S. 1 / Nr. 1 Familienrecht (d)

BGE 68 II 1

1. Urteil der II. Zivilabteilung vom 26. Januar 1942 i. S. Liechti gegen
Liechti.


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Regeste:
Art. 142 ZGB: Fehler wie Trunksucht bilden für den andern Eheteil nur dann
einen Scheidungsgrund, wenn dieser sein Möglichstes getan hat, den Fehlbaren
wieder auf den rechten Weg zu bringen.
Art. 146 Abs. 3 ZGB: Darin, dass der sonst gutartige Trinker eine Anstaltskur
mit guter Heilungsaussicht durchmacht, kann eine Aussicht auf
Wiedervereinigung erblickt, daher der Klägerin Abwarten des Kurergebnisses
zugemutet und statt auf Scheidung auf Trennung erkannt werden.
Art. 142 CC: Les défauts de l'un des conjoints, tel que l'ivrognerie ne
donnent à l'autre conjoint un motif de divorce que s'il à fait tout son
possible pour ramener le premier dans le droit chemin.
Art. 146 al. 3 CC: Le fait qu'un buveur, au demeurant de bonne composition, se
soumet à un traitement qui offre des chances sérieuses de guérison, permet de
considérer la réconciliation comme probable; en ce cas, le juge peut prononcer
la séparation de corps au lieu du divorce, en attendant le résultat dudit
traitement.
Art. 142 CC: I difetti dell'un coniuge, come l'ubriachezza, dànno un motivo di
divorzio all'altro coniuge soltanto se questi ha fatto tutto il possibile per
ricondurre quello sulla retta via.
Art. 146 cp. 3 CC: Il fatto che un bevitore, nel rimanente di animo non
cattivo, si sottopone ad una cura che offre serie probabilità di guarigione,
permette di ritenere come probabile la riconciliazione; in questo caso, il
giudice può pronunciare la separazione invece del divorzio, in attesa del
risultato della suddetta cura.

Die Parteien gingen am 3. Januar 1914 die Ehe ein, aus der 1914 und 1919 ein
Sohn und eine Tochter hervorgingen. Während der ersten Zeit von etwa 10 Jahren
verlief die Ehe gut. Der Mann verdiente den Unterhalt als Landarbeiter,
Holzfäller, Hirte und aus andern Betätigungen an verschiedenen Orten. Im Jahre
1925 begann er in seiner damaligen Stellung als Hirte auf dem «mittleren
Brüggli» ob Selzach auf den Rat Dritter mit dem

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Ausschank geistiger Getränke und kam dabei selber je länger je mehr ins
Trinken hinein. Im Jahre 1927 ging er wiederholt, im ganzen während 8 Monaten,
zur Abstinenz, wurde jedoch rückfällig und schliesslich ein Schnapstrinker,
der die Sorge für den Haushalt der Frau überliess, sie gelegentlich schlug und
ihr vor Weihnachten 1940 Lebensmittel- und Haushaltsvorräte verkaufte und in
Alkohol umsetzte. Am 6. Januar 1941 wurde er auf Anordnung und Kosten der
Direktion des Armenwesens des Kantons Bern in die Trinkerheilstätte
«Nüchtern», in Kirchlindach zu einer einjährigen Kur versorgt.
Am 2. Mai 1941 reichte Frau Liechti die Ehescheidungsklage gestützt auf Art.
142 ZGB ein. Der Beklagte widersetzte sich der Scheidung und beantragte blosse
Trennung. In Aufhebung des Urteils des Amtsgerichts von Solothurn-Lebern, das
die Scheidung aussprach, hat das Obergericht des Kantons Solothurn in
Anwendung von Art. 146 Abs. 3 ZGB nur auf Trennung für die Dauer eines Jahres
erkannt.
Mit vorliegender Berufung hält die Klägerin an ihrem Scheidungsbegehren fest.
In ihrem Armenrechtsgesuche bestreitet sie das Vorhandensein irgendwelcher
Aussicht auf Wiedervereinigung der Parteien; sie werde unter keinen Umständen
die eheliche Gemeinschaft mit dem Beklagten wieder aufnehmen. Sie habe
übrigens die Möglichkeit, sich mit einem ehrenhaften Manne wieder zu
verheiraten. Bei dieser Sachlage sei unerheblich, wie die Heilungsaussichten
in der Heilstätte beurteilt werden.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. ­ In Anwendung von Art. 2 Ziff. 2 des Bundesbeschlusses betr. vorläufige
Änderungen in der Bundesrechtspflege (vom 11. Dezember 1941) durfte von der
Einholung einer schriftlichen Berufungsbegründung abgesehen werden mit
Rücksicht darauf, dass das Armenrecht ohnehin nur für die Gerichtskosten
bewilligt werden kann, dass die Berufungsklägerin in ihrem Armenrechtsgesuch
eine summarische Begründung der Berufung anbrachte,

