnisse im
Bahnhof Langenthal zur Zeit des Unfalls für die Reisenden eine wesentliche
Erhöhung der normalerweise mit dem Eisenbahnbetrieb verbundenen Gefahren
darstellten. An objektiven gefahrerhöhenden

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Umständen fallen ins Gewicht die aussergewöhnliche Menge von reisendem und
nicht reisendem Publikum auf dem Bahnhof, vermehrt durch
Militärurlauberextrazüge, das daherige Gedränge und Stimmengeräusch, die
Verspätung der einlaufenden Züge, der Regen, der offenbar die Leute noch mehr
unter das Bahnsteigdach zusammendrängte, und die Dunkelheit. Das Fehlen von
Unterführungen war der Klägerin, die den Bahnhof Langenthal oft benutzte,
bekannt und kann den SBB nicht zum Verschulden angerechnet werden, da der
Ausbau der Bahnhofanlagen nicht eine Frage ihres guten Willens, sondern
finanzieller Voraussetzungen ist. Wohl aber bedeutete die Gesamtheit dieser
den Verkehr erschwerenden Umstände für die Bahnorgane die Verpflichtung zu
besonders sorgfältiger Abwicklung des Bahnbetriebes.
a) Dass das im Dienst befindliche Personal - ein Abfertigungsbeamter, ein
Kassenbeamter, drei Gepäckarbeiter - bei dem ungewöhnlichen Andrang
zahlenmässig für die Organisierung eines genügenden Ordnungsdienstes nicht
ausreichte, kann der Beklagten nicht zum Vorwurf gemacht werden. Es liegt auf
der Hand, dass es der Grundsatz der kaufmännischen Führung des Unternehmens
nicht gestattet, den einzelnen Bahnhof dauernd mit soviel Personal
auszustatten, wie es in Stosszeiten wünschbar wäre. Ob es in Voraussicht
grosser Beanspruchung des Bahnhofs zu verantworten war, dass der Vorstand
Stähli gerade an jenem Sonntag dienstfrei war, kann dahingestellt bleiben;
denn es würde am Kausalzusammenhang fehlen, weil der Vorstand zur Zeit des
Unfalls tatsächlich im Bahnhof anwesend war und mithalf.
b) Das Hauptverschulden der Beklagten haben beide Vorinstanzen darin erblickt,
dass der Abfertigungsbeamte den Oltener Zug habe zu früh ein-, den Berner Zug
zu früh ausfahren lassen.
Ob das Einfahrenlassen des Oltener Zuges vor der Ausfahrt des abfahrbereiten
Berner Zuges wirklich gegen

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die Vorschrift des Art. 47 IV Ziff. 13 des Reglements über den Fahrdienst
verstösst, erscheint keineswegs so «ganz offensichtlich», wie das Zivilgericht
annimmt. Nach seinem Titel bezieht sich Art. 47 sowohl auf ein- als auf
doppelspurige Linien. Auf erstern ist das Kreuzen überhaupt nur in Bahnhöfen
und in der Weise möglich, dass der zuerst ankommende Zug anhält, worauf der
zweite einfährt und entweder ebenfalls anhält oder durchfährt; Kreuzung ist
dann unter Umständen gar nicht möglich, ohne dass sich beide Züge gleichzeitig
im Bahnhof befinden. Wenn also Ziff. 13 das «gleichzeitige Einlassen» von
Zügen verbietet, so kann bei eingeleisigen Linien damit nicht gemeint sein,
dass zu einem im Bahnhof stehenden Zug nicht noch ein zweiter in Gegenrichtung
eingelassen werden dürfe, sondern nur, dass die zwei Züge nicht gleichzeitig
fahren dürfen. (Dies geht auch aus der anschliessenden Ziff. 14 über die
Reihenfolge des Einfahrens hervor). Es ist nicht anzunehmen, dass der Begriff
«gleichzeitiges Einlassen» für doppelspurige Linien, auf die die Bestimmung
sich auch bezieht, etwas anderes bedeuten sollte. Dass auch in der
Sonderbestimmung für doppelspurige Linien, Art. 48, der Ausdruck
«gleichzeitiges Einfahren» nichts anderes meint, erhellt aus dem Zusatze
«zweier aus entgegengesetzter Richtung kommender Züge»; denn wenn damit auch
das Einfahren eines Zuges zu einem bereits in der Station haltenden Zuge
gemeint wäre, so käme ja gar nichts darauf an, aus welcher Richtung der schon
dastehende Zug gekommen ist.
Wäre indessen die weitere Auslegung des Art. 47 IV Ziff. 13 durch die
Vorinstanz die richtige und mithin das Einfahren des Oltener Zuges vor dem
Ausfahren des Berner Zuges fehlerhaft gewesen, so würde es am adäquaten
Kausalzusammenhang zwischen dieser Massnahme und dem Unfall fehlen. Denn indem
der Oltener Zug hinter dem noch stillstehenden Berner Zug anhielt, wurden nur
die aus jenem Zug ausgestiegenen Reisenden gefährdet,

