S. 110 / Nr. 23 Strafgesetzbuch (d)

BGE 68 IV 110

23. Urteil des Kassationshofes vom 30. Oktober 1942 i.S. Lienert gegen Schwyz
Staatsanwaltschaft.

Regeste:
Art. 335
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 335 - 1 Den Kantonen bleibt die Gesetzgebung über das Übertretungsstrafrecht insoweit vorbehalten, als es nicht Gegenstand der Bundesgesetzgebung ist.
1    Den Kantonen bleibt die Gesetzgebung über das Übertretungsstrafrecht insoweit vorbehalten, als es nicht Gegenstand der Bundesgesetzgebung ist.
2    Die Kantone sind befugt, die Widerhandlungen gegen das kantonale Verwaltungs- und Prozessrecht mit Sanktionen zu bedrohen.
Ziff. l Abs. l StGB: Die Kantone sind nicht befugt die einfache
Unzucht mit Strafe zu bedrohen; § 11 der schwyzerischen Verordnung über das
Verfahren im Vaterschaftsprozess ist bundesrechtswidrig.
Art. 335, ch. 1, al. l CP: Les cantons n'ont pas le droit de frapper d'une
peine la simple débauche; le § 11 de l'ordonnance schwyzoise sur la procédure
en matière de recherche de paternité est contraire au droit fédéral.
Art. 335, cifra 1, cp. 1 CPS: I cantoni non hanno la facoltà di colpire con
una pena gli atti di semplice libidine; il § 11 dell'ordinanza svittese sulla
procedura nelle cause di paternità e contrario al diritto federale.

A - Auf Grund ihres Geständnisses steht fest, dass Fräulein O. und der
Beschwerdeführer, im November oder Dezember 1941, geschlechtlich miteinander
verkehrt haben. Deswegen wurden sie durch Urteil des Bezirksgerichtes
Einsiedeln vom 24. März 1942 gestützt auf § 11 der

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Verordnung über das Verfahren in Vaterschaftssachen und § 1 EG zum StGB der
einfachen Unzucht schuldig erklärt und mit je 20 Fr. gebüsst. Die Berufung des
Beschwerdeführers gegen dieses Urteil hat das Kantonsgericht Schwyz mit Urteil
vom 28. Mai 1942 abgewiesen. Dem Einwand des Angeklagten, dass das StGB die
einfache Unzucht nicht mehr unter Strafe stelle, infolgedessen als das mildere
im Sinne von Art. 2 Abs. 2
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 2 - 1 Nach diesem Gesetze wird beurteilt, wer nach dessen Inkrafttreten ein Verbrechen oder Vergehen begeht.
1    Nach diesem Gesetze wird beurteilt, wer nach dessen Inkrafttreten ein Verbrechen oder Vergehen begeht.
2    Hat der Täter ein Verbrechen oder Vergehen vor Inkrafttreten dieses Gesetzes begangen, erfolgt die Beurteilung aber erst nachher, so ist dieses Gesetz anzuwenden, wenn es für ihn das mildere ist.
StGB anwendbar sei, hält das Urteil entgegen, dass
gemäss Art. 335 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 335 - 1 Den Kantonen bleibt die Gesetzgebung über das Übertretungsstrafrecht insoweit vorbehalten, als es nicht Gegenstand der Bundesgesetzgebung ist.
1    Den Kantonen bleibt die Gesetzgebung über das Übertretungsstrafrecht insoweit vorbehalten, als es nicht Gegenstand der Bundesgesetzgebung ist.
2    Die Kantone sind befugt, die Widerhandlungen gegen das kantonale Verwaltungs- und Prozessrecht mit Sanktionen zu bedrohen.
StGB den Kantonen die Gesetzgebung über das
Übertretungsstrafrecht insoweit vorbehalten sei, als es nicht Gegenstand der
Bundesgesetzgebung bilde. Nach dieser klaren und eindeutigen Bestimmung seien
die Kantone befugt, alle diejenigen Tatbestände, welche nicht Gegenstand der
Bundesgesetzgebung sind, als Übertretungen zu qualifizieren und unter Strafe
zu stellen. Die einfache Unzucht sei nicht Gegenstand der Bundesgesetzgebung,
denn sie sei im Bundesrecht gar nicht erwähnt. Die Regelung der Übertretungen
gegen die Sittlichkeit im StGB sei nicht erschöpfend.
B. - Gegen dieses Urteil hat der Beschwerdeführer rechtzeitig
Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des Bundesgerichts erklärt, in der
er geltend macht, dass der Tatbestand der einfachen Unzucht Gegenstand der
Bundesgesetzgebung sei, und zwar in dem Sinne, dass er straffrei bleibe. Diese
Meinung des Gesetzgebers ergebe sich auch zweifelsfrei aus den Materialien.
Die Staatsanwaltschaft beantragt Abweisung der Beschwerde.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Im Urteil vom 15. Mai 1942 i.S. Marie X hat der Kassationshof ausgesprochen,
dass die Kantone nicht schon dann befugt sind, einen bestimmten Tatbestand als
Übertretung zu erklären, wenn er nicht vom eidgenössischen Recht unter Strafe
gestellt ist. Die Nichtaufnahme eines Tatbestandes kann bedeuten, dass er
überhaupt straflos bleiben muss, also auch nicht als kantonale Übertretung