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und dass es sich um einfache, auf Grund der vorliegenden Akten hinreichend
abgeklärte Verhältnisse handelt.
2. ­ Gemäss Art. 146 Abs. 3 ZGB ist anstelle verlangter Scheidung auf Trennung
zu erkennen, «wenn Aussicht auf Wiedervereinigung der Ehegatten vorhanden
ist». Den Erwägungen, mit denen die Vorinstanz diese Aussicht bezüglich der
Parteien bejaht, ist beizupflichten. Aus ihren Feststellungen geht hervor,
dass der Beklagte kein schlechter Mensch ist. Abgesehen von seinem Laster der
Trunksucht hat er sich in Charakter und Gesinnung als nicht bösartig gezeigt.
Dass er seine Frau einige Male schlug, würde allerdings diese Beurteilung in
Frage stellen; die Vorinstanz nimmt aber an, dass es hauptsächlich unter dem
momentanen Einfluss des Alkohols geschah. Die Frau hat denn auch in ihrer
Klage auf die Tätlichkeiten nicht Gewicht gelegt. Jahrelang hielt sich der
Beklagte als Familienvater klaglos. Dem Laster verfiel er erst, als
Drittpersonen ihn zum Alkoholausschank auf dem «Brüggli» veranlassten. Zu
diesem äusseren Anlass kam eine Disposition zufolge erblicher Belastung, für
die er nicht verantwortlich gemacht werden kann. Gestützt auf einen Bericht
der Direktion der Trinkerheilstätte nimmt die Vorinstanz an, dass begründete
Aussicht auf definitive Heilung bestehe. Der Beklagte hält sich in der Anstalt
musterhaft, hat sein Unrecht eingesehen und zeigt den besten Willen, seinem
Laster nicht mehr zu verfallen. Dass er an seiner Frau hängt, hat er im
Prozesse nicht nur erklärt, sondern auch dadurch gezeigt, dass er nicht den
geringsten Vorwurf gegen sie erhoben, sondern die Schuld ganz auf sich
genommen hat. Da die Parteien schon 28 Jahre verheiratet sind und die Klägerin
einzig der Trunksucht wegen die Scheidung verlangt, besteht bei dieser
Sachlage in der Tat begründete Hoffnung, dass sie sich mit dem Manne wieder
aussöhnt, wenn er sich nun gut hält. Die Annahme, dass die Parteien sich
wieder finden, ist umso gerechtfertigter angesichts des Berichts der
Anstaltsleitung vom 29. August 1941, wonach die

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Klägerin sich nach der Urteilsfällung vor Amtsgericht dem Manne gegenüber
geäussert hat, sie wolle sich die Sache noch einmal überlegen und vielleicht
die Klage zurückziehen. Für den nicht böswilligen Mann wird das Wissen, eine
Familie zu haben und in ein geordnetes Leben zurückkehren zu können, ein
Ansporn sein, sich zu halten. Wird ihm diese Hoffnung genommen, so besteht die
Gefahr, dass er sich wieder gehen lässt und rückfällig wird. Bezüglich
dergleichen persönlicher Mängel und Fehlentwicklungen wie Trunksucht hat das
Bundesgericht wiederholt entschieden, dass sie für den andern Eheteil nur dann
einen Scheidungsgrund bilden, wenn dieser sein Möglichstes getan hat, den
damit behafteten Partner wieder auf den rechten Weg zu bringen (z. B. i. S.
Kühni, 9. Okt. 1941). Nachdem vorliegend der Beklagte nach vieljähriger Ehe
zum ersten Mal eine fachmännisch geleitete Kur durchmacht, darf auch der Frau,
soviel sie schon bis jetzt ertragen haben mag, noch zugemutet werden, diesen
letzten, aussichtsreichen Versuch ihrerseits mit Geduld zu unterstützen und
den Mann nicht zu verlassen, bevor das Scheitern der Kur erwiesen ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des Kantons
Solothurn vom 11. Dezember 1941 bestätigt.