S. 215 / Nr. 35 Familienrecht (d)

BGE 69 II 215

35. Urteil der II. Zivilabteilung vom 25. Juni 1943 i. S. Frei gegen Frei.

Regeste:
Anfechtung der Ehelichkeit eines Kindes bei Zeugung vor der Ehe, Art. 255 Abs.
2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 255 - 1 Ist ein Kind während der Ehe geboren, so gilt der Ehemann als Vater.
1    Ist ein Kind während der Ehe geboren, so gilt der Ehemann als Vater.
2    Stirbt der Ehemann, so gilt er als Vater, wenn das Kind innert 300 Tagen nach seinem Tod geboren wird oder bei späterer Geburt nachgewiesenermassen vor dem Tod des Ehemannes gezeugt worden ist.
3    Wird der Ehemann für verschollen erklärt, so gilt er als Vater, wenn das Kind vor Ablauf von 300 Tagen seit dem Zeitpunkt der Todesgefahr oder der letzten Nachricht geboren worden ist.
ZGB.
«Um die Zeit der Empfängnis»: die normale Empfängniszeit, die dem Grad der
Reife des Kindes bei der Geburt entspricht. Änderung der Rechtsprechung.
Désaveu d'un enfant conçu avant le mariage, art. 255 al. 2 CC.
«L'époque de la conception»: c'est l'époque normale qui correspond au
développement de l'enfant à sa naissance. Changement de jurisprudence.
Contestazione della paternità d'un infante concepito prima del matrimonio,
art. 255 cp. 2 CC.
«Al tempo del concepimento»: è il tempo normale che corrisponde allo sviluppo
dell'infante alla sua nascita. (Cambiamento della giurisprudenza).

A. - Wilhelm Frei erfuhr im September 1940 von seiner nachmaligen Ehefrau
Margrit geb. Küng, die er

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im Jahre 1937 kennengelernt hatte, dass sie sich von ihm schwanger fühle. Am
30. Dezember 1940 fand die Trauung statt. Am 3. Februar 1941 gebar Frau Frei
im Basler Frauenspital einen Knaben Willy.
B. - Mit Klage vom 3. Mai 1941 focht der Ehemann die Ehelichkeit dieses Kindes
an, weil er der Mutter im Jahre 1940 erstmals am 14. Juni beigewohnt habe,
also nur 234 Tage vor der Geburt des Kindes, das aber völlig ausgetragen zur
Welt gekommen sei und deshalb nicht von ihm stammen könne; die Beklagte habe
durch unwahre Angaben über den voraussichtlichen Zeitpunkt der Geburt die
Trauung erschlichen.
C. - Das Zivilgericht des Kantons Basel-Stadt hiess die Klage gut, da eine
Beiwohnung um die Empfängniszeit im Sinne von Art. 255 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 255 - 1 Ist ein Kind während der Ehe geboren, so gilt der Ehemann als Vater.
1    Ist ein Kind während der Ehe geboren, so gilt der Ehemann als Vater.
2    Stirbt der Ehemann, so gilt er als Vater, wenn das Kind innert 300 Tagen nach seinem Tod geboren wird oder bei späterer Geburt nachgewiesenermassen vor dem Tod des Ehemannes gezeugt worden ist.
3    Wird der Ehemann für verschollen erklärt, so gilt er als Vater, wenn das Kind vor Ablauf von 300 Tagen seit dem Zeitpunkt der Todesgefahr oder der letzten Nachricht geboren worden ist.
ZGB nicht
glaubhaft gemacht sei.
Das Appellationsgericht teilte zwar diese Auffassung nicht, gelangte aber doch
zur Bestätigung des erstinstanzlichen Entscheides, indem es aus dem Reifegrad
des Kindes bei der Geburt und den übereinstimmenden Ergebnissen der
Untersuchung des Blutes der Parteien nach dem M-N-System durch zwei
voneinander unabhängige Institute auf Unmöglichkeit der Vaterschaft des
Klägers schloss.
D. - Mit der vorliegenden Berufung halten die Beklagten am Antrag auf
Klagabweisung fest.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Da das beklagte Kind vor dem 180. Tage nach Abschluss der Ehe geboren wurde,
braucht der Kläger nach Art. 255 Abs. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 255 - 1 Ist ein Kind während der Ehe geboren, so gilt der Ehemann als Vater.
1    Ist ein Kind während der Ehe geboren, so gilt der Ehemann als Vater.
2    Stirbt der Ehemann, so gilt er als Vater, wenn das Kind innert 300 Tagen nach seinem Tod geboren wird oder bei späterer Geburt nachgewiesenermassen vor dem Tod des Ehemannes gezeugt worden ist.
3    Wird der Ehemann für verschollen erklärt, so gilt er als Vater, wenn das Kind vor Ablauf von 300 Tagen seit dem Zeitpunkt der Todesgefahr oder der letzten Nachricht geboren worden ist.
ZGB seine Anfechtung nicht weiter zu
begründen. Gemäss Abs. 2 besteht jedoch die Vermutung der Ehelichkeit des
Kindes auch in diesem Falle, wenn die Beklagten glaubhaft machen, dass der
Kläger um die Zeit der Empfängnis der Mutter beigewohnt habe. Das
Bundesgericht hat in BGE 61 II 22 ff. die Wendung «um die Zeit der Empfängnis»
in Art. 255 Abs. 2 in