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die sich in den schmalen Zwischenraum zwischen den beiden Zügen begeben
mussten, nicht aber die auf dem Bahnsteig I auf den Oltener Zug wartenden
Reisenden; diese konnten ruhig warten, bis der abfahrtbereite, das Geleise 1
sperrende Berner Zug abgefahren sein würde, um dann ungehindert über das
Geleise 1 hinweg ihren Zug zu erreichen.
Die Beklagten machen allerdings geltend, der Abfertigungsbeamte habe dem
Oltener Zug die Einfahrt in dem Moment freigegeben, als der Berner Zug beinah
abfahrtsbereit gewesen sei, sodass sich ohne die kleine Verzögerung zufolge
des Einladens aussergewöhnlich vieler Fahrräder die beiden Züge in Fahrt
gekreuzt hätten, und anerkennen ausdrücklich, dass es in der Regel so gehalten
werde. Wenn im vorliegenden Falle die Berechnung nicht genau stimmte, so kann,
beim Fehlen einer klaren dahingehenden Vorschrift, kein eigentliches
Verschulden der Bahnorgane daraus abgeleitet werden; wohl aber liegt in dieser
den Reisendenverkehr zweifellos erheblich komplizierenden Situation eine
besondere Erhöhung der Betriebsgefahr, die das Selbstverschulden der
Verunfallten bis zu einem gewissen Grade kompensiert.
Was dagegen die Abfahrt des Berner Zuges anbelangt, kann ein Verschulden der
Bahnorgane nicht verneint werden. Freilich war es, nachdem einmal durch die
Einfahrt des Oltener Zuges die Verkehrslage für die Reisenden unübersichtlich
geworden war, nicht leicht, jede Gefährdung beim Ausfahren des Berner Zuges
auszuschliessen. Das Bahnpersonal konnte und musste indessen sehen, dass der
Zug von beiden Seiten überstiegen wurde. Es war daher seine Pflicht, den
Berner Zug entweder noch einige Minuten warten zu lassen, bis die
Überkletterung desselben beendet sein würde, oder ihn erst nach gründlicher
Warnung der Reisenden abfahren zu lassen. Die Abfahrt des Berner Zuges mitten
in der durch die Einfahrt des Oltener Zuges entstandenen Unordnung und nur
wenige Minutenbruchteile nach dem Anhalten dieses

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Zuges, also im kritischsten Moment, brachte eine ausserordentliche Gefährdung
nicht nur der noch auf den Plattformen befindlichen, sondern vor allem auch
der vielen Personen, die aus dem Oltener Zug ausgestiegen waren und in dem
Engpass zwischen den beiden Zügen auf die Abfahrt des Berner Zuges warteten.
Diese Gefahrsituation war im Moment der Abgabe des Abfahrtssignals bereits
verwirklicht; denn die Übersteigung des Zuges war im Gange. Angesichts der
unmittelbaren, erkennbaren Gefährdung kam ihrer Vermeidung der Vorrang zu vor
der Sorge um die Einhaltung des Fahrplans bezw. um die Einholung der bereits
vorhandenen Verspätung, sowenig auch ausser acht gelassen werden darf, dass
jede neue Verspätung im weitern Verlaufe der Fahrt anderswo zu einer
Gefährdung führen kann.
2.- Zu den der Klägerin gemachten Vorwürfen führt die Vorinstanz aus, durch
das vorschriftswidrige Einfahrenlassen des Oltener Zuges seien die Reisenden
verleitet worden, den Berner Zug zu übersteigen, um den dahinter haltenden
Oltener Zug, dessen reguläre Abfahrtszeit schon überschritten gewesen sei,
noch rechtzeitig zu erreichen. Dass nun die Klägerin in der Unordnung des
damaligen Reiseverkehrs wie viele Mitreisende ebenfalls den Berner Zug
überstiegen habe, könne ihr nicht als Verschulden angerechnet werden. Dieser
Auffassung kann indessen nicht beigepflichtet werden. Das Übersteigen eines
haltenden Zuges bei Verlassen oder Besteigen eines andern ist ein Unfug, der
im vorliegenden Falle weder durch den Umstand, dass ihn mehrere Reisende
begingen, noch durch die zeitliche und örtliche Konstellation der Züge
entschuldigt wird. Die Klägerin musste sich sagen, dass nicht der soeben erst
eingefahrene Oltener Zug vor dem abfahrtsbereiten Berner Zug wieder abfahren
werde. Dass der letztere abfahrtsbereit war, konnte sie daraus schliessen,
dass er bereits einige Minuten anhielt und das Ein- und Aussteigen der
Reisenden gänzlich, das Einladen der Velos beinahe beendet war. Sie hätte