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geahndet werden darf. Ob ein solches qualifiziertes Schweigen vorliegt, hängt
im einzelnen Falle davon ab, was vernünftigerweise als Wille des Gesetzgebers
angesehen werden muss. Dabei ist von Bedeutung, ob der Bundesgesetzgeber ein
bestimmtes strafrechtliches Gebiet überhaupt nicht behandelt, ob er bloss
einige wenige Tatbestände daraus unter Strafe gestellt, oder ob er die Materie
durch ein geschlossenes System von Normen geregelt hat. In den beiden ersten
Fällen bleibt Raum für kantonale Übertretungen, nicht dagegen im letzten, es
sei denn, dass der Gesetzgeber ausnahmsweise im geschlossenen System
eidgenössischer Strafnormen absichtlich Lücken gelassen habe, um den von
Kanton zu Kanton wechselnden Ansichten über die Strafwürdigkeit eines
bestimmten Tatbestandes Rechnung zu tragen. Der Kassationshof hat hinsichtlich
der gewerbsmässigen Unzucht solche Lücke im Titel des StGB über die strafbaren
Handlungen gegen die Sittlichkeit verneint und die Zuständigkeit der Kantone,
sie als Übertretung unter Strafe zu stellen, ausgeschlossen (BGE 68 IV 40).
Das hat natürlich a fortiori von der einfachen Unzucht zu gelten; es ist nicht
denkbar, dass der eidgenössische Gesetzgeber zwar die gewerbsmässige Unzucht
straffrei lassen, dagegen die Bestrafung der einfachen Unzucht den Kantonen
vorbehalten wollte.
Entfällt aber die Strafbarkeit der einfachen Unzucht nach dem neuen Recht,
dann hat dieses als das mildere gemäss Art. 2 Abs. 2
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 2 - 1 Nach diesem Gesetze wird beurteilt, wer nach dessen Inkrafttreten ein Verbrechen oder Vergehen begeht.
1    Nach diesem Gesetze wird beurteilt, wer nach dessen Inkrafttreten ein Verbrechen oder Vergehen begeht.
2    Hat der Täter ein Verbrechen oder Vergehen vor Inkrafttreten dieses Gesetzes begangen, erfolgt die Beurteilung aber erst nachher, so ist dieses Gesetz anzuwenden, wenn es für ihn das mildere ist.
StGB auf die Beurteilung
der vor seinem Inkrafttreten begangenen Unzucht zurückzuwirken.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Kantonsgerichts
Schwyz vom 28. Mai 1942 aufgehoben und die Sache zur Freisprechung an die
Vorinstanz zurückgewiesen.
Vgl. auch Nr. 25. - Voir aussi no 25.