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gedanklicher Verbindung mit Art. 314 gleichgesetzt mit: in der Zeit vom 300.
bis zum 180. Tage vor der Geburt des Kindes. Eine erneute Prüfung der Frage
lässt es angezeigt erscheinen, die Worte «um die Zeit der Empfängnis» in Abs.
2 des Art. 255 der Wendung «zur Zeit der Empfängnis» in Abs. 1 des gleichen
Artikels gleichzusetzen; denn eben für den Fall, dass die Ehegatten zu dieser
Zeit durch gerichtliches Urteil getrennt waren, wie für den in Abs. 1
weiterhin genannten Fall der Zeugung vor der Ehe, sollen nach Abs. 2 die
Beklagten die Vermutung der Ehelichkeit des Kindes dadurch wiederherstellen
können, dass sie glaubhaft machen, der Kläger habe der Mutter um die nämliche
Zeit beigewohnt. Diese Auslegung findet ihre Grundlage besonders im
französischen Text, der den Gedanken mit «au moment de la conception»
wiedergibt, während er in Abs. 2, allerdings ebenso unklar wie die deutsche
Fassung, «à l'époque de la conception» sagt. Diese französischen Wendungen
bedeuten aber wie die entsprechenden deutschen ein und dasselbe, was der
italienische Text klarstellt, indem er in beiden Absätzen «al tempo del
concepimento» enthält. Freilich versteht die Rechtsprechung (BGE 40 II 6, 40
II 168
; 66 II 69) unter den gleichen Worten «um die Zeit der Empfängnis» in
Art. 315
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 315 - 1 Die Kindesschutzmassnahmen werden von der Kindesschutzbehörde am Wohnsitz des Kindes angeordnet.438
1    Die Kindesschutzmassnahmen werden von der Kindesschutzbehörde am Wohnsitz des Kindes angeordnet.438
2    Lebt das Kind bei Pflegeeltern oder sonst ausserhalb der häuslichen Gemeinschaft der Eltern oder liegt Gefahr im Verzug, so sind auch die Behörden am Ort zuständig, wo sich das Kind aufhält.
3    Trifft die Behörde am Aufenthaltsort eine Kindesschutzmassnahme, so benachrichtigt sie die Wohnsitzbehörde.
ZGB eine Zeitspanne, die über die kritische Zeit des Art. 314 unter
Umständen noch hinausgehen kann; allein die Wendung wird in Art. 315 in ganz
anderm Zusammenhang als in Art. 255 gebraucht, und übrigens besteht die
Übereinstimmung im italienischen Text nicht, indem er in Art. 255 «al tempo»,
in Art. 315 dagegen «all'epoca del concepimento» sagt.
Die Entstehungsgeschichte des Art. 255 bestätigt diese neue Auslegung. Denn an
Stelle des nunmehrigen Anfangs: «Ist ein Kind vor dem 180. Tage nach Abschluss
der Ehe geboren, ...» stand in Art. 280 des Vorentwurfes von 1900 die Wendung:
«Kann das Kind nach dem Grade seiner Reife bei der Geburt nicht während der
Ehe empfangen sein, ...», während Art. 265 des