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also ruhig auf dem Bahnsteig I die Abfahrt des Berner Zuges abwarten können.
Brachte sie aber diese Geduld nicht auf, so hatte sie erst recht Anlass, sich
zu vergewissern, ob der Berner Zug ihr noch genügend Zeit zum Traversieren
lasse. Sie durfte sich nicht darauf verlassen, dass sie keine «Fertig»-Rufe
des Personals und kein Abfahrtssignal gehört habe. Die ersteren Zurufe sind
nicht für das Publikum, sondern für den Abfertigungsbeamten bestimmt; dass
nicht mehr gepfiffen wird und das Signal mit dem Befehlstab ihr entgehen
konnte, wenn sie nicht beständig dessen Träger im Auge behielt, musste sie
wissen.
Von dem Moment an, da die Klägerin einmal den Berner Zug erstiegen hatte, wird
ihre Hast und Kopflosigkeit teilweise erklärt und entschuldigt durch die
Notwendigkeit, unter allen Umständen wieder den Boden zu gewinnen, um nicht
Richtung Bern mitgenommen zu werden. Eine gänzliche Verneinung eines
Selbstverschuldens in dieser Phase des Unfallablaufs kommt jedoch nicht in
Frage, auch nicht unter Berücksichtigung der klägerischen Behauptung, wonach
sie einer optischen Täuschung zum Opfer gefallen sei, indem sie vom sich
bewegenden Berner Zug abgestiegen sei in der Meinung, nicht dieser, sondern
der Oltener Zug fahre ab. Ob die Klägerin unter der Wirkung einer derartigen
optischen Täuschung handelte, ist eine Tatfrage. Während das Zivilgericht die
Annahme einer solchen ablehnte, bejaht sie die Vorinstanz, indem sie die
dahingehende Behauptung der Klägerin als glaubhaft bezeichnet. In
tatsächlicher Beziehung liegt mithin eine für das Bundesgericht verbindliche
Feststellung vor. Eine optische Täuschung kann gewiss geeignet sein, ein
objektiv fehlerhaftes Verhalten subjektiv zu entschuldigen, wie in der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung anerkannt ist (BGE 65 I 200). Indessen kann
die optische Täuschung nur dann schuldbefreiend wirken, wenn das Auftreten der
optischen Täuschung selber bei der Aufmerksamkeit, zu der die Person unter

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den gegebenen Umständen verpflichtet war, entschuldbar ist. Vorliegend
handelte es sich für die Klägerin um das Absteigen von einem Zuge, von dem sie
zum mindesten wusste, dass er abfahrtsbereit war. Dass das Absteigen vom
fahrenden Zuge die gewöhnlichste Unfallursache und verboten ist, bezw. auf
eigene Gefahr hin unternommen wird, gehört zum elementarsten Wissen jedes
Eisenbahnbenützers. Das Absteigen erfordert daher die höchste Aufmerksamkeit
und Sorgfalt. Man darf nicht absteigen lediglich auf den allgemeinen vagen
Eindruck hin, der Zug bewege sich nicht; man muss sich vergewissern und
positiv festgestellt haben, dass der Zug stillsteht. Wenn die Klägerin
tatsächlich, wie die Vorinstanz annimmt, der optischen Täuschung über die
Bewegung der Züge unterlag, so ist das schlechterdings nur damit zu erklären,
dass sie sich eben mit einem Blick auf den andern Zug dicht vor ihr begnügte,
statt vor sich auf den Boden zu blicken. So schlecht ist die Sicht auch bei
Dunkelheit, Regen und Gedränge zwischen zwei beleuchteten Zügen nicht, dass
der suchende Blick nicht ein Stück festen Bodens oder einen andern mit ihm
fest verbundenen Gegenstand zu erfassen vermöchte. Die Umstände, welche dies
im vorliegenden Falle erschwerten, steigerten eben gleichzeitig auch das Mass
der Aufmerksamkeit, zu der die Klägerin verpflichtet war. Sie durfte den Fuss
nicht auf den Boden setzen, ohne diesen Boden unter ihr stillstehen zu sehen.
- Dass sie überdies rechtwinklig zum Wagen oder sogar gegen die Fahrtrichtung
abstieg, fallt neben diesem Hauptfehler nicht mehr als selbständiges
Verschuldensmoment in Betracht; denn wenn sie in der Meinung abstieg, der Zug
stehe still, hatte sie keinen Grund, in einer bestimmten Richtung abzusteigen.
Wägt man die erwähnten Elemente: das Selbstverschulden der Klägerin
einerseits, das leichtere Verschulden der Bahnorgane zuzüglich der erhöhten
Betriebsgefahr und einer kraft der Kausalhaftung auf die Beklagten
entfallenden Verursachungsquote anderseits