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bundesrätlichen Entwurfes von 1904 begann: «Kann ein früher (scil. als 180
Tage nach Eheabschluss) geborenes Kind nach dem Grade seiner Reife nicht
während der Ehe empfangen sein, ...». Dass der Reifegrad in Art. 255 des
Gesetzes nicht mehr ausdrücklich erwähnt wird, ist auf eine bloss
redaktionelle Andeutung zurückzuführen, welche diese Bestimmung besser mit dem
vorhergehenden Artikel, der schon in den Entwürfen die feste Grenze des 180.
Tages nach Eheabschluss enthalten hatte, verbinden sollte, während das Moment
des Reifegrades in das Beweisverfahren verwiesen wurde (Prot. der
Expertenkommission 1901/02, S. 263 f.; Erläuterungen, S. 263, Anm. 3, S. 254,
Anm. 3 und 4). Daraus geht hervor, dass der Reifegrad bei der Geburt zur
Abgrenzung der Zeit der Zeugung im Sinne von Art. 255 Abs. 1 heranzuziehen ist
und damit auch die Tragweite der Wendung «um die Zeit der Empfängnis» in Abs.
2 näher bestimmt.
BGE 61 II 22 f. hält dieser einschränkenden Interpretation entgegen, dass sie
die Stellung des Kindes ohne zureichenden Grund erschwere. Allein die
Erleichterung der Anfechtung bei Zeugung vor der Ehe oder während der
gerichtlichen Trennung derselben ist vom Gesetze selbst gewollt. Das System
der Anfechtung der Ehelichkeit ist ohnehin dem Ehemann nicht günstig. So fällt
denn auch jene Erleichterung schon durch blosse Glaubhaftmachung des Verkehrs
zwischen Kläger und Mutter um die Zeit der Empfängnis dahin. Wie im erwähnten
Entscheid selbst ausgeführt ist, kann nämlich der Ehemann die durch solche
Glaubhaftmachung wiederhergestellte Vermutung der Ehelichkeit wiederum, wie
nach Art. 254, nur durch den Nachweis entkräften, dass er unmöglich der Vater
des Kindes sein könne. In BGE 61 II 23 wird ferner eine restriktive Auslegung
auch deshalb abgelehnt, weil sonst unter Umständen doch noch die
Voraussetzungen für eine Vaterschaftsklage gegeben sein könnten, indem die
Glaubhaftmachung im Sinne von Art. 255 Abs. 2 misslingen könne, ohne dass
geradezu Tatsachen

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vorlägen, welche erhebliche Zweifel über die Vaterschaft des nunmehrigen
Ehemannes rechtfertigten. Doch einmal verlangt Art. 314 von Mutter und Kind,
dass sie den Verkehr während der kritischen Zeit nachweisen, d. h. wenn auch
nicht die Gewissheit, so doch die hohe Wahrscheinlichkeit dieses Umstandes
dartun, was mehr ist als blosse Glaubhaftmachung (BGE 43 II 564; 44 II 236; 61
II 24
). Und zum andern ist die Möglichkeit, dass eine Vaterschaftsklage
durchdringen könnte, besonders im Hinblick auf die neuere Rechtsprechung über
den Reifegrad des ausserehelichen Kindes (BGE 68 II 340) doch wohl eher
entfernt und kann schon deshalb nicht eine Auslegung rechtfertigen, die sich
mit Wortlaut und Sinn des Art. 255 nicht vereinen lässt.
Im vorliegenden Falle kommt nach der Feststellung der Vorinstanz für das Jahr
1940 als frühester Geschlechtsverkehr zwischen den nachmaligen Ehegatten der
vom Kläger zugestandene vom 14. Juni in Frage. Zu Unrecht bezeichnen die
Berufungskläger diese tatsächliche Feststellung als aktenwidrig, beruht sie
doch darauf, dass die Vorinstanz die gegenteiligen Aussagen der Mutter, schon
im April oder Mai mit dem Kläger verkehrt zu haben, nicht als glaubwürdig
erachtet hat, woran das Bundesgericht gebunden ist. Eine Beiwohnung am 14.
Juni würde einer Schwangerschaftsdauer von 234 Tagen entsprechen. Nach der
massgebenden Feststellung der Vorinstanz lassen aber die Reifemerkmale, die
der Knabe bei der Geburt aufwies, auf eine durchschnittliche Tragzeit von 274
Tagen schliessen. Daraus ergibt sich, dass die Zeit um den 14. Juni 1940 als
normale Empfängniszeit im Sinne des Art. 255 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 255 - 1 Ist ein Kind während der Ehe geboren, so gilt der Ehemann als Vater.
1    Ist ein Kind während der Ehe geboren, so gilt der Ehemann als Vater.
2    Stirbt der Ehemann, so gilt er als Vater, wenn das Kind innert 300 Tagen nach seinem Tod geboren wird oder bei späterer Geburt nachgewiesenermassen vor dem Tod des Ehemannes gezeugt worden ist.
3    Wird der Ehemann für verschollen erklärt, so gilt er als Vater, wenn das Kind vor Ablauf von 300 Tagen seit dem Zeitpunkt der Todesgefahr oder der letzten Nachricht geboren worden ist.
ZGB ausser Betracht fällt.
Muss deshalb die Klage schon mangels Glaubhaftmachung einer Beiwohnung um die
Empfängniszeit gutgeheissen werden, so kann offen bleiben, ob der Kläger den
Nachweis erbracht habe, dass er unmöglich der Vater des Kindes sein könne.

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Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Appellationsgerichtes des
Kantons Basel-Stadt vom 29. Januar 1943 bestätigt.
Vgl. auch Nr. 38. - Voir aussi No 38.