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gegeneinander ab, so erscheint eine hälftige Teilung des Schadens im Sinne des
erstinstanzlichen Urteils billig.
3.- Bei der Beurteilung des Schadenersatzanspruches haben die Vorinstanzen
gemäss der Klage unterschieden zwischen den Heilungskosten, den Auslagen der
Familienangehörigen, der Erwerbseinbusse und der Genugtuung.
a) die Höhe der Heilungskosten - Fr. 4730.45 - ist von den Beklagten nicht
bestritten worden, ebensowenig die Höhe der den Angehörigen der Klägerin durch
den Unfall erwachsenen Auslagen für Reisen usw. (Fr. 500.-) noch das Recht der
Klägerin, diesen Schaden trotz Fehlens einer formellen Abtretung gegen die
Beklagten geltend zu machen. Unter diesen Titeln ist der Klägerin daher die
Hälfte der beiden Posten = Fr. 2615.25 zuzusprechen (und nicht Fr. 2815.25,
wie das Zivilgericht im Dispositiv irrtümlich addiert).
b) Der Zuerkennung einer Genugtuungssumme an die Klägerin kann trotz etwas
strengerer Beurteilung ihres Selbstverschuldens zugestimmt werden mit
Rücksicht darauf, dass der Verlust beider Beine die Verunfallte sowohl als
Tanzpädagogin wie als Ehefrau ausserordentlich schwer getroffen hat; die Summe
von Fr. 3000.- erscheint, gemessen an der gutzumachenden Unbill, nicht
übersetzt.
c) Was die Entschädigung für Erwerbseinbusse, erhöhte Dienstbotenkosten,
diverse Inkonvenienzen zufolge der körperlichen Behinderung sowie für
Prothesenersatz anbelangt, hatte das Zivilgericht eine Summe von Fr. 400.-
(bezw. richtig addiert 405.-) monatlich als erwiesen angenommen. Die Beklagten
bestritten hievon nur den Posten von Fr. 300.- für Erwerbseinbusse einer
Tanzlehrerin. Das Appellationsgericht stimmte, obgleich ein eingeholtes
Gutachten höhere durchschnittliche Einkommen ergab, der Ziffer von Fr. 300.-
zu mit Rücksicht auf eine Abnahme der Verdienstmöglichkeit mit zunehmendem
Alter. Es handelt sich hiebei im wesentlichen um Tat- bezw. Ermessensfragen,
die das Bundesgericht

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nicht überprüfen kann. Und die einzige Rechtsfrage, die in diesem Zusammenhang
sich stellt, ob grundsätzlich die Erwerbsfähigkeit in abstracto für die
Schadensberechnung massgebend ist, obwohl die Klägerin bei den sehr guten
Einkommensverhältnissen ihres Ehemannes sie tatsächlich nicht ausnützte, ist
zu bejahen. Es bleibt mithin auch hinsichtlich der Rente bei der Ziffer des
Zivilgerichts.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird teilweise gutgeheissen, das angefochtene Urteil aufgehoben
und die Beklagte zur Zahlung von Fr. 5615.25 nebst zu 5 % seit 17. März 1942
und einer monatlich vorauszahlbaren Rente von Fr. 200.- seit 26. Mai 1940 an
die Klägerin verurteilt. Die Mehrforderung wird abgewiesen.